Bitte verzeihen Sie die Verspätung. Der Verfasser musste sich vor dem Beitrag bekochen und stärken.
Oh, natürlich gibt es heute keine Zwangsheiraten mehr. Und natürlich werden Partnerwünsche der Kinder akzeptiert. Man hat auch mit Homosexualität zu leben gelernt, und die letzte Enterbung wegen falscher Berufswahl ist lange her. Wenn das heute noch vorkommt, dann nur durch die Hintertür einer jungen Partnerin des Erblassers, die so mit Geschenken überhäuft wird, damit anderen wenig anderes bleibt. Was dem Frankfurter vielleicht sein Verlag sein mag, ist in meiner Heimat die dauerhafte Umsiedlung auf die Kanaren. Aber die Zeiten der Einmischung und der Zwänge sind vorbei; gerade jener Zwänge, die das Leben in den besseren Vierteln so stark normieren, dass man gar nicht mehr zu fragen wagt. Verblieben sind die unausgesprochenen Verbote von Prostitution, Glücksspiel und Drogen, aber ansonsten ist man liberal. Und lässt den anderen leben, wie er will.
Solange ich nicht in den Garten gehe und Johannesbeeren zupfe. Die eine Hälfte esse ich so, wenn sie noch vom Sonnenlicht warm im Mund prickeln, die andere Hälfte stecke ich in eine Tüte. Und verkünde dann, sie mit nach Hause zu nehmen, dazu g’scheiden Quark zu tun, Zucker, etwas zerlaufene Butter, und fertig ist das Sommergericht. Nun ist hier fast niemand mehr, der nicht zustimmen würde, dass “der Bauch mir” gehört, wenn es um Abtreibungen geht; mein Bauch jedoch, der ist gar nicht in meiner Verfügungsgewalt. Diesem Bauch, sagt man mir, sollte ich nur Magerquark zuführen, keinen Zucker, da sei schon genug in den Beeren, und Butter, das ginge ja gar nicht, würde ich denn nicht an das Cholesterin denken? Ich habe bis heute nicht verstanden und verstehen wollen, was dieses Zeug ist, aber ich verstehe, wenn ich beeinflusst werden soll. Und beim Gewicht und bei der Leibesfülle ist alles noch wie früher.
Das muss gar nicht mit entsetzen Aufschreien an mich herangetragen werden: Frau D. vom Wochenmarkt macht das sehr viel subtiler, wenn sie mir, der ich meist recht spät komme, oft das ein oder andere Unverkaufte einfach so mitgibt, oder mir sehr ans Herz legt. Greift sie zur Trüffelbutter, ist alles bestens. Wachteleier und Himbeeren deuten auf vorbildliche Diät hin, der ein oder andere Pilz ist als neutral zu bewerten, wie auch anderes Gemüse. Doch wenn sie mir, wie jüngst, zwei Salatköpfe einpackt und sagt, die seien für die Vitamine, ahne ich, dass es an der Zeit ist, mal wieder den Leonhardstein zu erklimmen. Und, sollte ich scheitern, weniger zu essen. Dabei bin ich dezidiert nicht dick. Ich komme nur aus einem Stamm, dessen Männer ausweislich alter Bilder immer doppelkegelförmig mit dem grössten Umfang in der Mitte waren. Das ist normal. Alles, was darunter ist, ist relativ schlank bis dürr. So sehe ich das. In, wie die Briten so schön sagen, splendid isolation. Zu Beginn der Zwetschgendatschizeit, gleich nach dem Ende der Erdbeertörtchenzeit.
Und es ist wirklich erstaunlich, wie direkt und wenig freundlich Frauen die Frage des Körperfetts ansprechen. Meine These dazu ist, dass Frauen sich schon länger intern über solche Themen unterhalten und dabei jene Unmittelbarkeit erworben haben, die sich nun auch in Richtung der Männer Bahn bricht. Zu lange wurde das von Herrschaften als Nasenpuderraumgespräch abgetan, während sie selbst ächzend auf Konzertbestuhlungen sanken und erst wieder entröteten, wenn der Gürtel unter der Weste geöffnet war. Diäten werden auf Dauer langweilig und nervend, wenn sie von allen betrieben werden, und leichte, pummelige Opfer des eigenen Geschlechts fehlen, die man hinter nur leicht vorgehaltener Hand als mopsig bezeichnen kann. Neue Opfer zur Bedrückung mussten her, damit man andere leiden sehen konnte, wenn man selbst nach den Pralinen und mangelnder Selbstbeherrschung schlechte Laune hatte. Damit überwand der Zwang zur Magerkeit vermutlich die Geschlechtergrenze.
Wenn ich am Tegernsee heute einen fetten Mann sehen will, muss ich zum Dorfplatz von Gmund, wo eine Büste von Ludwig Erhardt an den prominentesten Bewohner erinnert. Am Strand, ein paar Meter weiter, habe ich kein Problem, Dutzende von extrem teuren Hochleistungsrädern zu finden, aber deren Besitzer im besten Alter für Bauchansätze sind ziemlich schlank. Und bleiben es auch. Der letzte dicke Mann, den ich in echt sah und identifizieren, war Journalist. Der vorletzte auch, sitzende Untätigkeit vor dem Rechner. Aber ansonsten sind die Voluminösen aus meinem Umfeld verschwunden. Andere Reservoirs, wie etwa die Führungsgremien der CSU, sind mager geworden. Nicht, dass sich Unterernährung unter Männern breit gemacht hätte. Aber man passt auf, oder hat jemanden, die auf einen aufpasst: Diejenige, die ab und an fallen lässt, dass jemand unmöglich aussieht, so dick, wie er oder sie ist. Die gleiche mitunter, die dem Rauchen nicht abschwören will, weil sie dann fett werden würde. Wir lernen: Lieber 20 Jahre früher hungrig an Lungenkrebs sterben, als 20 Jahre später wohlgenährt an
An dieser Stelle müsste ich jetzt erst mal recherchieren, wie die Krankheiten heissen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dem Wohlleben folgen, und damit meiner Laune abträglicher sind, als es durch meine Bezahlung hier zu rechtfertigen ist. Aber es gibt noch genug andere, neue Gewohnheiten: Der Abschied vom Bier und das kennerische Riechen an möglichst komplexen Weinen. Die seltsame Vorstellung vieler Restaurantbesucher, Nudeln müssten unter dem Begriff “al dente” hart und damit unfertig aus dem Wasser kommen – frisch gemachte Nudeln können nicht hart sein, und getrocknete Nudeln servierte man früher in Italien aus dem gleichen Grunde hart, aus dem man nördlich der Alpen den Haferbrei nicht zu weich kochte: Damit die Menschen in Zeiten des Mangels mehr zu kauen und damit das Gefühl von mehr Essen hatten. Heute auf dem Wochenmarkt fragte der Mann am Käsestand eine Kundin, ob es auch etwas mehr sein dürfte – es ging um läppische 20 Gramm Grana Padano. Nein, war die Antwort. Ihr Mann protestierte erfolglos. Und ich musste mich beherrschen, nicht vor ihren Augen ein Glas Marmelade – Kirsche-Mirabelle – aufzumachen, und es pur zu essen. Damit sie vielleicht den Ekel empfindet, den ich, Nachfahre von doppelkonischen, glücklichen Menschen, bei ausufernder Kalorienzählerei und dem Body-Mass-Index-Gerede, das dabei ist, dem Wetter als Thema den Rang abzulaufen hat, empfinde.
Es ist, da habe ich keine Zweifel, langfristig zum Glück nur eine vorübergehende Mode – um 1400 mochte man schlanke Menschen, um 1500 durfte man fett sein, die Schule von Fontainebleu wollte dürre Mädchen und Rubens runde Frauen, das späte Barock mochte es asketisch und das Rokoko voluminös, das Biedermeier hasste den Speck, der in den Gründerjahren wieder modern wurde, nur um im Jugendstil verteufelt zu werden, in den 20ern lehnte man Formen ab, die man in den 50ern bejubelte und in den 60ern verdammte, ein steter Kampf, hin und her, bis in unsere Zeit, in der es nicht mehr darum geht, sich über das Essen zu definieren, als vielmehr auch über das Wissen des Nichtessens und des nicht Essbaren. Jahrhunderte lang kam man in besseren Kreisen mit dem Irrglauben zurecht, der Körper enthalte vier Säfte, die im Gleichgewicht sein müssten. Heute kann man wissenschaftlich gesichert, was immer das heissen mag, anderen in Körpersäfte hineinreden, von denen sie noch nicht mal wissen, dass sie existieren. Auch das ist eine Mode – mein Pech, dass meine genetischen Anlagen und meine Nachlässigkeit so gar nicht zu den Vorschriften passen sollen. Wenn es zu schlimm wird, gebe ich vor, als moderne Ablasshandlung wegen der Sünde nicht eingehaltener Konventionen nächste Woche auf den Leonhardstein zu kraxeln.
Solang tue ich zwei Esslöffel Zucker auf die Johannesbeeren. Gehäuft. Und Quark. Nicht dieses Magerstufenzeug mit Quarkgeschmack. Mode ist ohnehin nicht mein Ding, und die klassische Form ist nun mal doppelkonisch. Zwei, drei Bankenkrisen und Nahrungsmittelpreisexplosionen später wird das auch mal wieder die neue Avantgarde.