Ja sag’n Sie selbst, ist das normal,
aus dem wird nie etwas, der bleibt a General
Georg Kreisler, Der General
Alles wird gut. Nach schwierigen Zeiten, so steht es unter dem Bild, werden die Künste nun wieder zu neuem Glanze gebracht, von Rechts schwebt Athena mit einem trompetenden Siegesengel heran, und wohlig räkeln sich die zuvor vermutlich leidenden Musen. Welche schweren Zeiten es sind, was den göttlichen Eingriff nötig macht, um die Damen zu päppeln, erfahren wir nicht. Wohl aber, wem dieser erfreuliche Umstand zu verdanken ist: Einem mit länglichen Superlativen eingeführten Herrscher namens Ludwig XIV, König von Frankreich. Na, dann ist ja alles gut.
Dieser Stich entsteht im letzten Lebensjahr von Ludwig XIV., und er vereint noch einmal den Glauben an die Grösse und Macht des Herrschers mit emsiger Propaganda im Auftrag des absolutistischen Systems. Die Realität sieht zu dieser Zeit anders aus; Frankreich ist durch den 11 Jahre andauernden und wenig erfolgreichen spanischen Erbfolgekrieg ausgeblutet und am Rande des finanziellen Zusammenbruchs. Fast 700.000 Soldaten mussten in dieser Zeit bezahlt und versorgt werden, und auch, wenn sich die Kriegsgräuel im Ausland abspielten, hungerten die Menschen in Frankreich. 1715 starb Ludwig, und die Bevölkerung feierte in den Strassen von Paris. Davon jedoch erzählt der Stich natürlich nichts, ausser der Erwähnung von unbestimmten “schwierigen Zeiten”. In ganz Europa und in den Kolonien krepierten Hunderttausende. Schwierige Zeiten eben. Aber alles wird jetzt schon gut werden.
Die Armeen sind in jener Zeit Sammelplatz fragwürdiger Elemente und zum Heeresdienst erpresster Menschen, deren Leben keinen Wert hat, und Arbeitgeber vieler Adliger, die sonst keine Aufgabe hatten. Kriege waren Arbeitsbeschaffungsmassnahmen, und es sollte noch etwas dauern, bis sich Widerstand gegen das Morden rührte. Aber während die heute peinlich wirkende Propaganda dieser Tage vergessen ist, und bei mir auch nur auf dem Klo hängt, erinnert man sich allseits gern an die Anklage gegen den Krieg: Mit dem “Candide” schuf Voltaire knapp 50 Jahre später einen Text, der gleich zu Beginn den Krieg in all seiner Abscheulichkeit vorführt. Voltaire ist, das liegt in der Natur von staatlich organisierten Schlächtereien, nicht der erste, der den Krieg diskreditiert, aber er ist derjenige, dessen Wort im aufkommenden bürgerlichen Zeitalter Gewicht hat, er ist derjenige, der sich damit auf die Seite der normalen Opfer stellt, und der sich nicht der Propaganda des siebenjährigen Krieges unterordnet, die sich seit Ludwig XIV nicht geändert hat. Es geht Voltaire schlicht darum, dass nicht einfach jeder Kriegsherr einmarschieren und Menschen schlachten, vergewaltigen und berauben darf.
Das klingt für uns heute selbstverständlich, aber für die Zeit um 1750 war es eine ziemliche Anmassung gegen die herrschenden Zustände. Wir empfinden heute Voltaires Haltung als die einzig Richtige, und die der meisten Adligen dieser Zeit als verbrecherisch. Wir empfinden so, weil sich das Bürgertum in Europa nach vielen Kriegen und Schlachten inzwischen zu den Maximen der Aufklärung durchgerungen hat. Und weil das so ist, druckt die Militärpropaganda keine Stiche mit Musen mehr, sondern verheimlicht jene Aspekte ihrer Tätigkeit, die sich seit den Zeiten Voltaires nur wenig verändert haben. Wenn man so will, passt sich die Propaganda den veränderten Herrschaftsstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft an, anstelle der Musen treten angebliche Schulen in Afghanistan und Demokratie im Irak, und so ist das bis heute: Schwierige Zeiten. Aber alles wird jetzt schon gut werden. Solange keiner stört und hinschaut und einen auf Voltaire macht.
Und zeigt, wie Hubschrauberpiloten arglose Zivilisten mit zynischen Sprüchen ohne Warnung niederschiessen. Und belegt, dass am Hindukusch, wo die Freiheit des Westens verteidigt wird, Todesschwadronen jenseits des Völkerrechts agieren. Oder Dokumente vorlegt, die aufzeigen, dass angeblich von Taliban getötete Kanadier amerikanischen Soldaten zum Opfer gefallen sind. “previously hidden behind a screen of misinformation” nennt das der Guardian reichlich dezent. Dieser screen of misinformation ist die moderne Form des allegorischen Kupferstichs. Schwierige Zeiten, wenn man das plötzlich erklären muss. Dann liest man Beschwichtigendes, Beteuerungen, so mancher Medienvertreter, der nie etwas dergleichen geleistet hat, mäkelt auch an dem Material herum, und andere halten Politikern Diktaphone vor die Münder, aus denen Behauptungen komnmen, da sei nichts Neues dabei. Deshalb wird auch gegen die Hubschrauberbesatzung nicht ermittelt. Nur der Informant, der den Film an Wikileaks weitergegeben hat, der wird festgenommen.
Nun ist es ein Leichtes, die Website Wikileaks und ihre Betreiber zu Helden der Aufklärung zu machen, und es besteht auch kein begründeter Zweifel, dass man sie dereinst in eine Reihe mit den Stichen von Callot, den Zeichnungen von Goya und den Bildern von Robert Capa sehen wird – in Jahrzehnten, wenn die Taten ungesühnt blieben und die Verfolgung eine historische Anekdote ist. Die wahrhaft unangenehme Überlegung aber ist die Frage, was für eine Gesellschafts- und Herrschaftsform wir haben, wenn es eine Organisation wie Wikileaks braucht, um den Militärs Grenzen zu setzen, und die Gesellschaft ein Stück weit ehrlich zu informieren. Die Frage ist aus dem bürgerlichen Selbstverständnis heraus auch keine unbedeutende; schliesslich waren es im letzten Jahrhundert zwei mit enorm vielen Lügen geführte Weltkriege und Niederlagen, die die Militärs aus den Machtpositionen verdrängten, und – zurecht oder nicht, ist eine andere Frage – den Weg frei machten für die Zivilgesellschaft. Eine Zivilgesellschaft, deren politische Vertreter heute erst wieder Wikileaks brauchen, um sich über einen Krieg zu informieren, in den sie ihre Soldaten schicken, weil ihnen Informationen vorenthalten werden. Das ist nicht nur paradox oder eine schwierige Zeit. Das sind Grenzen der demokratisch legitimierten Macht an einem System, das sich offensichtlich nicht darum schert, solange es sein Tun gut genug aus der Debatte halten kann.
So gesehen ist Wikileaks nicht im Mindesten eine Ansammlung obskurer Hacker mit Drohpotential, oder Helfer von Terroristen, oder was sonst noch von gewissen Medienvertretern verbreitet wird, sondern eine zutiefst bürgerliche Angelegenheit der Selbstverteidigung, wie der Steuerberater gegenüber dem Finanzamt und der Anwalt gegenüber dem schlechten Berater in der Bank. Die Dokumente, die Wikileaks bringt, sind nicht die Dokumente “des Militärs” oder “der Regierung”, es sind in Demokratien die Dokumente des Volkes. Wenn es dem Volk nicht gefällt, ist es nicht das Problem des Volkes, sondern das Problem derjenigen, die ihm dienen. Solange es noch eine Demokratie ist, und nicht wieder die Diktatur ostelbischer oder mittelwestlicher Junker- und Republikanergeneräle und ihrer aufgepappten Ministerallegorien auf dünnem Papier.
Der Fortbestand von Wikileaks ist für den Bürger eine ähnlich erfreuliche Angelegenheit wie die Existenz von Steuerhinterzieher-CDs aus der Schweiz: Es kann sich niemand mehr sicher sein, ob er mit seinen Taten nicht morgen schon auffliegt. Ob seine Berichte nicht schon längst, auf CDs kopiert, in Richtung Wikileaks unterwegs sind. Die andere Seite hat nur zwei Möglichkeiten: Sie vertuscht besser und verursacht eventuell einen noch grösseren Skandal, wenn das Material letztlich doch bei Wikileaks auftaucht. Oder sie versucht, sich so regelkonform zu verhalten, dass Öffentlichkeit nicht schadet. Es sind schwierige Entscheidungen in schwierigen Zeiten, aber wenn Wikileaks Bestand hat, wird es für die Zivilgesellschaft schon gut werden.