1363 legt sich Papst Urban V., das Oberhaupt der Kirche, mit Bernabò Visconti, dem Herrscher von Mailand an. Visconti hatte im konfliktreichen Oberitalien nur wenig Anstalten gemacht, sich den Wünschen und Forderungen der Kirche zu unterwerfen, und hatte deren Machtansprüche über einige Regionen zurückgewiesen. Um ihm seine Missbilligung zu zeigen, und seine Oberhoheit über den rebellischen Fürsten zu dokumentieren, schickte Urban einen Boten nach Mailand, der Visconti eine Bulle mit seiner Exkommunikation überbrachte. Visconti, der ein Mann mit viel Sinn für politische Gesten war, nahm die Bulle nicht an, sondern liess sie dem Boten in den Mund stecken und zwang ihn, sie aufzuessen.
Kurz, der weltliche Herrscher zeigte dem geistlichen Herrscher, was er von seinen Ansprüchen hielt.
In diese grosse, alteuropäische Tradition würde ich vielleicht auch den Konflikt zwischen der neuen Religion des Marktes und den Herrschern der europäischen Oligarchien mit demokratischen Elementen, wie etwa der Bundesrepublik Deutschland, sehen wollen. Genau genommen ist das Verbot der BaFin von nackten Leerverkäufen gewisser Aktien und Kreditausfallversicherungen so eine Antwort a la Visconti auf die Versuche des “Marktes” und seiner Akteure, ihren Unwillen gegen die Lage der Staaten der Eurozone und der Gemeinschaftswährung auszudrücken. Es ist nicht überliefert, ob der unglückliche Papstgesandte zur Urkunde auch noch das anhängende Bleisiegel verspeisen musste – sollte es so gewesen sein, darf man die geplante Finanztransaktionssteuer in der EU als kulinarische Ergänzung sehen.
Das Geheule und Gejammer der Marktgläubigen, die betroffenen Banken und Hedge Fonds könnten sich nun andere Länder für ihre Geschäfte suchen, klingt hier auch ähnlich glaubwürdig, als hätte Urban V. daraufhin Visconti wissen lassen, dann schicke er eben seine Geldeintreiber und plündernden Kreuzzügler in andere Länder, um die auszusaugen. Länder wie das überschuldete Japan, die insolventen Vereinigten Kolonien der Komministischen Partei Chinas auf dem Nordamerikanischen Festland (früher USA) und die grossbritischen Pesetendrucker werden sich vielleicht doch nicht so arg freuen, derartig überfette Risikoquellen der Marktideologie bei sich aufzunehmen, um deren Angriffe als Opfer zu dienen. Und man sollte auch nicht vergessen, dass momentan jede Regierung wenig Anlass sieht, gerade die Fettesten der Fetten nicht zu rupfen. Den Päpsten in den Frankfurter Türmen sei als Trost berichtet, dass die Besteuerung oder gar Plünderung von Kirchengut immer wieder mal üblich wurde – die Kirche hat es trotzdem überlebt, selbst wenn sie heute nicht mehr die bestimmende Ideologie ist.
Jenseits dieser Pflege alteuropäischer Traditionen, von denen man sich gerne auch die Aufführung in Historienspektakeln wünschen würde, bleibt natürlich die Frage nach dem Euro, der Währung, oder kurz, dem Geld, dessen Besitz in unseren Oligarchien bestimmt, wer im Westviertel wohnt und über die Geschwindigkeit jammert, und wer in Griechenland Steine wirft, wer die letzten drei Jahre der Krise relativ ungeschoren davon kam, und wer über kurz oder lang die Quittung für Bankenrettungen bekommt, die sich nun als Schuldenlasten der Staaten den Banken als Ziel für Angriffe darbieten. Und leider haben Währungs”reformen” in Europa seit der Einführung des Papiergeldes in Europa eine noch grössere Tradition erlangt, als das auch nicht gerade nette, aber wenigstens dem Verursacherprinzip gehorchende und nur Einzelpersonen treffende Vergiften von Päpsten und das Beseitigen von Viscontis.
Denn eine Währungsreform wird nachgerade impliziert, wenn sich die Regierungschefin zu Aussagen hinreissen lässt, der Euro und Europa könnten scheitern. Das sind ganz neue und ungehörte Töne, allein die Vorstellung davon sorgt in den Westvierteln für neue Urlaubsplanungen, etwa: Nach Italien nicht über den Brenner der Österreicher, sondern über den San Bernardino und das Lugano der Schweizer. Sehr nette Orte übrigens, ich war da vor ein paar Wochen, und die Schweiz ist zwar kein sicherer Hafen mehr für Steuerhinterziehung, aber sie hat auch keinen Euro, aber jede Menge Tradition als scheinbar sicherer Hafen gegen all die Unwägbarkeitend des Daseins. Seit drei Jahren lebt der Bewohner des Westviertels in dauernder Unsicherheit, es ist wie eine Fahrt über den San Bernardino ohne funktionierende Bremsen: Man überlebt viele Kurven, aber nichts garantiert einem, dass die nächste Kurve nicht die letzte ist. Dauererregung macht mürbe.
Dass in solchen Stunden der Bedrückung der ohnehin nicht überentwickelte Altruismus normaler Westviertelbewohner nicht gefördert wird, und das Verständnis mit den Banken nicht eben ansteigt, hat sich inzwischen wohl auch bei den bürgerlichen Parteien herumgesprochen. Natürlich haben die Bürger Geld und Aktien bei jenen Häusern, die in der Kritik stehen, aber nach einem “Ende des Euro” wäre davon einiges weg, und das wiegt mehr als das Schicksal einer Bank, deren Kleinaktionär man allenfalls ist. Es sind nicht die Besitzlosen dieses Landes, die mit den Attacken auf den Euro, mögen sie nun real oder eingebildet sein, bedroht werden. Diesmal ist es ein Kampf der Märkte gegen das Westviertel, das in aller Regel auch noch sehr genau weiss, wie das 1923, 1928, 1948 und bei der Einführung des Euro war. Früher begünstigte der Markt das Westviertel, jetzt droht er, dem Westviertel wieder zu nehmen. Was sich angesichts der restlichen Besitzlosen natürlich auch anbietet.
Vieles spricht also dafür, dass die Märkte mit dem Angriff auf den Euro und damit die bestimmende Klasse Europas den Bogen überspannt haben. Und nun erfahren müssen, dass sie nicht die einzigen sind, die wie ein Condottiere der italienischen Renaissance jene geistige und moralische Beweglichkeit an den Tag legen, die in der Geschichtsschreibung zu Unrecht als Prinzipienlosigkeit verschrien ist. Hedgefonds in London und Pensionsfonds in Kalifornien gewinnen einem nicht die Wahlen, und schon Machiavelli wusste, dass der Fürst, der dazu verdammt ist, seine macht auf das Volk und seine Mehrheit zu stützen, von allen Fürsten die ärmste Sau ist, während er für die Visconti, allemal Gewaltherrscher, durchaus warme Worte findet. In Europa wird gern betont, man sei, allein schon aus grober Unkenntnis der Geschichte dieses moralisch stets verkommenen Kontinents, eine “gechichtlich”-historisch gewachsene Wertegemeinschaft. Das wird man in den kommenden Wochen überprüfen können, wenn man neben der eifrigen Reisetätigkeit ins Tessin noch Zeit dazu hat.
Denn jedem ist klar: Das Hilfspaket von 750 Milliarden Euro wird von der EU aufgebracht, und geht irgendwo anders hin. In Märkte, zu Banken, Investoren, Märrkte. Und geht irgendwo weg, von Staaten, Gemeinden, Bürgern. Die Ideologie, die im Markt etwas Tolles, Richtiges und allein Seligmachendes erkannte, wird nicht mehr geglaubt, denn wenn dieser Markt “gut” und “richtig” wäre, würde man nicht davonlaufen und ihm sein Geld entziehen. Man würde ihm vertrauen und seine Folgen mit Kadavergehorsam annehmen, weil der Markt angeblich immer recht hat, egal was da kommt: Euroabwertung, Währungsschnitt, Auseinanderbrechen der EU.
Was Machiavell in seinem Buch vom Fürsten fehlte, war ein Kapitel über die Fürstentümer des Geldes, und wie man sie bewahrt, oder auch nicht. Wenn nun auch die treuesten Unterstützer der Märkte in den Westvierteln davonrennen, sind die Aussichten gut, dass dieses Kapitel nachgetragen werden kann. Und es wird wohl nicht weniger grausam sein als vieles, was man über die Visconti liest. Oder Urban V. Am Ende wird einer schlucken müssen, und alle werden versuchen, es die anderen tun zu lassen.