Ich will auf den Tag im Schweizerland räuchern und brennen, dass Gott im Regenbogen vor Rauch und Hitze blinzeln und die Füße an sich ziehen muß.
Burkhardt von Randeck in der Sage von Benedikt Fontana
Vom Schwarzhorn, dessen Spitze so schnell kein Reicher bewohnen wird, geht es hinab ins Tal nach Susch und weiter nach Zernez, aber anstatt nach St. Moritz oder Silvaplana in andere hässliche Dörfer der Besserverdienenden zu fahren, oder gar hinunter zum Comer See, wo die Italiener das gleiche mit ihrem Geld tun, wie die Deutschen am Bodensee – biege ich links ab. Dort geht es hinauf in den Schweizer Nationalpark, eine Region frei von Menschen und an jenem Tag auch ziemlich frei von anderen Fahrzeugen.
Hier oben wird versucht, die Schweiz wieder so zu machen, wie sie vor den Eingriffen des Menschen war. Ab und an tauchen wieder Wölfe auf, der erste Braunbär seit Jahrzehnten wurde hier 2005 wieder gesichtet (näheres dazu im Buch der Kollegin Melanie Mühl), und in 100, 200 Jahren sieht es hier vielleicht wirklich wieder so aus, wie vor ein paar tausend Jahren. Der Mensch muss hier auf Wegen bleiben, aber das macht nichts, es ist auch so eine für den an Menschen gewöhnten Mitteleuropäer eine feine Sache, eine Weile keinen Menschen zu sehen.
Irgendwann erreiche ich den Ofenpass, 2149 Meter hoch, die Wasserscheide zwischen dem Inntal und der Etsch, die sich mit dem Po vereint und ins Mittelmeer mündet. Am Südhang riecht es italienisch, am Nordhang liegt noch Schnee. Der Ofenpass ist die eigentliche Grenze zwischen Nord- und Südeuropa.
Von dort aus geht es hinunter ins Münstertal, oder auch Val Müstair, und am Ende des Tales liegt Südtirol, links geht es zum Reschenpass und rechts nach Meran. Es ist alles so satt und so grün hier, und gleichzeitig immer noch relativ frei von der Moderne. Dicht drängen sich schwere Steinhäuser aneinander, das Val Müstair ist eine weitgehend vergessene und touristisch wenig erschlossene Region, verschlafen, verzaubert, und wenn man in Müstair rechts abbiegt, kommt man auf den Umbrailpass, dessen einzigartiger Vorteil es ist, dass man ihn mit dem Auto frei befahren darf, obwohl er im Mittelstück nicht asphaltiert ist. Der Umbrail ist der höchste Pass der Alpen, auf dem man noch das Fahrgefühl der 30er Jahre erleben kann. Oben geht es weiter zum Stilfser Joch oder hinunter nach Bormio. Pässe, Wege, Übergänge, und am Schnittpunkt liegt das Kloster St. Johann aus dem späten 8. Jahrhundert, berühmt für seinen weitgehend erhaltenen, karolingischen Freskenzyklus.
Eine Laune des Schicksals hat dafür gesorgt, dass unten im Vinschgau, nicht weit von hier, die anderen beiden herausragenden beispiele karolongischer Wandmalerei zu finden sind. St. Johann in Müstair, St. Benedikt in Mals und St. Prokulus in Naturns geben einen guten Eindruk von der Farbenpracht des frühen Mittelalters, aber Müstair hat fraglos die bedeutendsten und ältesten Kunstschätze an den Wänden. Als das Kloster vermutlich von Karl dem Grossen gegen 775 gegründet wurde, waren im Südtiroler Vinschgau noch die Bajuwaren und Langobarden an der Macht. Ein paar Jahre später hatte Karl beide Völker in dermassen brandschatzend und brutal unterjocht und ihrer Führungsschicht und Rechte beraubt, dass es einen zweifeln lassen kann, ob sein Namenszusatz nicht eher auf “der Schreckliche”, “der Hinterhältige” oder “der Kriegsverbrecher” lauten sollte. Gern sagt man in geschichtsvergessenen Kreisen dem Manne nach, er sei der erste Europäer gewesen, und tatsächlich steht er für eine bestimmte Traditionslinie des Kontinents, die jeder nach Gutdünken weiterstricken konnte, der seine Nachbarn überfiel, unterdrückte und ausbeutete.
Die Kirchen in Mals und Naturns sind dann schon Eigenkirchen der neu eingesetzten, fränkischen Oberschicht, aber das Kloster in Müstair selbst ist in seinem Netz der Wege und als Einfallstor nach Südtirol vermutlich der Ausgangspunkt der Eroberungen gewesen. Man darf sich ein Kloster dieser Zeit nicht als Ort des Rückzugs von der Welt vorstellen; Klöster waren Verwaltungs- und Herrschaftsorganisationen für Regionen, Mittel des Machterhalts und der Interessensdurchsetzung, Rechtskanzleien und Erzwinger der dem Herrscher genehmen Staatsreligion. Noch heute steht eine Statue von Karl dem, nun, was auch immer, neben der Hauptapsis von Müstair, und bewacht den Weg aus dem Frankenreich in die Lombardei.
Es hätte auch anders kommen können, denn auch im Mittelalter gierten die Mächtigen und ihre Handelsherren nach Strassen und Transportwegen zur Sicherung ihrer Herrschaft und Profite, ohne dabei Rücksicht auf Baudenkmäler zu nehmen. 1499 war es Kaiser Maximilian I., noch so ein in der Geschichtsschreibung gut wegkommender Herrscher, der Einfluss und freie Bahn zwischen Tirol und Mailand haben wollte. Zu diesem Zweck wurde Müstair geplündert und Geiseln genommen, und das Tal ein Dorf weiter Richtung Vinschgau abgeriegelt. Die Schweizer wehrten sich in der Schlacht an der Calven, besiegten die Deutschen vollständig, und massakrierten alle, die ihnen in die Hände fielen, Soldaten wie Bewohner der Dörfer. Daraufhin marterte man auf der anderen Seite 38 Schweizer Geiseln zu Tode, drang noch einmal kurz brandschatzend ins Val Müstair ein, und musste in den Folgejahren weiterhin über das beschwerliche Stilfser Joch nach Mailand, um die Handelswege offen zu halten.
120 Jahre später kam es im angrenzenden Veltlin und rund um Bormio erneut zum Konflikt, als die Eidgenossen im 30-jährigen Krieg sowohl den deutschen Katholiken in Richtung ihrer Besitzungen in Mailand, als auch den Franzosen und ihren protestantischen Verbündeten auf dem Weg nach Venedig den Durchzug erschwerten. Das Geschehen ging verharmlosend als “Bündner Wirren” in eine wenig ruhmreiche Geschichte ein: Es entbrannte ein von den Grossmächten angeheizter Bruderkrieg. Zuerst begingen die Protestanten unter Jörg Jenatsch Justizmorde an der katholischen Partei, dann rebellierten die Katholiken und begingen den “Veltliner Protestantenmord”, oder, wie es katholisch genannt wird, die “Heilige Schlachtung”, die in eine gewaltsame Säuberung des Landstrichs von Protestanten mündete, und die Ereignisse in dem auseinanderbrechenden Yugoslawien und anderer Stellvertreterkriege vorwegnahmen. Beide Parteien riefen ihre Verbündeten zu Hilfe, die nur zu gern im Kampf um die Pässe und Wege eingriffen, und Tod, Mord, Seuchen und Verwüstung auch in diesem reizenden Tal mit sich brachten.
Wenn der Torbau des Klosters von Müstair also der Turm einer Befestigung ist, und Zinnen trägt, ist das nicht allein gebauter Herrschaftsanspruch, sondern pure Notwendigkeit des Überlebens in Zeiten von Militärdoktrinen, die eigene wirtschaftliche Ziele über die Integrität und Schicksale der Menschen setzen, durch deren Länder ihre Handelsrouten gehen. Gute Gründe, Notlagen, Erklärungen und wirtschaftliche Logiken wurden dafür immer gefunden, wenn man sie gerade brauchte, Karl der Irgendwassige wurde offiziell vom Papst gegen die Langobarden zu Hilfe gerufen, Maximilian I. konnte sich auf alte Rechte berufen, und im Veltlin wussten beide Seiten beim Morden das göttliche Recht auf ihrer Seite, das verteidigt werden musste, und wenn am Ende noch jemand greifbar war, machte man ihm auch den Prozess, damit alles seine Ordnung hatte.
Das Tal und den Nationalpark, die ich vielleicht als die “Schweiz der Schweiz” bezeichnen würde, so verlassen, vergessen, so ruhig in ihrer Einsamkeit, mit ihren Naturkäsereien, die noch Chascheria heissen und nicht “Milch Arena” wie in Davos, und mit Pässen, die noch aussehen wie in den 50er Jahren und in einem Licht liegen, das Technicolor in die Kamera zaubert, diese Region wurde erst friedlich, als weiter westlich andere Pässe ausgebaut wurden, über die andere Heere mordend und plündernd zogen, alle mit dem besten Recht und den besten Gründen und immer der Gewissheit, dass den Sieger keiner mehr fragen wird, und immer jemand kommt, der einem die Absolution erteilt. Das Val Müstair wurde eine Sackgasse am Rand der Schweiz, durch eine lange, wilde Passstrecke vom Rest des Landes getrennt, es wurde kein Zentrum der Steuerhinterziehung und der neuen Geldstrassen auf elektronischen Wegen, für die andere Kriege mit anderen Mitteln geschlagen werden, mit anderen Verlierern und Hungernden, vielleicht in Falludja oder in einem amerikanischen Neubaugebiet, und anderen Gewinnern in irgendwelchen Türmen, für die keine Zinnen mehr brauchen, sondern nur noch Lobbyisten und käufliche Parteien – das alles ist sehr weit weg. Nur in der Raiffeisenbank, da kann man an den Schalter gehen und die Goldvreneli zu vernünftigen Preisen kaufen, die in der Vitrine liegen, sie in den Geldbeutel legen, und dann über die Grenze, die kleine Schweizreise beendend, getrost nach Hause fahren, in die Heimat, die nicht neutral wie die Schweiz, sondern in Afghanistan im Kriegseinsatz ist, und dort nach den Pfeifen anderer Interessen tanzt.
Und wenn Sie glauben, der Rücktritt eines darüber stolpernden Staatsoberhauptes namens Bundespräsident Köhler, das auch gern Handelswege dominieren möchte, wäre eine schlimme Sache: Die Grossmutter eines der Soldaten, der vor sechs Wochen in Afghanistan ums Leben kam, hat bei der schlimmen Nachricht einen Schlag erlitten, und ist vor drei Wochen an den Folgen gestorben.