Viva Bacchus, Bacchus lebe, Bacchus war ein braver Mann.
Wolfgang Amadeus Mozart, Die Entführung aus dem Serail
Was für hübsche Blumen, wird man sich denken, vor dem Eingang zum altehrwürdigen Münster der kleinen, dummen Stadt an der Donau. Wie aufmerksam von der Stadtverwaltung sie hier zu hegen, gerade zu Fronleichnam, wenn der festliche Zug mit der Monstranz aus dem Tor schreitet, um im Glauben ein sichtbares Zeichen zu setzen, in diesen auch für die katholische Kirche nicht immer einfachen Zeiten. Welch eine schöne Reminiszenz für den Sohn der Stadt, der gerade wieder von den idyllischen und heute nicht mehr blutgetränkten Blumenwiesen des Val Müstair nach Hause kommt.
Und was für ein Irrtum. Würden Sie das jetzt um 2:35 Uhr, da ich dies schreibe, den vor dem Münster versammelten Personen sagen, man würde es nicht nur vehement bestreiten, nein, man würde Ihnen für diese Sichtweise auch das Gesicht einschlagen. Was Besoffene, wenn sie am nächsten Tag ausschlafen können, eben so tun, wenn sie beim Benutzen ihrer Blumentoilette gestört werden. Denn in diesem Viertel sind auch viele Kneipen, die Geld durch Alkoholika verdienen, und die Getränke müssen auch raus, wenn die Konsumenten schon lang kein Geld mehr haben, um noch eine Runde zu bestellen.
Im Volksmund haben diese Personen – nennen wir die der Einfachheit halber landestypisch “des Gschleaf” – ob ihres Tuns einen speziellen Namen: Die “Münsterbiesler”. Es gibt durchaus Versuche der Ordnungsmacht, dem Einhalt zu gebieten, und die Strafen sind ebenso saftig, wie die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, minimal ist. Das Münster ist gross, Süddeutschlands grösste gotische Hallenkirche sogar, da findet man immer ein Eck. Oder man torkelt in eine Nebenstrasse. Dort kann man auch, wie letztes Wochenende geschehen, Randale machen, Sturm läuten und gegen historische Türen treten, und Hausbesitzer auffordern, doch herunter zu kommen und es mit 20 Mann Gschleaf aufzunehmen. Oder sich übergeben. Oder versuchen, den Zigarettenautomaten aufzubrechen, oder Autos demolieren, oder eine Massenschlägerei anzuzetteln. Der Freizeitwert der Altstadt für das Gschleaf ist bei steigender Promillezahl ebenfalls recht hoch, und daran ändern auch meine sporadischen Auftritte vor Gericht als derjenige, der sie angezeigt hat, nicht viel. Es sind einfach zu viele.
Angeblich, so meint zumindest der Bürgermeister dieser Stadt, müsse es einen Interessensausgleich zwischen Anwohnern und “Nachtschwärmern” geben, die Stadt tue auch dieses und jenes, um dem Treiben Riegel vorzuschieben. Das macht ziemlich Eindruck bei denen, die nicht hier wohnen, und so finden sie auch nichts dabei, wenn der gleiche Bürgermeister das Gschleaf zum “Public Viewing” für so eine komische Sportveranstaltung wieder in die gute Stube der Stadt lädt, wo darauf geachtet werden soll, dass sie nicht zu viel trinken. Vermutlich – und wegen der hohen Preise – werden sie deshalb schon woanders vorglühen und dann, aggressiv und vollbetrunken, durch die Stadt zu ihren Autos torkeln und feststellen, dass alle Freunde auch getrunken haben, womit sie gegenüber der Polizei eine famose Rechtfertigung haben, wenn sie erst mal aus dem Wrack am Baum geschnitten worden sind. In andere wird dagegen noch etwas hineingehen, vielleicht werfen sie auch diesmal wieder Rotweinflaschen auf das gotische Portal des Münsters, vielleicht treten sie die Metalltür des Studentenwohnheims ein, vielleicht brechen sie auch vor meinem Haus zusammen.
Und das wiederum ist ein Problem, denn meine Erziehung umfasst derartige Situationen nicht. Ich bin sehr wohl erzogen worden, strauchelnde, ältere Herrschaften zu stützen und ihnen ein Taxi oder einen Arzt zu rufen, ich helfe Behinderten über die Strasse, und keineswegs verachte ich das Leid der Bettler. Ich bin hilfsbereit und antworte stets mit: “Aber bitte, keine Ursache.” Kurz, ich bin der höflichste Mensch von der Welt. Aber niemand hat mir erklärt, wie zu verfahren ist, wenn ein Angehöriger des Gschleafs, der normalerweise Nachtruhe stört und die Stadt verwüstet, nun auch noch den Bürgersteig vor meinem Haus besetzt und offensichtlich nicht mehr in der Lage ist, seinen Weg zu finden. Das Gschleaf und der Kontakt zu ihm war in meiner Erziehung nicht vorgesehen. Das ist tatsächlich ein Dilemma.
Es gibt natürlich auch Betrunkene, die nicht so abscheulich sind. Einmal hütete ich bei meinen Eltern die Katzen, und Sabinchen weiss, dass sie in diesen Tagen grenzenlos streunen kann – ich werde geduldig warten, bis sie wieder daheim ist. Gegen 4 Uhr kam sie dann, und ich radelte aus dem Westviertel zurück in das Stadthaus. Auf dem Radlweg vor dem Tor lag in doch recht scharfer Kälte ein junger Mann, ordentlich bekleidet, und rührte sich nicht. Ich stieg ab, weckte ihn, und half ihm heim zu seinem Studentenwohnheim. Seine Bekannten, sagte er lallend und bedauernd, hätten ihn dort wohl einfach vergessen. Eines anderen Tages fand ich zu später Stunde eine Bekannte einer mit bekannten Studentin vor meinem Haus, die stark alkoholisiert ebenfalls nicht mehr laufen konnte und auch keinen Schlüssel dabei hatte. Natürlich überliess ich ihr die Gästewohnung, und sie schämte sich am nächsten Morgen enorm. Ich nehme an, das gehört alles zum Lernprozess des Erwachsenwerdens. Bei denen, die überleben.
Das jedoch ist nicht so sicher, denn Gschleaf ist, selbst wenn es sich gerade wegen eines Tores noch in den Armen lag, unter Alkohol gar nicht so arg gesellig. Der junge Mann jedenfalls, der sich jetzt – es ist 4 Uhr – vor dem Studentenwohnheim gegenüber übergeben hat, wurde dorthin zwar noch von einem anderen Torkelnden begleitet, aber dann allein gelassen. Und hier stellt sich die Frage: Muss ich so ein Elend, wenn es dann in seinem eigenen Erbrochenen sitzt, auch aufnehmen? Zumal, wenn es in den nächsten Wochen gehäuft auftreten wird? Die Antwort ist eigentlich, wenn ich ehrlich bin: Ein wenig kalter Regen da draussen wird ihm nicht schlechter tun als die gleiche Behandlung in meinem Bad. Merkt so ein Angehöriger des Gschleaf überhaupt den mir wohl bewussten Unterschied zwischen der Härte des Betons und der weichheit meiner Matratzen? Ich weiss es nicht, aber bislang sah ich noch keinen Betrunkenen, der sich aufrappelte und sich über die unerfreuliche Beschaffenheit des Bodens beschwerte. Ich könnte natürlich fragen, ob dem so ist, aber meine Erziehung verbietet es mir, fremde Menschen auf der Strasse einfach so anzusprechen.
Überhaupt, das Problem ist ja, dass die Person einem gar nicht vorgestellt wurde. Mögen Staatsanwälte auch von unterlassener Hilfeleistung reden: Es ist in meinen Kreisen einfach nicht üblich, wildfremde Menschen nachts auf der Strasse in ihrem Schlaf zu stören. Im Zug wäre das ja auch enorm unhöflich. Je mehr ich nachdenke, desto mehr komme ich zum Schluss, dass es doch ausreichen kann, meine gute Erziehung lückenlos auf das Gschleaf anzuwenden, und ihnen damit das Gefühl zu geben, wie Meinesgleichen geachtet zu werden: Sollte einer von denen klingeln, werde ich einfach unter Hinweis auf die üblichen Besuchszeiten nicht reagieren – ich empfange auch Besoffene am Ende ihrer Kräfte und ihre Bekannten nur zwischen 14 und 18 Uhr, und das auch nur nach vorheriger Anmeldung. Dennoch werde ich zu ihrem Besten, sollten sie besonders laut werden und mich wecken, davon ausgehen, dass sie der professionellen Hilfe bedürfen, und der Einfachheit das Fachpersonal der polizei rufen, die sch dann als Freund und Helfer zeigen können. Ich habe ja nicht gesagt, deren Freund zu sein, aber die Polizei nimmt das für sich in Anspruch. Ich helfe auch Fremden gerne bei der Zusammenführung mit ihren Liebsten. Ansonsten bin ich durchaus der Meinung, dass im öffentlichen Raum sich jeder frei bewegen darf, ungeachtet seines Zustandes. Stets bin ich erfreut, wenn Touristen staunend und ergriffen mit offenem Mund mein Haus bewundern – sollte sich des Nächtens einer Zeit nehmen, mein Haus gleichermassen auf der Strasse sitzend genau bewundern zu wollen, wer wäre ich, ihn davon abzuhalten im Kunstgenuss. Auch Gschleaf soll sich strebend bemühen dürfen. Wir sind ja gar nicht so. Gerne bis zum Morgen.
Zumal so ein Bild des Friedens sicher sehr beruhigend ist, und mich fest schlafen lässt. Ich bin sicher, das Geschleaf träumt solange süss von hineingehämmerten Toren für Schland und merkt gar nicht, wie derweilen die Glassplitter auf dem Boden ihren Weg in das Hinterteil desselben findet. Sage noch einer, die Klassen könnten nicht bestens in der Stadt zusammen leben, wenn man sich nur an die Regeln der besseren Gesellschaft hält. Trotzdem wäre es mir natürlich lieber, wenn sie, falls sie doch eine Lungenentzündung oder schlimmeres bekommen, in eine Nebenstrasse, etwa vor das Amtsgericht gingen. Dort sind nämlich überhaupt keine Nachbarn mehr, die sich über solche protokollarischen und, wie ich gern zugebe, nur von vorzüglichen Kennern der Etikette lösbaren Fragestellungen den Kopf zerbrechen müssten, und vielleicht auch noch andere indignieren, deren Leben der Fussball, der Alkohol, die Randale und die Fahne ihres Landes als Dreingabe der Gossenpresse sind.