Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe. Hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!
Josef Stalin
Vor ein paar Wochen war in dieser Zeitung ein reizendes Stück aus der Wirtschaftsredaktion über die Ölpest im Golf von Mexiko zu lesen. Die Autoren sahen darin auch positive Effekte, denn dadurch würde der Mensch lernen und Fortschritte machen, um solche Katastrophen in Zukunft zu minimieren.
Den erwerbslosen Fischern und Hoteliers am Golf von Mexiko mag das vielleicht tröstlich erscheinen, aber historisch betrachtet sollte sich mittlerweile auch die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass Kriege nicht gesund und bereichernd sind. Eines der wenigen Beispiele, durch die Menschen aus Schaden wirklich klug geworden sind, ist der Übergang von Arsenbronze zu echter Bronze im am Ende der Kupferzeit. Vor rund 4000 Jahren begriff man, dass die Legierung von Kupfer mit Arsen zu Dämpfen führt, die einem die Wahl lassen: Entweder krepiert man daran, oder ersetzt Arsen zu Zinn. Ansonsten würde ich folgenden Reaktionsabfolgen bei Katastrophen annehmen: Ignorieren und leugnen, davonlaufen, zuerst mal andere krepieren lassen, nach deren mehr oder weniger gelungenen Auslöschung Lösung suchen, sich genetisch verändern. Leute, die glauben, Bohrlochunglücke könnten die Welt verbessern, sollten daher frühzeitig anfangen, sich an den Geschmack von Öl im Wasser zu gewöhnen.
Wer hingegen denkt, die Idee “andere krepieren lassen und davonlaufen” sei zynisch und der Menschenrasse nicht zum Ruhme gereichend – nun, der sollte mich in diesen Tagen nicht im offenen Wagen Richtung Berge begleiten. Denn es ist ja nicht so, dass man sich die Blösse geben würde, und die eigene, andere zurücklassende Haltung dergestalt niederträchtig zum Ausdruck bringen würde. Vielmehr ist es so, dass das schöne, alte Wort “Sommerfrische” eine Renaissance erlebt, selbst wenn sich gut 100 Jahre nach seinem Verschwinden von der alteuropäischen Bühne in Weltkriegen, Krisen und Massenbraterei in Spanien ein Bedeutungswandel eingestellt hat.
Denn im 19. Jahrhundert, am Ende der kleinen Eiszeit, war die Sommerfrische weniger Badeurlaub, denn vielmehr eine Kopie adligen Verhaltens durch reich gewordene Bürger. Musste der Adel tatsächlich auf das Land ziehen, um in der heissen Jahreszeit die Güter und Ernte zu betreuen, bevorzugte das Bürgertum die Faulenzerei, trug weisse Kleider und Anzüge und bewahrte mit Sonnenschirmen vornehme Blässe und Blasiertheit. Sommerfrische war Gesellschaft auf dem Lande, städtische Riten zwischen Wiesen und Feldern, gern in einem gesunden Klima oder nahe Heilquellen, aber kein Urlaub in dem Sinne, wie man ihn heute kennt. Es dauerte länger, zumeist mehrere Wochen oder Monate, und man dämmerte gemütlich zwischen dem Essen vor sich hin. Es war keine Reise zu Aktivitäten, sondern ein Umzug zum angenehmen Leben.
Was heute dagegen wieder bei den Nachfolgern dieser Kreisen Sommerfrische genannt wird, ist eine Antwort auf zwei Erscheinungen der Moderne: Die steigende Lebenserwartung der Menschen und der Klimawandel. Dank des Fortschritts leben die Menschen, gerade in besseren Kreisen, zumeist weit in den Zustand einer Gebrechlichkeit hinein, den sie vor 100 Jahren keinesfalls lange überlebt hätten. 1910 schaute man sich mit 75 nach dem Grab um, 2010 nach 30-Jährigen und nach einem offenen Drittwagen. 1910 dachte man in diesem Alter ans Vererben, 2010 hat man gerade erst ordentlich geerbt. Da geht noch was. Solange der Körper mitmacht. Und nicht zusammenbricht, weil der Fortschritt neben dem langen Leben auch die Klimaerwärmung gezeitigt hat und uns gerade wieder eine Hitzewelle beschert, in der alte Menschen schnell an ihre physischen Grenzen gelangen. 1910 starb man im Alter vor allem im Winter, 2010 stirbt man bevorzugt im Sommer, gerade in Hitzewellen wie jenen, die heute vor dem Fenster bösartig brüten. Dehydrierung, Schwindel, Stürze, Unbehagen, Hitzschlag – es sind die Extreme, die töten, schneller als der Rettungswagen und der medizinische Fortschritt, der nur mit Normalsituationen gut umgehen kann.
Und in diesen klimatischen Sommeranomalien kommt die Sommerfrische wieder ins Spiel. Der Unterschied zwischen Leben und Tod, zwischen Zusammenbruch und Wohlleben ist gar nicht so gross; 30 Grad in Bergesluft mag man noch ertragen, aber bei 37 Grad in einer stickigen Stadt wird es schlimm für alle, die einen labilen Kreislauf ihr eigen nennen. Zufälligerweise sind diese 7 Grad ziemlich genau der Unterschied zwischen dem Tegernsee und den Städten in Ostdeutschland. Positiv gesagt, kann man es dort im Sommer gut aushalten. Böse formuliert: Man lässt andere zum Sterben zurück. Das ist nichts Persönliches, nur Statistik. Mit jedem Grad mehr in der Stadt steigt die Totenziffer. Mit jedem Grad weniger am See geht es besser.
Es ist, wie schon erwähnt, eine bestechende Eigenschaft des Menschen, diesen kleinen Unterschied umzudeuten, ja geradezu als Literatur zu veredeln. Niemand wird den Beteiligten des Decamerone böse sein, wenn sie 10 Tage der Pest in Florenz für angenehme Gespräche auf einem Landgut entfliehen, während in ihrer Heimat die Mittellosen, weniger Begüterten wie die Fliegen krepieren. Alessandro Manzonis Verlobte, Jean Gionos Husar auf dem Dach: Stets sind das Verderben, die Hitze, der Untergang, die Krankheit in der Stadt, und die Rettung, das Glück und die Liebe auf dem Land. Gustav von Aschenbach, den während einer Choleraepedimie am heissen, fiebrigen Mittelmeer der “Tod in Venedig” ereilt, gilt dagegen als wenig weise, und wirkt als Mahnung gegen Städte im Sommer fort. Sein Erschaffer Thomas Mann bevorzugte übrigens auch die Sommerfrische am Tegernsee und liess sich – standesgemäss – in einer Sänfte auf den Hirschberg tragen (siehe der Berg mit dem Plateau oben links neben der Mitte im Bilde, zu dessen Füssen war das Sommerhaus der Familie Mann in den 20er Jahren). Niemand findet etwas dabei, wenn die einem den grossen Sterben anheim fallen, und die anderen nicht.
Es ist in Hitzewellen in den Städten wie früher in den Tagen der Sommerfrische, nur eben ohne Epidemie. Wer weiss, in 20, 25 Jahren, wenn der Tod mit der Hitze jeden Sommer an die Türen der alten Leute klopft und seinen Tribut fordert, wird man darin vielleicht die neue Pest sehen, oder mit etwas Zynismus auch die Annäherung der Alterspyramide an die Normalität. Rentenkassen werden im giftigem Sommerbrodem aufatmen, andere ihren Koffer packen und in die Berge fahren, wo es kühler und angenehmer ist. Sollte sogar der Tegernsee zu warm werden, sind weiter oben der Achensee und der Sylvensteinspeicher. Hautkrebs kann natürlich ein Problem werden, aber das vorzeitige, qualvolle Ersticken gibt es hier oben auf 750 Meter nicht mehr. Zu dumm für Europa und seine älteren Bewohner, dass es mehr Strand als Berge gibt. Man kann nicht alle retten. Nur die, die jederzeit hier wohnen können, ohne auf ausgebuchte Hotels achten zu müssen. Der Rest – nun, wieviele Romane gibt es über Leute, die qualvoll ersticken? – ist zumindest literarisch wenig ergiebig (allerdings, wer die Vorlieben des ZKs des deutschen Literaturbetriebs kennt..).
Unbefriedigend ist diese Trennung natürlich für alle Freunde der menschlichen Entwicklung, denn weder ist die Folge, dass man etwas über sein Fehlverhalten lernt und sich ändert, noch erwächst daraus eine evolutionäre Entwicklung hin zu einem auch im Alter hitzeresistenten Menschen. Es läuft auf die immer gleiche Ungleichheit auch im Tod hinaus; die einen können sich die Flucht von den reichen Äckern des Sensemanns leisten, die anderen nicht. Die einen können hoffen, dass das nächste Jahr besser wird und ihnen noch so manche Reisen erlaubt, die anderen können sich mit Wahrscheinlichkeitsrechnung unterhalten, und am Ende steht ein Versicherungsmathematiker, der seine Modelle anpasst und vielleicht für die Jüngeren Beitragssenkungen verspricht. Das wird die jungen Leute vorerst sicher freuen. Es ist alles nur Statistik.
Und schönes Wetter am Tegernsee, man versteht gar nicht, was die in Leipzig so jammern.