Mit einer merkwürdig wölfischen Heimlichkeit ging sie um die Ecke herum.
D. H. Lawrence, Die Frau, die davonritt
Man nennt es allgemein “die Neuzeit” oder “die Moderne” und versucht damit auszudrücken, dass die Epoche von 1900 bis zu unseren Tagen irgendwie eine Einheit wäre. Aber fassungslos und entsetzt stünde ein Kurgast der k.u.k. Monarchie in Meran heute vor dem Treiben auf der früher mondänen Kurpromenade von Meran. Nicht nur, dass sich die Menschen nicht drei bis fünf mal am Tag umziehen, keine Hüte mehr tragen und jede Menge nacktes Fleisch herzeigen. Auch die Umgangsformen, oder besser, die Umgangsunformen würden ihn erschüttert zurücklassen. Genauso wäre der heutige Tourist vollkommen und in jeder Hinsicht überfordert von den Regeln, Konventionen und Selbstverständlichkeiten der Kurgäste jener Tage.
Das tut man nicht, würden die Blicke im Cafe sagen, wenn sich der Oberkörper beim Essen zum Tisch neigt. Das tut man nicht, würde man denken, wenn er sich ohne ein Wort des Bedauerns an anderen vorbeiquetscht. Das tut man nicht, hiesse es, würde er essen und gleichzeitig reden oder die Hand beim Gähnen nicht vorhalten. Man tut es eigentlich auch heute noch nicht, aber die Zahl derer, die noch so empfinden, ist verschwindend klein, und die Sportsandalenträger werden nicht mehr die Freundlichkeit haben, ihr Verhalten zu überdenken: Sie sind die Sieger der Gegenwart, und die Promenade von Meran ist ihr besetztes Territorium. Fehlt nur noch ein Google Streetview Opel und ein offenen Maules dönerkauernder Schnüffler am Steuer.
Allenfalls dünne Traditionsfasern, zarte Gespinste reichen von der Gegenwart zurück in jene Zeiten des Reisens, die mit der Veränderung des Aufenthaltsortes keinen grundlegenden Wechsel im Betragen mit sich brachte. Die Gesellschaften an den Kurorten rückten noch näher zusammen, waren noch mehr unter sich, sassen sich in den Cafes und Restaurants noch näher als daheim. Man konnte gar nicht anders. Man musste auf sich und sein Betragen achten. Man wollte keine falschen Eindrücke hinterlassen. Und manchmal gibt es auch heute im Urlaub noch gewisse Verhaltensweisen, die vielleicht unbemerkt bleiben, aber dennoch sagen: Man denke nichts Schlechtes.
Natürlich wird heute keiner mehr verlangen, dass man am Tag fünf verschiedene Anzüge ausführt, und so ähnlich verhält es sich auch mit den Betten nach dem Aufstehen. Zimmermädchen – und die sind in dem Hotel, in dem ich verweile, tatsächlich noch vorhanden und nicht aus dem Ostblock stammende Saisonarbeiterinnen – werden sicher nicht sinnierend vor dem zerwühlten Bettzeug stehen und sich überlegen, wie es in diese Lage kam. Wer sich dort wie gewälzt hat, welche Nähe sich in den Falten der Laken ausdrückt, ob der Gast nach den Strapazen des Einkaufs schnell eingeschlafen ist, oder vielleicht die Grundlage zu einer guten Ehe, oder dem Brechen einer anderen Ehe gelegt wurde.
Schliesslich leben wir nicht mehr um 1900, als Hotels aufpassen mussten, dass sich keine unverheirateten Paare einschlichen und dem Haus Unehre machten. Auch gibt es keine Kurzeitungen mehr, die auf den Klatsch der Zimmermädchen als Informationsquelle angewiesen wären. Das Aufräumen des Bettes ist eine normale Dienstleistungstätigkeit, die schnell während des Frühstücks vollbracht wird, und die einzige Aufmerksamkeit gilt dem Geräusch des Schlüssels im Schloss, das von der Abwesenheit der Gäste kündet. Zumal: Auf dem laufenden Rechner fänden sich noch ganz andere Informationen, als sich im Kaffeesatz der Laken entdecken liessen.
Und dennoch. Da ist etwas – die Erziehung, die Sitte, der Anstand – das es manchen unmöglich erscheinen lässt, das Zimmer einfach so hinter sich zu lassen. Wie bei der Steuerhinterziehung und dem Ehebruch treibt “etwas” wohlanständige Menschen dazu, die Spuren aller nicht- und teilöffentlichen Handlungen zu verwischen, sie quasi ungeschehen zu machen. Man ahnt es in der Schweiz, wenn Deutsche nach dem Tanken keine Quittung haben wollen, man kennt es, wenn der brave Kombi vor dem Haus stehen bleiben darf, und der Ferrari in der Garage verschwindet, wenn man sich zufällig in einem sehr guten Restaurant ein paar Städte weiter trifft und erst dort in einer Weise bestellt wird, die man daheim eher ablehnen würde.
Und in diese Kategorie bürgerlichen Verhaltens, als kostengünstiger und immer möglicher Einstieg in das richtige Benehmen bei falschem, oder auch nur falsch interpretierbarem Verhalten, darf dann auch das Aufräumen des Bettes gelten. Es ist eine sinnfreie Tätigkeit, denn jedes Zimmermädchen, das auf sich hält, wird die künstlich geschaffene Ordnung wieder zerstören, alles wieder auseinandernehmen und neu – und vermutlich noch besser, gerader und glatter – zusammenfügen, sauber gestrichene Laken abziehen, zusammenknuddeln und der Wäsche zuführen. Wie so oft im bürgerlichen Dasein gilt eine Tätogkeit nicht dem. Was man ist, sondern dem, von dem man möchte, dass andere es so sehen. Und wenn es “nur” das gelangweilte Zimmermädchen ist.
Oder der – Männer sind nun mal Männer – etwas legere Mitreisende, der an solchen Feinheiten erkennen kann, dass es die Richtige ist, falls er in Sachen der Reisenden und Bettglattstreichenden ernsthafte Absichten hat. Es gibt da im Übrigen schlimmere Martern aller Art; als ich klein war und mit einigen Familien der Stadt zum Skifahren fuhr, mussten wir Kinder und Männer leicht genervt eine halbe Stunde vor der Tür warten, bis die saubersten aller Mütter die an sich tadellosen Zimmer mit eigens eingepacktem Sagrotan nachgereinigt hatten. Das ist noch die ganz alte Art gewesen: Dem Zimmermädchen, den Männern und vor allem den gerne dreckigen und im weiteren Verlauf des Urlaubs auch blutigen Kindern – wozu Piste, wenn da ein Bergwald ist – gleich zu Beginn zu zeigen, dass die Ansprüche des Gastes mindestens so hoch wie die des Hauses sind. Das glatte Bett ist da nur eine kleine Aufmerksamkeit, eine Feststellung, dass die Reisende nicht als etwas anderes gesehen werden möchte, als das, was sie ist.
Es ist nur ein Ritus, ein Akt der Selbstachtung, etwas, das man letztlich nicht für andere, sondern für sich selbst tut. So, wie man alleine nicht aus dem Topf isst, sondern das gute Porzellan nimmt, wie man versucht, andere mit seiner Existenz nicht zu belästigen oder zu nahe zu treten, wie man Distanzen wahrt, wo es nötig scheint, wie man etwas tut, weil es nach eigener Auffassung richtig und angemessen ist, und nicht nur opportun.
Ob andere das goutieren? Für das Zimmermädchen gibt es vermutlich eine grosse Spanne zwischen dem verschmutzten Loch eines Eimersäufers, der Nachlässigkeit von einer bestimmten Sorte Pauschaltouristen, die den Dreck hinterlassen, weil sie für seine Beseitigung mitbezahlt haben, meinem privaten Silberkannen- und Reiseporzellanchaos (Mein KPM! Prego, Signiora, ich räume das schon beiseite) und der schlichten Sauberkeit, die nichts verrät und doch vieles sagt. Es ist nur eine Kleinigkeit, eine Minute vielleicht, nichts von Bedeutung. Aber durchaus mit Haltung.