Solo für einen Ort, sieben Autos und viele Regierungschefs
Hinter jedem der Autos, die in ihrer Gesamtheit des Klassikerrennens der Mille Miglia das eigentliche Ziel dieser Reise sind, lugt Italien hervor.
1000 Meilen in drei Tagen sind auch 1000 Gelegenheiten, an denen man nicht angehalten, einen Schlenker gemacht oder etwas besichtigt hat, das man gesehen haben müsste.
Und während die Karawane weiter zieht, vorne dran röhrende Klassiker und hinten dran absurde Promotionteams in hässlichen PS-Monstern, hat die Toskana hinter dem Jaguar XK120 einmal zu oft hinter den Autos hervorgelächelt und geblinzelt.
Jetzt belässt sie es nicht mehr beim dezenten Lächeln. Ach komm, sagt die Toskana in den Kurven Richtung Florenz, und räkelt sich mit ihren Hügeln, du bist noch nicht mal in Rom richtig angekommen, da hast du Siena schon wieder verlassen, der Campo war nur eine Kulisse für Fahrzeuge, und die Ausstellung über die Frührenaissance hast du ignoriert.
Statt Lorenzetti an der Wand liegenbleibendes Blech. Nach Brescia zum Ziel ist es noch weit, durch die Nacht und die Poebene, aber San Giminiano ist von Siena aus schnell zu erreichen. Du kannst natürlich weiterfahren und noch mal 300 Bilder machen, noch mal die gleichen Wägen abzüglich derjenigem, die jetzt noch liegen bleiben, nur zu – sagt die Toskana, und sie lächelt im Sonnenglanz. Und denkt sich: Du Depp. Sie hat ja recht. Kommt gut an, Ihr anderen.
Und eh man sich versieht, kurvt man durch Hügel, erzählt der Copilotin, dass man San Gimignano unbedingt gesehen haben muss, so etwas gibt es kein zweites Mal. Denn im sehr viel weniger berühmten, weil nur in der vorzivilisatorischen und vorböhmischen Oberpfalz liegenden Regensburg haben sich die mittelalterlichen Geschlechtertürme der Patrizierfamilien sehr viel besser erhalten, und deshalb liegt dieses Provinznest in der Toskana deutlich auf Platz zwei der besten Orte, um einen Eindruck vom absurden Willen seiner Bewohner zu bekommen, im Inneren einer Gemeinschaft Befestigungen gegeneinander anzulegen. Und den Folgen, die dergleichen haben kann.
Das Mittelalter ist nämlich theroretisch eine ganz und gar mauernfeindliche Zeit. De iure waren innerstädtische Befestigungen wie in San Gimignano ebenso wenig vorgesehen, wie den Bankrott eines Landes der Eurozone, oder dessen Rettung durch mehr oder weniger maulende Regierungschefs. In den Städten durften laut Gesetz Mauern so hoch sein, dass ein Reiter auf dem Pferd mit ausgestrecktem Arm die Spitze erreichen konnte. Ziel dieser Regelung war es, allen Bewohnern die gleichen Rechte für eine begrenzte Einmauerung ihres Besitzes zu geben. Wer mehr wollte, musste sich spezielle Rechte bei den Mächtigen beschaffen. Betrachtet man San Giminiano mit seinen hohen Türmen, kommt man nicht umhin zu erkennen, dass die Regelungen ähnlich trickreich und dennoch offensichtlich umgangen wurden, wie die Haushaltskriterien der Eurozone. Denn wie in Europa gab es im republikanisch verfassten San Gimignano niemanden, der ein echtes Interesse an der Einhaltung der Regeln gehabt hätte.
Im Gegenteil war es so, dass sich in der Bürgergesellschaft, grob gesagt, zwei Gruppen herausbildeten, die sich aufs Heftigste befehdeten. Typischerweise sind Städte im Mittelalter Italiens von inneren Kämpfen geprägt, bis die eine Partei die andere vertrieben hat, wonach sich aus ihrer Mitte in der Regel ein Diktator aufschwingt und alle anderen unterjocht: Die Scaliger in Verona, die Sforza in Mailand, die Este in Ferrara, die Malatesta in Rimini, und, ja, auch die Medici mit der gelungenen Kultur-PR sind Beispiele für einen einigenden Prozess, an dessen Ende es den Einen gibt, der anschafft, und die anderen, die gehorchen. In San Gimignano jedoch musste man den Druck der äusseren Feinde aushalten, was die Familien bei allen Differenzen vereinte. Man hatte eine starke Mauer um die Stadt gegen die Gegner draussen. Und hohe Türme im Inneren, um sich gegenseitig zu bekriegen. Das Gleichgewicht war fragil, aber es hielt bis in die frühe Neuzeit. Dante ist nur einer der vielen Beamten, die vergeblich versuchten, das Elend innerhalb der Geschlechter beizulegen: In San Gimignano verliess man sich lieber auf noch ein Stockwerk auf den Türmen, hohe Eingänge und hochgezogene Leitern, falls die Nachbarn aufkreuzten und etwas haben wollten, das über Exkremente, Steine und kochendes Wasser hinausging. Und wenn der Nachbar noch ein Stockwerk auf seinen Turm setzt, blieb man selbst auch nicht eine Antwort schuldig.
Solche Ressourcenverschwendungen hält kein System ewig aus. Die Besonderheit an San Gimignano ist nicht, dass es einfach so vor die Hunde ging, sondern dass es in diesem verhärteten Zustand der inneren Uneinigkeit geschlossen vor die Hunde ging. Während in den meisten Städten irgendwann ein aufgestachelter Mob hellenischer Machart kam, um die Türme der gegnerischen Seite zu schleifen und aus dem Stadtbild zu beseitigen, klebte man in diesem Nest weiterhin an seinen Türmen, auch wenn der Ort selbst zunehmend in Hintertreffen geriet. Denn während andere Städte in jener Zeit wuchsen und profitierten, zeigte sich im späten Mittelalter, dass der exportbasierte Reichtum der Stadt – sie lebte vor allem vom Verkauf eines teuren Färbemittels für Tücher – nicht von Dauer war. Man konnte sich innerhalb der Mauern, von Turm zu Turm natürlich weiterhin die Schädel einschlagen, und wenn es nicht mehr mit den modernen, teuren Waffen ging, konnte man auch Steine, Kochtöpfe, Sonntagsreden der Kanzlerin, und was sonst noch schwer und stumpf war, benutzen. Es änderte aber nichts am Umstand, dass dieses reizende, pittoreske Städtchen irrelevant wurde, weil die Einigkeit seiner Bewohner nur auf dem Pergament der Bürgerurkunden existierte. Ansonsten ging es zu wie beim Konflikt in der EU zwischen jenen Ländern, die noch etwas haben, und jenen anderen, die jetzt oder bald etwas brauchen. Die Idee, dass manche Länder freiwillig pleite gehen und dem Rest damit helfen, ist vermutlich ebenso realistisch wie die Erwartung in San Gimignano, ein verarmtes Geschlecht würde seinen maroden Turm abreissen und die alten Fehden beiseite legen, denn in den Urkunden des Ortes steht über die Zulässigkeit von Strassenschlachten ebensoviel, wie in den Maastrichtkriterien von Bilanzfälschung und Vertuschung von Defiziten mit Hilfe von Goldman Sachs.
Letztlich lagen einem der eigene Clan, die eigene Klientel und das Wohlergehen der eigenen Gefolgsleute doch immer näher, als die Vorstellung eines Gemeinwesens, das von selbst lief, solange man nur Geld erwirtschaftete und verteilen konnte. Die inneren Uneinigkeiten gingen immer weiter, bis der Ort zu einem drittklassigen Kaff herabgesunken war, der sich am Ende selbst dem Herzogtum Florenz unterstellte, wohin all die Wirtschaftskraft der Region gegangen war. Natürlich war Florenz alles andere als gesellschaftlich überlegen oder gar ein Ort, wo man unterschiedliche Meinungen vertreten konnte; entkleidet man das Medicifürstentum von seiner eigenen Propaganda, bleibt nur eine zynisch durchkalkulierte Oligarchie übrig, deren aus der Republik übernommene Strukturen so demokratisch wie der chinesische Volkskongress sind. Die Märkte jedoch konnten damit mehr anfangen, als mit dem zerstrittenen Örtchen nahe Siena, dessen Produkte man auch andernorts kaufen konnte. In Florenz baute man keine Türme mehr, sondern Kuppeln und Uffizien, Paläste und Parks, Handwerkerviertel und Bankhäuser, Galgen und Waffen für Söldnerheere. San Gimignano blieb ein Monument der eigenen, turmbewehrten Dummheit und der Interessenspolitik seiner Geschlechter und Patrizier.
Aber es ist sehr pittoresk und neben Regensburg einzigartig, und durch die Gassen schlendern Abertausende von Touristen, denken sich Italien! Toskana! Kultur! Türme! Und kaufen ein, Schuhe, Alabasterfrüchte, Kissenbezüge (die sind allerdings wirklich sehr schön, mit Bommeln), es gibt auch noch Ascotkrawatten, die so praktisch sind, wenn man offen durch die Toskana fährt. Sie machen sich einen schönen Tag, es ist Urlaub, die Kreditkarte sitzt so locker in Hand wie ein Brandsatz in Athen, und was morgen ist, ist doch egal, unsere Politiker werden mit ihrem Krisentreffen und ein paar Milliarden mehr das Kind schon schaukeln, in unserem einigen Europa, und mit den Chinesen und Amerikanern werden wir allemal fertig. Wir sind doch nicht von gestern. Oder vom Mittelalter.