Wenn man einen faulen Zahn nicht ausreissen kann, muss man ihn mit Gold füllen.
Benito Mussolini über Gabriele d’Annunzio
Als die Rennwagen der Mille Miglia 1930 durch Bologna kommen, wird ein Mann gegen seinen Willen aus seinem Alfa Romeo 1750 gezerrt. Für fünf Minuten sperrt man ihn in einen Raum, wo er gezwungen wird, etwas zu essen und sich kurz auszuruhen. Der Mann ist nach über 1000 Kilometern im Lärm seines Wagens auf schlechten Strassen am Ende seiner Kräfte, aber er will diese Zwangspause nicht akzeptieren und streitet sich mit seinen Betreuer. Dann schwingt er sich wieder in den Rennwagen und erreicht Brescia mit grossem Vorsprung als Sieger. Es heisst Tazio Nuvolari, und wird als einer der wenigen seiner Rennfahrergeneration später im Bett sterben. Trotzdem wird er für seinen gnadenlosen und jedes Risiko missachtenden Fahrstil an den Steuern kleiner, roter Alfa Romeos schon zu Lebzeiten zu einer Legende. Ein Übermensch, so stellen ihn die Medien des faschistischen Italien dar, einer, der mit einem eingegipsten Bein noch Rennen fährt und weder sich, den Gegner oder den Wagen schont.
Es kann in diesen Tagen nicht ausbleiben, dass ein Mann wie Nuvolari Begehrlichkeiten bei jenen weckt, die selbst einer Ideologie des Übermenschen anhängen, oder gar sich selbst so sehen. 1932 trifft Nuvolari den damals gefeierten Dichter Gabriele d’Annunzio, und der schenkt ihm als Talisman eine goldene Schildkröte: “Das langsamste Tier der Welt für den schnellsten Mann der Welt.” Nuvolari muss d’Annunzio wie eine Erfüllung seines Menschenbildes erschienen sein: Kühn, mutig bis zum Draufgängertum, unfähig einen Kampf auszugeben, und beseelt von einem unbändigen Siegeswillen, selbst wenn Fahrer und Material reif für den Arzt und den Schrottplatz sind. Ein Mann wie ein Condottiere der italienischen Renaissance, ein geborener Führer, ein Vorbild, ein Herrscher aus sich heraus, der die “Virtu” in sich trägt, von der Niccolo Machiavelli so schwärmte, und deren Reste sich als Wappen der italienischen Fürstenhäuser sind an der Aussenwand von d’Annunzios Villa am Gardasee finden.
Nun ist der Gardasee rund um Gardone Riviera eine äusserst pittoreske Gegend und klassische Wohnlage für Sommerfrischen reicher oberitalienischer Grossbürger, ruhig und beschaulich und von jener Grandezza, die eine gewisse Ruhe und Selbstsicherheit mit sich bringt. Nichts davon kann man d’Annunzio nachsagen, der sein Leben als Sohn reicher Bauern begann und schnell in den besseren Kreisen Roms zum Dandy und Schriftsteller aufstieg, und mit seinen Affairen Furrore machte: Mit einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein ausgestattet, fand er bald Zugang zu den Übermensch-Ideen von Nietzsche, und schriftstellerische Erfolge taten ein Übriges, um ihn mit einer gewissen, überheblichen Verachtung für andere auszustatten, und ihn hochmütig wie einen mittelalterlichen Geschlechterturm werden zu lassen. Um seine Duellwunde am Kopf zu zeigen, liess er sich eine Glatze rasieren. Vor seinen Gläubigern floh er sich nach Frankreich, aber das hinderte ihn nicht, Italien mit Aufrufen in den ersten Weltkrieg zu treiben. Die Maschinengläubigkeit des Futurismus war ihm ebenso wenig fremd wie der Hass auf alles Bürgerliche. So einer passt eigentlich nicht ins beschauliche Saló am Gardasee.
Und schon gar nicht, wenn man davor den Faschismus erfunden hat: Nach dem Ende des ersten Weltkriegs, in dem er als Flieger und Kapitän eines Torpedoboots gekämpft hatte, besetzte er 1920 handstreichartig die kroatische Stadt Rijeka – italienisch Fiume – und errichtete dort etwas, das man vielleicht als “Operettenregime” hätte bezeichnen können, wäre es nicht die Blaupause für spätere Aktionen der italienischen Faschisten und deutschen Nationalsozialisten geworden. Die Ansprachen des Söldnerführers mögen wie sein Anspruch auf die Herrschaft lächerlich gewesen sein. Die Vorstellung, dass dieser neue Staat von einer Gruppe von Übermenschen geführt werden sollte, erwies sich als undurchführbar, als d’Annunzio mit seiner Privatarmee aus der Stadt gebombt wurde. Aber die Zutaten faschistischer Inszenierung mit einem gleichgeschalteten Staat, formale Abschaffung von Klassen zugunsten eines Volkskörpers, Massenaufmärschen, Ansprachen und Herrenrassen waren gelegt, und die Söldner probierten an ihren ideologischen Gegner schon in Fiume jene Foltermethoden aus, mit denen später Mussolinis Horden ihre Feinde beseitigten.
Die auf den ersten Blick so andersartige und reichlich bürgerliche Anmutung der Villa von d’Annunzio jedoch ist dem Umstand zuzuschreiben, dass seine Träume der Ablosung einer bürgerlichen Gesellschaft vom Übermenschen nicht von ihm umgesetzt wurden, auch wenn er eine Weile hoffte, er könnte Chef einer italienischen Regierung werden und das fortführen, was er in Fiume begonnen hatte. Das Rennen um die Macht im Staate machte Mussolini, der mit einer Mischung aus bürgerfeindlichem Futurismus und Faschismus 1920 noch schlimme Niederlagen einstecken musste, und sich dann doch dem Kapital und Grossbürgertum andiente – man müsse das Schiff der Bürgerlichen entern, um dann die Parasiten über Bord zu werfen, soll der Duce gesagt haben. Diese formale Abkehr vom Elitegedanken und vom jenseits aller sozialen und ethischen Bindung stehenden Übermenschen haben ihm Futuristen wie Marinetti und d’Annunzio nie ganz verziehen, auch wenn sie sich, mit Ehrungen und Vorteilsannahmen ausgestattet, damit arrangierten.
Die Villa Vittoriale selbst ist vielleicht das beste Beispiel für eine antibürgerliche Ideologie, die sich an die macht putscht und dann wieder verspiessert – die Villa gehörte vor 1914 dem deutschen Kunsthistoriker Henry Thode, der vom italienischen Staat enteignet wurde. Der politisch kaltgestellte d’Annunzio baute das Areal zum “Siegesdenkmal der Italiener” um, und erschuf eine groteske Kultstätte weniger für die armen Schweine, die mit seiner Propganda am Isonzo in den Tod gehetzt wurden, sondern für seine eigenen Heldentaten, wie er sie gesehen haben wollte: Im Theater hängt sein Flugzeug von der Decke, vor dem Springbrunnen steht eine Kanone, und mitten im Garten ist der vordere Teil eines Kriegsschiffes eingemauert. Die europäische Kulturgeschichte kennt durchaus Beispiele von Parks, in denen die Plastiken auch streiten um kämpfen, aber bei d’Annunzio daheim ist der Krieg das bestimmende Thema.
Der Gestus der Anlage ist mliltaristisch, die Gestaltung interessiert sich bis heute nicht für kritische Fragen oder Zweifel, alle Ausstellungsstücke möchten wieder zuschlagen, schiessen, töten und damit die Maschinenträume der Futuristen gegen die verkommene, bürgerliche Welt erfüllen – aber sie stehen in einem Park in Gardone Riviera, und niemand wartet noch darauf, dass d’Annunzio sie noch einmal verlässt und die Macht an sich reisst. Bis 1938 lebt er hier, sucht nach anderen Idealvorstellungen, wie eben Tazio Nuvolari, und wird ein Spiesser, ein Günstling eines Systems, das seinen Extremismus ohne den gehätschelten, alten Schriftsteller in seiner schrägen Traumwelt auslebt, mit einem angeketteten Flugzeug und einem eingemauerten Schiff im Park. Der Blick ist grandios, das Klima ist mild, das Leben ist angenehm, sehr bürgerlich eben. Nur die Übermenschen der tat, das sind nun andere. 1938 stirbt d’Annunzio.
Und erlebt damit weder den 2. Weltkrieg, noch das Ende des Faschismus, und vielleicht auch nicht die unerfreuliche Bekanntschaft mit einem Erschiessungskommando der Partisanen. Er stirbt erheblich zu früh, um gesitiger Spiritus Rektor des späten Faschismus der “Republik von Saló” zu sein, und früh genug, um sein Wirken auf den ersten, aus italiensicher Sicht gelungenen Weltkrieg begrenzt zu haben. Er ist damit nach dem Krieg wieder vorzeigbar, man kann sich das alles anschauen und besuchen, es ist halt übertrieben, und man hätte ihm einen Ratgeber gewunschen, der beizeiten darauf hinwies, dass das alles doch ein wenig geschmacklos ist, um es noch dezent zu sagen. Die moderne Kriegstechnik von damals wirkt längst antiquiert, auf dem Deck des Schiffes knipsen sich Schülerinnen mit Louis-Vuitton-Taschen ab, kein geborener Führer, nirgends, nur ein Medienunternehmer namens Berlusconi herrscht in Rom, es ist alles so klein und normal, nichts könnte nun wieder ferner als Übermenschentum sein, und die meisten Werke von d’Annunzio sind auch nicht mehr lieferbar. Es ist ein Museum für eine extreme, unbürgerlich sein wollende Existenz, die hier zugrunde ging, weil man sie hier duldete und verwenden konnte.
Über dem Komplex ist das Mausoleum, ein antik anmutender Unterbau, eine Krypta in ihrer Mitte, und obendrauf ein Kreis hoch aufgestellter Gräber seiner Freunde in der Tradition spätmittelalterlicher Tumben, und in der Mitte die alle überragende Stele für d’Annunzio, darum der Park, der Kriegskrempel, die sagenhaft geschmacklos umgebaute Villa, der nette Ort, der Gardasee, ein einziges, grosses Westviertel für leicht privilegierte Systemstützen, der eine baut vielleicht Stahlträger und der andere schreibt heroische Gedichte, um das Erbe des einen balgen sich die Nachfolger, und das Erbe des anderen wird zum Museum, in dem Schulklassen quasseln und an den Kanonen Blödsinn machen. Die Villa Vittoriale ist eines er minderwertigsten Museen Italiens, obskur und wie ihr Besitzer keinen Funken genialisch, im Museumsshop verstauben seine Werke. Aber es ist eine gute Ausstellung über die Frage, warum es gut ist, wenn all die Westviertel und ihre Bewohner einfach nette, ältere Herren bleiben, die mit dem Hund Gassi gehen und in ihrer Freizeit Schweizer Aktienpakete umschichten, und nicht glauben, sie seien etwas Besonderes, eine Elite, eine den Staat auf Linie bringende Avantgarde, Übermenschen und Technikbeherrscher, Aktivisten oder Zertrümmerer von Kulturen, oder was auch immer. Eine Villa Vittoriale reicht für den Gardasse, Italien, Europa und die Welt.
(Mehr zu Nuvolari, der Mille Miglia, dem Futurismus und warum man nach Rom fährt, um sich so etwas Mittelmässiges wie Autos anzuschauen, am kommenden Samstag in der “Bilder und Zeiten”-Beilage der FAZ)