You can run, but you can’t hide
George W. Bush
Der wichtigste Akt der Befreiung des jungen Mannes von seiner Heimat und seiner Familie ist die erste eigene Wohnung, zumeist in einer fernen Universitätsstadt, wo er versucht, all das nachzuholen, was ihm die kleine, dumme Heimatstadt in ihrer satten Borniertheit verweigerte: Parties, sperrzeitfreie Nachtclubs, ruinös teure Kleidungsgeschäfte, und ein Studiengang, in dem erfeulicherweise keiner auf Anwesenheiten achtet, solange er nicht die Fächer belegt hatte, die in Zukunft hohes Einkommen, Karriere und ein Leben in geordneten Bahnen nach Vorstellung der späten Wirtschaftswunderzeit versprachen. Der darauf stets folgende Akt der Erkenntnis, doch nicht frei zu sein, ist der erste Besuch der Grossmutter in der ersten eigenen Wohnung, und wohl dem, dessen Anverwandte nicht vom alten Schlag, sondern tolerant, freizügig und offen für Neues sind. Ich hatte dieses Glück. Dachte ich. Und öffnete die Tür zu meiner gepflegten und funkelnden Wohnung in der Maxvorstadt.
Wie sich schnell herausstellte, kennt jede Freizügigkeit auch Grenzen, und diese Grenze war im Falle meiner Grossmutter die dreieinalb Meter breite Fensterfront, vor der sich Nächtens die hell erleuchteten Zimmer anderer Menschen wie ein Sternenteppich ausbreiteten. Die Fensterfront macht die Wohnung hell und freundlich bei Tags und, für einen Abkömmling des Westviertels, der damals nur den Blick auf Bäume, Wiesen und ferne Gehöfte kannte, in der Nacht zu einem Cinemascopeformat der Verlockungen einer Metropole. Es waren diese weiten Fenster, wegen derer ich nach langem Suchen und Betrachten dunkler Löcher der Müncher Immobilienabzocker genau diese Wohnung haben wollte. Offen und licht waren sie, wie mein Leben werden sollte, frei und ungehindert sollte der Blick schweifen, wie ich es mir für mich selbst versprochen hatte. Meine Grossmutter schaute sich kurz um und sagte: Du brauchst Vorhänge. Zwei Schals und einen Store.
Denn, so meine Grossmutter, es könnte hier ja jeder reinschauen, und das ginge so nicht. Alle Beteuerungen, ich würde für alle nicht vorzeigbaren Aktivitäten das Licht ausmachen, das Bett wäre tief genug unten, und die nächsten Nachbarn wären auch viel zu weit weg, um etwas zu erkennen, wurden nicht weiter beachtet. Schals und ein Store muss sein, sagte meine Grossmutter, und das Thema entwickelte sich zu einem dauerhaften und unnachgiebig geführten Diskurs über das richtige Leben, in seiner Zähigkeit nur übertroffen von der Frage nach Enkeln und der Vermeidung abzulehnender Verhütungsmittel, die dafür sorgten, dass so feine junge Männer wie ich nicht schnell eingefangen werden, wie es eigentlich nötig wäre, damit der Gang der Geschichte gesichert wäre. Schliesslich, so meine Grossmutter, wo sollen wir sonst hin mit all unserem Zeug? Meine Standardantwort – durchbringen, verputzen und in Schulden sterben – war nicht dazu geeignet, das Projekt meiner Verheiratung aufzugeben. Und wenn das schon nicht ging – vielleicht wollte ich zum Geburtstag nicht vielleicht einen Vorhang für meine Fenster? Oder zumindest einen Stor? Ist doch viel gemütlicher.
Das war vor zwanzig Jahren. Vorhänge (mit der Goldkante, man erinnert sich) waren der Stolz der Vorgängergenerationen, ein Symbol der Bürgerlichkeit, die nach Belieben damit die Umwelt ausschliessen kann. Vorhang zu, keiner sieht mehr etwas. Der Vorhang teilt die Welt in Drinnen und Draussen, er ist ein Instrument zur fein dosierbaren Privatheit. Von der Strasse aus sieht man allenfalls einen schwer fallenden Brokat oder sich leicht kräuselnde Seide, und kann überlegen, wer dort wohnt, und was unter dem hervorspitzenden Kronleuchter stattfindet. Beim Adel war der Vorhang noch ein Dekorelement der Innenräume. Bei den Bürgern wurde er zum Ausdruck von selbst bestimmter Privatheit, und bald auch der weiss gewaschene Stolz der guten Hausfrauen. Aber wer will und braucht das Verstecken und Verkriechen schon, wenn er in einer vollkommen anonymen Grossstadt lebt, neue Freundeskreise aufbauen muss, der Überlebenskampf in Bars und Clubs die Pfauen bevorzugt und die Mauerblümchen bald in die Provinz zurück zwingt, wo sie die Apotheke und Praxis der Eltern übernehmen und mit 27 Jahren die Konzertvereinsmitgliedschaft für den Rest des Lebens abschliessen. Niemand. Vorhänge waren etwas, das man allenfalls in der Staatsoper sah, und ansonsten mitsamt der verstaubten, aussterbenden Gardinengeschäfte ignorierte.
Manche errichten um diese, dem Neuen Bauen und dem technischen Fortschritt anfangs des Jahrhunderts geschuldete Ideologie der offenen Glasflächen immer noch Räumlichkeiten herum. Andere, wie ein Chefarzt in meiner Heimatstadt, liessen nach den ersten Erfahrungen mit Gewächshausgefühlen in ihre konstruktivistischen Gebilde mit offenen Glasfronten schnell Lamellen nachrüsten, wie man sie aus Büros und Banken kennt. Ich habe nach einigen Umzügen nun eine grosse Wohung im Haus, in dem meine Grossmutter lebte, und stand vor der Frage, ob ich bei der Renovierung die Eisen für die Befestigung der Vorhangstangen entfernen soll. Irgendwann, dachte ich, wird vielleicht jemand anderes einziehen, und der kann sie noch brauchen. Besser alte, solide Eisen in der Wand, über die Konsolen gestülpt werden, als gespannte Stahldrähte, und was man sonst heute benutzt, um aus spiessigen Vorhängen noch spiessigere Sadomasovergewaltigungen von Wohnraum unter Halogenspots zu veranstalten. Ohne Goldkante, aber mit Stahlseil. Das Grauen ändert nur seine Erscheinungsform, nicht aber sein Verderbnis. Das war vor vier Jahren.
In diesen vier Jahren kamen bessere Einrichtungszeitschriften auf die durchtriebene Idee, die an sich nicht ungern gesehenen Theatervorhänge in verkleinerten, aber immer noch üppigen Versionen auch im privaten Umfeld zu zeigen. Es kamen Quasten und Zurückhalter auf den Markt, schwere, satt fallende Stoffe, die ein Vermögen verschlangen, alte Musterbücher wurden gedruckt, und es sah überhaupt nicht mehr wie Häkelgardine in Rauchergrau und Tantenbeige aus. Üppig. Opulent. Sie sahen aus wie die Luxusartikel, die Vorhänge waren, bevor sie in die Hände der Kleinbürger gefallen sind. Opulente Kleider für Räume, Stoffskulpturen am Fenster, die all die Lamellen der Zahnarztpraxen und die langweilig hängenden Schals demütigen. Was meine Grossmutter bei mir nicht geschafft hat, gelingt der Stoffindustrie und der Werbung im Rückgriff auf grosse Zeiten von Prunk und Repräsentation; ein Rückgriff, der sicher mehr historische Legenden als Wirklichkeit enthält. Dann braucht es eigentlich nur noch einen knallheissen Sommer, und unerfreuliche Restaurierungsarbeiten mit Holzschutzlasur am Fenster gegen Mittag, und schon erinnert man sich an die Grossmutter, die damals sagte, dass es auch gut gegen Hitze im Sommer sei. Zumindest am Mittag wäre doch etwas Schatten fein.
Und da sind immer noch die Eisen in der Wand, auf denen die Konsolen stecken.
Es ist ein Elend mit den bürgerlichen Traditionen; sie sind wie die Gluthitze: Man kann vor ihnen davonlaufen, man kann sie ignorieren, man kann sie ablehnen, aber das alles ändert nichts an ihrer drückenden, unerbittlichen und unvermeidlichen Existenz. Und wenn man ihnen dann nach 20 Jahren doch zum Opfer fällt, wenn man einsieht, dass es seine Vorteile hat, zumindest in dieser heute ganz anderen Lebenssituation – hilft bei der Aufgabe lieb gewonnener Prinzipien das Wissen, dass man sie wenigstens für das Richtige, das Gute und historisch Korrekte der Tradition aufgegeben hat. Für Seide, Brokat und Kordeln, mit denen man Heerscharen von Wesiren oder Abweichler, die für den falschen Bundespräsidenten stimmen, erdrosseln könnte.
Für die Grandezza. Und nicht für die Landhausverschnitte an Stahlseilen, die von der Metropole frustrierte Mauerblümchen aufziehen, wenn sie nach Hause kommen und ein Nest für die Fortpflanzung ihrer mausgrauen Art planen.
(Der Verfasser bittet die Kommentatoren, von hämischen Bemerkungen über die letzte, von seiner Grossmutter noch zu schleifende Bastion Abstand zu nehmen. Vorhänge kann man einfach chemisch reinigen – Kinder, so hörte ich, sind da erheblich anspruchsvoller. Und öfter schmutzig, aber ohne Grandezza.)