Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen.
Friedrich Schiller, Wilhelm Tell
Ein Deutscher kommt herein, ein Deutscher fährt hinaus. Trübe hängen die Fahnen in der sommerlichen Fastflaute auf dem See, den sparsame Schwaben äusserst schön finden, und dessen Gestade immer noch um Längen sauberer sind, als der Golf von Mexiko mit freundlicher Unterstützung von BP. Hier die Schweiz, dort Deutschland, dazwischen Wasser und sehr viele Boote. Wäre nicht gerade Feiertag, könnte man sich fragen, ob die Deutschen bei ihrer Anlandung nicht neben dem Kuchen auch Kontoauszüge in Romanshorn holen. In graubündnerschen Müstair sind die Banken in Richtung italienischer Grenze, in Romanshorn nicht fern des Bodensees. Und ich denke, dass es dafür auch weiterhin Gründe gibt.
Ich mag Google Street View nicht besonders, aber andere sind da natürlich schon viel weiter. Vor zwei Wochen fanden sich in etlichen Briefkästen besserer Regionen Bayerns Sonderdrucke eines deutschen Verlages, der sich mit Vermögensverwaltung, so nennt man das dort, beschäftigt. Sie wussten, wo man das am besten unterbringt, und wo man gute Chancen hat, dass die Vorschläge gnädige Aufnahme jenseits des Werbungsstapels finden, der da der Verfeuerung im Kachelofen harrt. Es ist schon erstaunlich, mit was für einer Kumpelhaftigkeit hier “Mit euch reden wir, andere in anderen Vierteln sind für uns kein Thema” das deutsche Westviertel bespielt wird. Man weiss, wo die potenziellen Kunden wohnen.
Und wie man sie im Jahre 1 nach den Schweizer CDs und den grossen Steuersünderskandalen ansprechen muss. Da ist nicht wirklich von Steuerhinterziehung die Rede, sehr wohl aber von den Vorteilen des Geldstandortes jenseits der deutschen Grenzen. Es gibt wohlmeinende Interviews mit Bankenvertretern, die in letzter Zeit auch deutlich weniger nette Anfragen kommentarlos ignorieren mussten. Es ist viel die Rede von Anlagezielen, und das Wort “nachhaltig” soll wohl auch mehr bedeuten als “wir geben uns alle Mühe, dass kein armes Schwein aus der IT den Deutschen, Franzosen, Griechen, Briten, Amerikanern und den ausländischen Raubsteuerregimes aus allen Staaten minus die Schweiz CDs mit Daten verkauft”. Kurz, das Thema ist für diese Branche, zumindest in der offiziellen Darstellung, mehr oder weniger abgehakt. Dafür gibt es nette Bilder von einem Festakt in der Münchner Residenz. Schaut her, sagen diese Bilder, wir können immer noch mit der Politik. Unten sind vielleicht ein paar Staatsanwälte, aber wir reden in der Residenz über unsere Leistungen mit denen, sie anschaffen, über das Beste für Ihr Geld.
Und in Romanshorn versteht man instinktiv, warum man sich in der Schweiz keine besonderen Sorgen über ausbleibende Finanzströme macht. Die ganze Schweiz ist eigentlich nichts anderes als ein verlängertes Westviertel, so sauber, so aufgeräumt, so korrekt und zufrieden. Sie ist, zumindest in den Ecken, da sie sich dem Betrachter präsentiert, fast eine Art Westviertel mit Staatsanhang und Recht, eigenes Geld zu drucken, und dieses Geld wiederum muss den Deutschen mit ihrer Inflationsangst wie die gute, alte Mark erscheinen. Keine SVP, keine Hetze gegen den Islam, deutsche Akademiker und umgekehrt alle, die deutsches Schwarzgeld in der Schweiz verfolgen wollen, wird daran etwas ändern. Es sind nur Petitessen, die weit jenseits der besonderen Beziehungen stattfinden, von denen Anlegermagazine so schwärmen.
“Wer jetzt noch in der Schweiz Steuern hinterzieht, dem ist nicht zu helfen”, hiess es noch vor ein paar Monaten in den Medien, aber da sind auch Gründe, die in den Augen von Anlegern dafür sprechen, und die gerne herausgehoben werden: Da ist die Sache mit der Sprache, denn Schweizer Berater kann man verstehen. Es kann sein, dass woanders vielleicht auch jemand Deutsch spricht, aber in anderen Fluchthäfen sind die Gesetzesbücher in Fremdsprachen abgefasst, und man sollte sich auch keine allzu grossen Illusionen über die Fähigkeiten der Angesprochenen machen, sich einer anderen Sprache als der zu bedienen, die im Westviertel gesprochen wird. Englisch ist zwar Geschäftssprache, aber dafür hat man Übersetzer. Und bei Kontakten, bei denen es in der Natur der Sache liegt, dass sie möglichst diskret sein müssen, ist es nun mal von Vorteil, wenn man möglichst wenig Unklarheiten langwierig ausräumen muss.
Es ist eine kleine Welt geblieben, dieses Westviertel, und die Branche gibt sich auch alle Mühe, die Welt so klein wirken zu lassen, selbst wenn das Geld zum Arbeiten in globale Portfoliostrategien gesteckt wird. Das Eigentümliche beim Steuerhinterziehen ist der unausrottbare Glaube, man würde das Geld in diesen grundsoliden Modelleisenbahnstaat tragen, in dem alles so präzise wie in einem Uhrwerk läuft. Tatsächlich aber fliesst das Geld sofort weiter in möglichst profitabel scheinende Anlagen, und die sind gerade nicht an Schweizer Apfelbäumen oder in den Eutern Schweizer Ziegen zu finden: Dieses grundsolide scheinende Land ist nur die Startrampe für das Vermögen, das global einen Gewinndruck ausübt, der letztlich das Westviertel wieder trifft, wenn ihm übergrosse Einkaufszentren vor der Stadt seine eigenen Puppenstubengeschäfte in der Altstadt ruinieren.
Aber davon ist natürlich nicht die Rede, sondern von den Vorteilen eines Landes, das nur auf dem Papier die Heimat des Geldes ist: Friedlich sei die Schweiz, sie kennt keine militärischen Konflikte wie andere, die schon mal für Arbeitsplätze ihre Soldaten opfern, alles sei auf Stabilität und Sicherheit ausgerichtet, und man habe Jahrhunderte Erfahrung im Umgang mit einem Geschäft, das sich alle paar Monate und Jahre mit neuen, immer undurchschaubareren Produkten neu erfindet: Waren es vor ein paar Jahren noch CDS, synthetische CDOs und Wetten auf Rohstoffpreise, sind es im Moment die Währungsspekulationen, die gerade den Euro abwerten und die sichere Schweiz dazu zwingen, enorme Mengen Franken zu verkaufen, damit diese hübsche, heile Welt nicht am Währungsrisiko zu fast allen Nachbarländern krepiert, und weil sie nicht möchte, dass morgen auf einen Währungsschnitt beim Franken spekuliert wird.
Aber immer noch schieben sich träge Boote über den grossen See, der Stau durch Bregenz reicht bis Lindau, und aus irgendwelchen Gründen glaubt immer einer, dass er klüger als der Rest ist, und Namen immer nur auf CDs zu finden sind, die keine Informationen über ihn tragen. Manche können auch gar nicht anders: Denn wenn nicht nur die Gewinne, sondern auch die Grundlagen schon nicht dem Finanzamt gezeigt werden können, bleibt nur das Ausland. Es muss gar keine Parteispende sein, oder ein Waffengeschäft. Es reicht schon ein Teil einer Erbschaft in Bargeld, Tafelpapieren, Gemälden und anderen Dingen, deren Angabe beim Nachlassgericht schmerzen würden. Macht man den einen Schritt, ist der nächste nur noch die logische Folge.
In den Medien hat die Goldhysterie etwas nachgelassen, an ihre Stelle traten die Schweizer mit all den schönen, neuen Konten deutscher Besucher, es ist eine Mode, wie generell die Welt des Geldes von Moden definiert wird. Es ist zudem eine verständliche Mode, die Schweiz strahlt die gleiche, polierte Sicherheit wie der Glanz des Goldes aus, und dennoch: So sauber ist das Bild, so unschuldig schimmernd wie die Perle, so sehr Westviertel, dass den echten Bewohnern des Westviertels auch Zweifel kommen müssten: Denn es ist die gleiche Anmutung; was läge als näher als der Verdacht, dass dahinter auch die gleichen Risiken und Verwerfungen lauern. Des Westviertels Scheidung mag die geplatzte Währungsspekulation mit hohem Hebel sein, die vertuschte Abtreibung nach der Freundschaft mit dem Tennislehrer der Tochter die Selbstanzeige, wenn man partout nicht jenen Besuch bekommen möchte, der einen im nächsten Umfeld unzweifelhaft dem Verdacht aussetzt, auf der nächsten CD dabei gewesen zu sein. Es ist alles so schön, so glatt, so sauber und so friedlich. Es könnte nur eine Täuschung sein. Und während die Vermögensverwalter 2011 dann vielleicht mit ihren Kontakten in Wiesbaden und Stuttgart angeben, schweigen andere, weiniger Glückliche, denen es bei ihren Geldtransaktionen an jenen Beziehungen und Vorsicht gebrach, die eigentlich essentielle Grundlagen jeder wichtigen Westviertelentscheidung sein sollten. Aber ewig schimmert die nasse Grenze im Sonnenschein.