Sed dux malorum femina: haec scelerum artifex.
Lucius Annaeus Seneca
Alle in Deutschland, wir alle, also Sie, der Sie das vielleicht in einer weniger begüterten Region lesen, wie ich, der ich das an den Gestaden des Tegernsees verfasse, der Obdachlose unter dem Mauervorsprung, die Putzfrau in der Reinigungskolonne des Bankenturms, auch deren müllproduziernder Arbeitsbeschaffer und, ja, auch Frau Merkel selbst, wir alle haben über unsere Verhältnisse gelebt. Und auch ohne Frau Merkels Friseur- und Konfektionskleidungsrechnung zu kennen, würde ich nicht bestreiten wollen, dass man diesen Vorwurf machen kann, der eben jenem Kanzlerinnenmund entsprang und in die Mikrophone schlüpfte. Man kann es allen vorwerfen, aber nicht den besseren Kreise dieses Landes. Denn über die eigenen Verhältnisse leben, das macht man nicht. Und wenn man etwas nicht macht, dann kann auch eine Kanzlerinnenaussage nicht bewirken, dass man es getan hätte.
An dieser Stelle, vor weiteren Ausführungen, muss man Frau Merkel zuerst einmal prinzipiell in Schutz nehmen. Gesagt hat sie das im Rahmen eines Sparpakets, das den Bundeshaushalt zusammenstreicht. Wenn wir davon ausgehen, dass diemal nur diejenigen bestraft wurden, die über ihre Verhältnisse lebten, kann sie die Menschen hier am See gar nicht gemeint haben. Vorhin etwa war ich auf dem Berg radeln, als wieder so ein unsäglicher Kampfjet über das Tal knallte. Wenn dafür weniger Geld da ist, ist das nur in meinem Sinne. Der Nichtbau eines preussischen Schlosses für irgendwelche Berliner ist ebenfalls nichts, was uns stören könnte, schliesslich haben wir Bayern ziemlich entblödet unser Wittelsbacherschloss in Tegernsee nicht im Vormarschweg des Russen gebaut. Kürzungen von Elterngeld spielen bei einem Altersschnitt von 50+ keine besondere Rolle mehr, wir müssen hier auch nicht in Urlaub fliegen, nachdem wir hier im Urlaub für immer wohnen, und bei der Bankensteuer wird es so sein wie immer: Je weniger ein Kunde hat, desto mehr wird er prozentual dafür beitragen müssen. Und zur Grenze nach Österreich, weiter Richtung Schweiz, sind es nur 20 Kilometer. Der Umstand, dass manche noch immer nicht ihre Hunde in den Grünanlagen anleinen, ist hier ein drängenderes Problem als Hartz IV.
Nicht nur, dass all die Massnahmen also an diesem schönen Land vorbeigehen – die Banken werden weiter gestützt, es gibt also keine allzu schlimmen Einschnitte in den Depots, es kommt keine Vermögenssteuer, keine höhere Erbschaftssteuer, kein höherer Spitzensteuersatz, und auch der Steuerberater kann steuermindernd angegeben werden. Auch die Milchbauern werden unterstützt, behalten ihre Kühe, treiben sie auf die Almen, wo sie idyllisch verweilen und mit ihrem Glockenbimmeln jene Atmosphäre schaffen, die man hier so schätzt. Krise, die ist anderswo. Jedenfalls, die Verhältnisse bleiben hier, wie sie sind, nichts ändert sich, und deshalb darf man auch davon ausgehen, dass man nicht von Frau Merkel gemeint wurde. Vielleicht kennt die das Tegernseer Tal auch gar nicht. Das wird es sein. Weiter als bis Ottobrunn wird sie nie gekommen sein. (Zur Betroffenensicht übrigens hier und hier entlang, bitte)
Trotzdem sind solche Einlassungen allein schon ehrabschneidend. Niemand würde das, was Frau Merkel in ihrer typisch direkten, norddeutschen, oder auf bayerisch gesagt, gscheadn Art da vorgetragen hat, im Süden so öffentlich aussprechen. Denn dieser Vorwurf hat zwei scharfe Schneiden, und beide zielen zusammenlaufend in das Herz des bürgerlichen Selbstbewusstseins. Auf der einen Seite besagt der Anwurf, dass man eigentlich zu wenig hat. Dass es eigentlich nicht reicht, dass man nicht vermögend genug ist. Und auf der anderen, dass die Selbstdarstellung von sich selbst nicht gerechtfertigt ist: Blender, Angeber, Schuldenmacher. Merkel zieht der Bürgerlichkeit die Damasttischdecke unter dem Teeservice weg, und sagt dann über den Scherben auch noch, dass das Geschirr geklaut oder bestenfalls erschlichen ist. Sie stellt sowohl die bürgerliche Tugend als auch den bürgerlichen Besitz in Frage.
Dabei steht vollkommen ausser Frage, dass die besseren Kreise fraglos über den Besitz, auf welche Art auch immer, wirklich auch verfügen. Das reiche Drittel der deutschen Bevölkerung besitzt den grössten Teil des Volksvermögens, nicht zuletzt dank einer enormen Sparquote, hinter der heute längst kein Sparbuch mehr steht, sondern ausgebuffte Anlagevehikel genau jener Bankmanager und Vermögensverwalter, von deren Chefs sich Frau Merkel so gerne beraten lässt, wenn es um wirtschaftliche Fragen geht, etwa die, wie man die besonders Bedrohten jenes Drittels des Landes, das so gut wie nichts hat, im Winter ohne Heizkostenzuschuss frieren lässt, damit mehr Geld zur Stüzung von Banken da ist, die beim Kauf maroder Hauskredite tatsächlich über ihre Verhältnisse gelebt haben.
Natürlich kommt es mitunter vor, dass man auch in besseren Lagen den schlimmen Begriff “über seine Verhätnisse leben” öffentlich verwendet. Das jedoch geschieht eigentlich stets post factum, wenn also am schlimmen Ausgang der Sache nicht mehr zu deuteln ist. Dann jedoch ist es immer noch ein Euphemismus, eine eigentlich ungerechtfertigte Beschönigung, die etwas höchst Peinliches zu verbergen hat; der Fall einer recht bekannten Geschäftsfrau meiner kleinen, dummen Heimatstadt etwa wurde darunter abgeheftet, auch wenn sich hinter der blossen Einschätzung eines nicht den Einnahmen entsprechenden Lebensstils so unschöne Rechtsfragen wie Steuerhinterziehung, Insolvenzverschleppung und Schwarzarbeit verbargen. “Über seine Verhältnisse leben” ist ein ölig changierender Begriff, schleimig und weithin fliessend, es kann vieles bedeuten, und gerade deshalb ist man damit eher vorsichtig, oder nimmt gleich die schlimmste Bedeutung an.
Um sich dem Vorwuerf erst gar nicht auszusetzen, gibt es eine Reihe von Entschuldigungen, warum man hier und da doch etwas mehr ausgibt, als man eigentlich sollte. Als Dorfarzt wird man vom Bauern nur ernst genommen, wenn man Mercedes fährt. Als Vermögensverwalter muss man eine gute Adresse haben, egal was es kostet – es kommt schon wieder rein. Das Haus hat 150 Quadratmeter mehr, als man eigentlich braucht, aber so ist es wenigstens zukunftssicher. Der theoretische Preis eines Kleinwagens für Lautsprecher ist nicht wenig, aber sie waren praktisch reduziert und man hat davon mehr als von Gold, das nur rumliegt (meine Ausrede. Funktioniert aber nur mittelgut. Aber sie waren wirklich sehr reduziert.). Bei den aktuellen Silberkursen ist allein das Material meiner Kannen mehr wert, als ich gezahlt habe (warum ich dennoch so viele brauche, ist eine andere Sache). Könner schieben dann noch seufzend und mit leichter Abscheu in der Stimme hinterher, dass es eigentlich ein Luxus sei. Damit der Andere weiss: Hier weiss einer, was die Verhältnisse sind, und kann sich danach richten. Der Andere sagt dann, aber, aber, und berichtet davon, dass der 3er BMW für seine Tochter zum Abitur auch nur wegen der Sicherheit gekauft wurde, und verschweigt den grossen Motor und das Cabriodach.
Man lebt nicht über seine Verhältnisse, man geht höchstens aufgrund äusserer Zwänge Kompromisse ein, die einen eher belasten denn erfreuen. Man kann also diesen Kreisen nicht nachsagen, dass sie sich nicht bemühen, erst gar nicht den Eindruck entstehen zu lassen, sie könnten je um ihre Verhältnisse vergessen sein. Und letztlich könnten sie auch, wenn sie wollten. Eben weil sie auf der sicheren Seite sind, und seit ein paar Jahrzehnten durch alle Regierungen wenig getan wurde, um daran etwas zu ändern. Es ist nicht schwer, unterhalb der Verhältnisse zu lebem, wenn die Verhältnisse so blendend sind, wie sie sich hier nun mal darstellen. Es ist nur die Fortschreibung der Tradition, wen die Regierung hier alles so lässt, wie es ist. Warum dann aber alle pauschal beschuldigt werden, diese wichtigen Werte nicht mehr zu kennen, warum man diese idyllische Region mit dem sicher nicht problemfreien Rest in einen Topf wirft, sind Fragen, die sich die Chefstaatsdienerin, wenn sie schon für einen arbeiten möchte, vielleicht einmal stellen sollte. Aber bitte nicht am See. Da sind ohnehin schon zu viele Münchner und Ottobrunner unterwegs, die in ihren SUVs und BMWs tatsächlich so aussehen, als lebten sie über ihre Verhältnisse.