Eine weitere Ursache unserer Armut sind unsere neuen Bedürfnisse.
Voltaire, Der Mann mit den 40 Talern
Der aufheulende Motor. Das Gejohle und Gelächter, höhnisch und betrunken. Brutal reingewürgte Gänge, das Quietschen der Reifen, es ist was los da draussen, auf der Gasse vor dem Haus, in der finsteren Nacht der kleinen, dummen Stadt an der Donau, Männer, aufgeregt, grölend, die Freude der Vernichtung und des Schadens. Davor schon splitterndes Glas, jetzt Geschrei, Anfeuerung und der röhrende Wagen, der nicht davonrast, sondern vor dem Haus verweilt. Ich bin ohnehin ein Nachtmensch, ich bin noch wach, gehe zum Fenster, reisse es auf, schreie den Männerauflauf an, dass sie verschwinden sollen. Unten stehen ein paar typische Autos verwöhnter Kinder, sie pöbeln zurück, aber die Party ist vorbei, sie steigen ein, beim Losfahren des schon gehörten Autos, laut und böse, knackt es nochmal unter den Reifen, und dann rauschen sie weg, vielleicht zu einer anderen Party des Elitestudententreffens, das an diesem Abend seinen Abschluss findet Am nächsten Morgen gehe ich hinunter, um die Scherben wegzuräumen, und finde neben dem Müll in den Ritzen des Kopfsteinpflasters erst ein paar Glieder eines Uhrenarmbands, und dann an der Stelle, wo der Wagen heulte, eine in diesen Sohnkreisen recht beliebte, angeschrammelte Uhr, der hintere Deckel ist eingedrückt und die Lupe über dem Datumsfeld ist angesplittert, aber das Glas hat nicht mal einen Kratzer. Sie hat überlebt und läuft.
Sie läuft auch wieder, als sie nach einem halben Jahr vom Fundbüro zurück kommt. Es liesse sich trefflich darüber streiten, wem ich das verdanke; einem Sohn, der mit Werten nicht umzugehen versteht, einem Vater, der so einem Sohn keinen Respekt vor den Dingen nahe gebracht hat und ihn statt dessen in seinen schlechten Anlagen fördert, seinen Freunden, die ihn zu solchem Tun anregten, dem Fundamt, das sich nicht genug bemüht hat, den Besitzer ausfindig zu machen, dem Hersteller, der überlegte, wie man eine Uhr so stabil gestaltet, dass man auch mit dem Auto darüber fahren kann – aber ich denke, der eigentliche Held dieser Geschichte, dem diese Uhr, der Wunsch nach ihrem Besitz, die Herstellung und alle Begehrlichkeit zu verdanken ist, der Herr ist gerade im Alter von 82 Jahren von uns gegangen: Der aus dem Libanon stammende Neuerfinder der Uhr, Nicolas Hayek.
Denn, seien wir ehrlich: Niemand braucht heute noch eine Uhr. Die Verwaltung der Zeit war seit Jahrtausenden eine Aufgabe von Autoritäten und Herrschaften, der Privatbesitz von Zeitmessern galt noch im 18. Jahrhundert als purer Luxus, und selbst im frühen 20. Jahrhundert war eine gute Uhr eine Anschaffung für das Leben, auf die man monatelang sparen musste. Der Selbstbesitz einer Zeitmessung war keine Selbstverständlichkeit, es war eines der Rechte, das man sich erkämpfen musste, und so war die Uhr auch ein Zeichen von Selbstbestimmung, von der bürgerlichen Privatisierung einer Autorität. Heute ist die “Uhr” im Sinne von Zeitmessung dank der Digitalisierung aller Lebensbereiche nur noch eine Zusatzfunktion der Geräte: Radios, Fernseher, Computer, Mobiltelefone, Kameras, Herde, überall wird die Zeit zum Nullpreis angezeigt. Zeitmessung ist wertlos.
Dass es so ist, hat sich die Uhrenindustrie selbst zuzuschreiben. Entstand die Feinmechanik einer mechanischen Uhr noch in einem hochspezialisierten Handwerksbetrieb, dessen Leistungen und Qualitäten man nicht einfach kopieren konnte, änderte sich mit der Einführung der batteriebetrieben Quarzuhr alles. 1962 entwickelte der Schweizer Werkhersteller ETA das Kaliber Beta 21, sieben Jahre später brachte Seiko die erste Quarzuhr für den Massenmarkt, und 1972 kam die LCD-Anzeige hinzu. In nur zehn Jahren hatten sich Jahrhunderte der Handwerkskunst und Entwicklung überflüssig gemacht. Die Mechanik war allenfalls noch das nostalgische Anhängsel eines kleinen Zeitrechners am Arm, und die Präzision und Wartungsfreundlichkeit der neuen Uhren stellte alles bis dahin bekannte in den Schatten. In der Schweiz gingen die Uhrenfirmen reihenweise pleite, in Fernasien spritzte man Batterien millionenfach in Plastik.
Es wird Hayek nachgesagt, dass er in den frühen 80er Jahren den Begriff der “Schweizer Uhr” mit der modischen Swatch wiederbelebte und im Bewusstsein verankerte. Das scheint mir etwas zu banal zu sein; Hayek hat es geschafft, eine technische Realität, den gegen Null gehenden Wert der Zeitmessung, vom Wollen der Menschen abzulösen. Wer damals eine Swatch kaufte, wusste genau, dass er für eine Gerät mehr zahlte, als die Leistung des Geräts wert war. Und er kaufte den Gegenstand in einer Form, die vielleicht poppig wirkte, aber im Kern nichts anderes als die alte, Schweizer Armbanduhr war: Rund, mit drei Zeigern, eine Oyster in Plastik. Es blieb nicht dabei: Später gab es die Swatch auch mit einer wertlosen, Qualität vortäuschenden Metallkappe und höherem Preis, dann mit Datumsanzeige und einem höheren Preis, dann auch mit Stoppfunktion mit noch höherem Preis, und nach wiederum rund 10 Jahren baute Swatch, wieder zu einem höheren Preis, mechanische Werke ein. Hayek hat nicht die Uhr gerettet, er hat eine ganze Generation von der technischen Entwicklung ihrer Zeit entfremdet, indem er erklärte, dass diese Ignoranz die Entwicklung des Zeitgeistes ist.
Und so kommt es, dass Menschen heute für hoffnungslos veraltete, komplizierte und anfällige Technik unendlich viel mehr Geld auszugeben bereit sind, als für das, was technisch machbar ist – die kostenlose Zeitmessung eben. Und dieses Verhalten noch nicht mal hinterfragen, sondern Menschen nach ihren Uhren beurteilen, die, egal ob Yacht-Master oder Calatrava, historische Longines oder neue Blancpain, samt und sonders die rechnerdominierte Realität unserer Gegenwart, deren Zeit sie eher falsch und unzuverlässig mitmessen, ignorieren. Sie sind der Wunschtraum der Aufsteiger, Beschwichtiger der vernachlässigten Freundinnen, ein Symbol der Unabhängigkeit von der maschinenbestimmten Zeitmessung, die auch wieder so eine Autorität ist, die einem in das Leben pfuschen will – das alles wird in diese kleinen Metallkäste hineininterpretiert, ohne rationale Grundlage, aber mit jede Menge Selbstbetrug von genau der Sorte, aus der die Dünkel erwachsen, die einen letztlich sagen lassen: Ich schon – Du nicht. Meine Uhr hat nur 18.000 Halbschwingungen pro Stunde, Deine unbegrenzt viele, ich bin reich und Du bist ein technisch überlegener Grattler, Du handelst logisch und modern, und ich bekomme den Job.
Was Hayek meines Erachtens vor allem begriffen hat, war der Wunsch der Abgrenzung. Eine Generation konnte zum besseren Taschengeldpreis lernen, was es bedeutet, etwas zu besitzen, mit dem man auf Technidioten herabschauen konnte, die zuvor mit Sklaventaschenrechnern am Arm Eindruck schinden wollten. Zogen die Technidioten nach, kaufte man sich mit dem Metalldeckel, den Komplikationen und dem mechanischen Werk einfach empor in Regionen, in die anderen nicht mehr mit konnten. Als ich dann Ende der 80er Jahre Abitur machte, waren wir schon so verführt, dass jeder eine Rolex wollte. Mechanisch, natürlich, und in einem völlig altertümlichen Design, das damals schon Jahrzehnte auf dem Markt war, und am Arm aller geschäftsführenden Onkel mit Tennisambitionen baumelte.
Irgendwann ist man natürlich am Ende dieser Entwicklung und hat die Uhr wie alle anderen auch, man ist vielleicht an einer kostenpfichtigen Eliteuniversität, an der keiner mehr da ist, den man über eine Uhr ausgrenzen könnte. Jeder hat, jeder kann, jeder denkt so. Es gibt an der Spitze keinen Ausweg mehr nach oben, ab einem gewissen Punkt sind da nur noch Varianten, aber keine Unterschiede mehr. Der Götze, dem alle ohne Unterschied huldigen, ist nicht mehr heilig, und weil er nicht mehr heilig ist, erscheint er wertlos, so wertlos wie die Zeitmesser aller anderen, die in China gegossen werden, und die einzige Lösung des Problems ist die Selbstüberhöhung über den Götzen. Man trinkt sich Mut an, man will den anderen zeigen, wie wenig einem ihr Götze ist, man legt den Götzen auf die Strasse, startet den Wagen und fährt ihn unter dem Gejohle der Freunde über den Haufen, man bringt den Götzen um, man hat gezeigt, dass man über den anderen steht – und dann öffnet sich ein Fenster, einer droht mit der Polizei, sollte das nicht aufhören, und man fährt schnell weg, den vermutlich toten Götzen hinter sich lassend, Papa wird schon einen neuen kaufen, und alle anderen werden sich zuflüstern, das ist der, der mit seinem Sportwagen die Uhr plattgefahren hat.
Was noch lächerlicher als die Drittuhr dieser Marke ist, die gerade an meinem Arm hängt.