Er nahm mich zur Seite, als wir zu den Innenhöfen hinabstiegen
Abbé Prévost, Manon Lescaut
Es gibt in Meran so etwas wie eine Balkonkultur, die Besuchern ins Auge sticht. Sehr viele Privatwohnungen haben also eine Art Freifläche, eine kleine Bühne am Haus ohne einen besonderen Blick, wenn man davon absieht, dass der Blick auf eine der reizendsten Städte Europas trifft. Diese Kultur hat eine lange Tradition. Es gehört in besseren Kreisen dazu, einen sichtbaren Platz in der Öffentlichkeit zu haben, von dem aus man sieht und, je nach Position, auch gesehen werden möchte. Was in den Häusern ist, vermag man nicht zu sagen, aber der Balkon ist eine kleine Bühne der Offenheit, die bespielt werden will.
Das mag banal klingen, zumal die Balkone in Meran durchgehend schon, sauber und aufgeräumt sind. Niemand käme auf die Idee, hier würde ein trister Sozialporno aufgeführt, wie man das oft bei den Freiluftmülllagern vermuten kann, die schlechtere Viertel in deutschen Städten verunzieren, idealtypisch hier: Der Reichshauptslum Berlin. Es sind Balkone, wie Kinder sie zeichnen, oft mit Pfanzen versehen und spielerisch anmutig. Man gewöhnt sich schnell an sie. Und man vermisst sie sehr, wenn man sie nicht hat. Der Balkon ist die kleine Landlust der Städter, die Gartenlaube im Urbanen, das Nest und darüber der Himmel, in den die Gedanken fliegen.
Banal – ist der Balkon dennoch nicht. Es ginge auch ohne. Moderne Herrschaftsarchitektur verzichtet meistens auf Balkone, denn Herrschaft wird heute nicht mehr mit Zuneigung zur Öffentlichkeit demonstriert, sondern mit verspiegelten Glasfronten, Beton, gebauter Anonymität, die den Menschen davor einsam, unwissend und fremd erscheinen lassen soll. In einer aufgeklärten Welt versuchen es Konzerne und Behörden nicht mehr mit Gott und höheren Mächten, sondern mit Undurchsichtigkeit, Distanz, Schweigen und Ignoranz gegenüber der Umgebung. Es gibt in Meran auch Häuser des Historismus, die mit damaligen Mitteln Burgen der Obrigkeit sein wollten – heute kann man darüber allenfalls lächeln, und schon damals meinte man es nicht wirklich ernst. Man beschoss niemand über die nachgemachten Zinnen. Aber die Balkone nutzte man natürlich entsprechend dem Zweck.
Nun sind die Balkone, die hier zu sehen sind, fast immer so prominent gebaut, dass man sie auch wirklich sehen kann, und teilweise in einer Art verziert, die weniger den Besitzer als vielmehr den Vorbeigehenden ansprechen soll. Sie sagen nicht: Nur für Besitzer. Oder: Du hast hier nichts verloren. Oder: Verschwinde von hier. Sie bitten im Gegenteil darum, beachtet zu werden, angeschaut, geschätzt, mit Blicken liebkost zu werden. Sie sind nicht nur eine Hauserweiterung, sondern eine Art freundlicher Gruss an den Passanten, eine Einladung zum Anhalten, Durchatmen und zu sagen: Ach ja. Wenn ich einmal in Rente bin. Dann vielleicht. Dort oben sitzen und im Winter in der nachgeschickten Heimatzeitung die Todesanzeigen der anderen lesen, während hier die Palmen stehen. Das wäre schon nett. Und am Morgen den Bäckerjungen grüssen, und den Enkeln zu winken, wenn sie wieder zurück müssen.
Die Gedankenspiele rund um Balkone haben meist mit einem Wechsel von Privatheit und Öffentlichkeit zu tun, oft auch verweben sich darin bei ihrem Besitzer beide Aspekte: Dass man eine Privatheit öffentlich zeigt, die vorzüglich zu diesem Ort passt. Auf dem Balkon ruht man sich aus, man liest ein Buch oder macht ein überlanges Frühstück. Es ist eine Idylle, an der Betrachter teilhaben können, vielleicht sogar grüssen oder ein freundliches Wort wechseln. Alles, was das Leben unschön und hart macht, hat hier nichts verloren. Sie erzählen die Geschichte vom angenehmen Dasein. Und davon, dass sich die besseren Kreise, Bürger, “Spiessbürger”, wie manche balkonlose Mieter schäbiger Kaschemmen in Berlin mit Vorliebe für Schnüffelprogramme vielleicht sagen, nichts gegen Öffentlichkeit haben, sondern durchaus damit umgehen können. Die Balkonöffentlichkeit ist eine, die man, angefangen von der Bepflanzung über die Einrichtung bis zur eigenen Tätigkeit, selbst bestimmen kann. Es herrscht ein Gleichgewicht zwischen Betrachter und Balkonbesitzer, beide lassen sich auf diesen Umgang miteinander ein, und es schadet keinem. Da sitzt, da steht ein Mensch.
Und dann rollt an diesem stillen Pakt eine Verkehrsbehinderung namens “Opel” vorbei, oben drauf sind Kameras und drinnen allerlei Technik, von der nicht mal die Firma Google selbst angeblich wusste, dass damit auch illegal WLAN-Daten gespeichert wurden. Irgendwo in Kalifornien steht ein Gebäude mit Glaswänden, Beton und vielen Menschen, die davon leben, dass sie anderen Werbung aufdrücken, und um so mehr Geld verdienen, je mehr Flächen sie dafür haben. Das Bild vom Haus, vom Garten und vom Balkon ist so eine Fläche, und alles, was der Besitzer in die Kommunikation mit der Öffentlichkeit hineingesteckt hat, wird nun zum Lockvogel für die Geschäfte der Firma Google. Der Opel grüsst nicht, er lächelt nicht, er rollt und nimmt unterschiedslos alles auf, was da ist. Er hat keinen Respekt und keine Zuneigung, sondern eine Aufgabe. Niemand in Kalifornien hat ein Interesse am Balkon, am radfahrenden Hund mit seinem Blumenkorb, an den Zinnen, oder Bedauern wegen des Leerstandes der kleinen Burg im Gebüsch. Sie haben Interesse an der Verwertung.
Das ist keine Sache von Analog und Digital, von Internet oder Realität, sondern in erster Linie von Anstand und Respekt, oder besser: Dem vollkommenen Fehlen dieser Tugenden. Die Freiheit der Öffentlichkeit, die sich das Bürgertum über Jahrhunderte in seinen Orten von der Obrigkeit erkämpfen musste – glaube bitte keiner, in der mittelalterlichen Stadt hätte sich jeder frei bewegen können – wurde sicher nicht konzipiert, damit eine kalifornische Firma Opels mit Kameras herumschickt, um diese Öffentlichkeit für sich zu vermarkten. Die Idee der Öffentlichkeit leitet sich von der Allmende, dem Gedanken des Gemeinschaftsgutes ab, für die aber auch jeder etwas zu tun hat. Was tut die kalifornische Firma Google nochmal fürdie Öffentlichkeit? Sich in der Allmende wie eine Obrigkeit benehmen, war schon immer Anlass für Bürger, zur Mistgabel und zum Hammer zu greifen. Dass man das in Amerika und in versifften Wohnlagen um die Müllplätze Berlins herum und deren Dependance in Düsseldorf nicht versteht, überrascht nicht. Nur sollten sie dann auch nicht von den ablehnenden Reaktionen überrascht sein.
Oder gar behaupten, die Bürger hätten Angst vor der Öffentlichkeit, würden sich verstecken und dem Recht aller entziehen, sich anzuschauen, was sie so tun, haben und wohnen. Man kann ohne ein böses Wort, von Mensch zu Mensch, jederzeit kommen und Balkone und ihre Bewohner betrachten, Rückschlüsse ziehen und sich Gedanken über die Hausherren machen. Das ist Öffentlichkeit, Kontakt, auch Konversation, davon lebt die Gesellschaft, und schön wäre es, wenn auch am Abend, wie früher einmal, die Gespräche von Balkon zu Balkon fliegen, anstelle des blauen Irrlichterns der TV-Geräte, die von Mord und seichter Unterhaltung künden. Von Streetview lebt Google, leben angeschlossene Werber und pickelgesichtige Chickendöneresser in Berlin, die glauben, die Verknüpfung von Orten und Daten sei “digitale Öffentlichkeit” und “neues Herrschaftswissen”, aber niemand lebt davon, dem man ernsthaft vorgestellt werden möchte. So ist das nun mal in bürgerlichen Gesellschaften: Kein Respekt, kein Anstand, kein Benehmen – keine Nettigkeiten. Keine Anerkennung. Kein guter Ruf.
Das steht so in keiner Suchmaschine und nicht bei Wikipedia, aber so funktioniert das analoge Leben. Die Überheblichkeit der Firma, die ihre Rücksichtslosigkeit feiernden, in die Glotze gezerrten “Experten” des Netzes machen das nicht besser. Im Gegenteil, der Feind bekommt ein Gesicht, und es ist hässlich, fett, hat eine fragwürdige Körperhygiene und nichts Ordentliches zum Anziehen. Es mag öffentlich sein, was da geboten wird, aber das Bürgertum hat nun mal nach Jahrhunderten des Kampfes seinen eigenen, bequemen und angenehmen Begriff der Öffentlichkeit.
Und seine kurz gehaltenen Politiker, die genau wissen, dass Google in Kalifornien kein Wähler und auch kein spendender Atomkraftwerkbetreiber ist.