Ich verstand keine Silbe von dem, was sie sagten, aber es ergriff mich doch.
Bernhard Kellermann, Ein Spaziergang in Japan
So schnell hat uns die Krise wieder: Mag auch das deutsche Bruttoinlandsprodukt steigen und der bayerische Wähler gar nicht merken, was seine Landesbank über Töchter für Geldtransaktionen mit absonderlichen Gestalten auf dem Balkan tätigte, so vermelden doch die amerikanischen Hausmarktbeobachter, dass es schrecklich um die Immobilien in den von China abhängigen Protektoratsgebieten steht. Derweilen ist die Arbeitslosigkeit in Amerika hoch und das Einkommen niedrig, die giftigen Papiere bleiben giftig und der Staat macht neueste Schulden, kurz: Es ist ein Elend, das sich über kurze oder lange Positionen hier auch in Deutschland wieder uneingeladen zum Tee anmeldet. Schnell möchte man das Vermögen verstecken, damit es dem Elend nicht in die gierigen Pratzen fällt, und nach den Debakeln mit Gold und Immobilien in den deutschen Slumregionen mag sich mancher denken: Ich investiere in Bleibendes, das mir keiner nehmen kann – in Bildung. In meinen Kopf.
Das ist, verglichen etwa mit Völlerei, sehr lobenswert, denn Bildung gilt als positiv, richtig und in gewissen sozialen Schichten auch als unverzichtbar. Ich selbst nicke zu solchen Einlassungen reflexhaft und ermutigend, und verweise gern auf meine eigenen Bemühungen, mehr als die World of Interiors zu lesen, wenn ich am Tegernsee auf meiner Terrasse liege. Aber dann fällt mir ein, dass es in ein und demselben Land und zu ein und derselben Zeit arbeitslose Akademiker und bezahlte Kolumnisten bei Spiegel Online gibt. Es gibt ausgebildete Musiker ohne Engagement und den Springerkonzern. Es gibt Werbetreibende, die in Restaurants nicht die Abfalleimer durchwühlen müssen, und Studienkollegen, die sich eine halbe Stelle eines befristeten Vertrages teilen. Vielleicht nicke ich zu reflexhaft.
Dieses Wochenende war eine Bekannte zu Besuch, die den Wunsch äusserte, mit mir eine Radtour über die Juraanhöhen zu unternehmen, über Gefälle in Täler zu schiessen und kurvige Anstiege zu erklimmen. Rennräder sind hier genug vorhanden, aber es mangelt mir an Helmen. Also suchte ich ein Fachgeschäft auf, um eine passende, sichere und notfalls kopfrettende Bedeckung zu erstehen. Jahrelang hat sie studiert und gelernt, Erfahrungen gesammelt und viel gelesen: All das steckt in ihrem hübschen Kopf. Ein Investitionsgut, so teuer wie eine gute Wohnung am Tegernsee. Da sollten einem ein paar Euro zur Absicherung nicht zu viel sein. Also her mit dem guten Modell, und sich gewundert über jenen Herrn, der für seine Dame einen Helm suchte, der vielleicht 10 Euro weniger kostet. Denn wenn man es schon bei der Ausstattung des Rades krachen lässt, kann man bei der Ausstattung des Kopfes ein wenig sparen.
Diese Vorstellung ist so ganz falsch nicht, denn Bildung hat in jedem Fall die unerfreuliche Eigenschaft, mit dem Ableben ihres Besitzers restlos zu verschwinden. Dem Besitzer kann es egal sein, aber die Nachkommenschaft hätte vielleicht doch lieber still und andachtsvoll die Patek eingeschoben und die Tafelpapiere in der Schweiz verkauft. Alle gelesenen Bücher, alle Ausstellungen, jeder Opernbesuch und Städtereisen ohne Ausnahme: Weg, ausgelöscht, nicht einmal Staub und Asche bleiben zurück. Es ist unabänderlich, nichts wird es je aufhalten, sei es nun durch den banalen Tod oder seinen schrecklichen Vetter, die Demenz noch zu Lebzeiten, die alle Beteiligte nicht die Banalität des Daseins, sondern auch die Nichtigkeit der Bildung vor Augen führt. Natürlich kann man sich davor flüchten, das Wissen niederschreiben und es weitergeben, aber auch dann braucht es wieder einen, der bereit ist, es aufzunehmen, und von neuem den Weg ins Vergessen anzutreten.
Und der Willige ist gar nicht so einfach zu finden, denn Wissen und Bildung strengen nicht nur an, sie veralten auch. Es mag nicht so schnell gehen wie bei der Erinnerung an die Viertplatzierte einer Fernsehdemütigung, nicht jedes gelesene Buch ist so banal und zurecht Anlass zur Verdrängung wie all die Versager, die den Mitteroman schlechthin schreiben wollen – wer ausser Slumbewohnern interessiert sich schon für die immer gleichen Slumprobleme? Aber die schiere Menge der Bildung, die aus der Gegenwart hereinbricht, schwemmt das alte Wissen weg in die Irrelevanz. Bürgers Schutzschild und kleinster gemeinsamer Bildungsnenner ist der Kanon dessen, was jeder kennen sollte, aber das macht alle Gruppenmitglieder lediglich gleich. Zum Nachweis von Bildung gehören nun mal weniger Gebildete, die den Glanz der überlegenen Geistesschätze mal neidvoll, mal begeistert anerkennen müssen. Man entgeht nur schwerlich der Pflicht, zumindest in einem Teilbereich ohne Stottern und Nachdenken Dinge sagen zu können, die dank anderen nicht geläufigen Fachtermini unverständlich und deshalb plausibel klingen.
Hier vom deutschen Feuilleton lernen heisst jedoch nur schal siegen lernen, denn Formulierungen wie “Wagner schrieb ja in den Wesendonkbriefen” und andere Programmhefteinbildungen kommen nur begrenzt gut an. Nicht nur das Wissen, auch die Rezeption hat sich geändert: Man möchte sich nicht mehr demütigen lassen. Eine Verwertung im Sinne einer geldwerten Rendite ist ohnehin nicht zu erwarten. Ganz im Gegenteil: Neue Bücher und ihre Schränke, Reisen und Unterkünfte, Konzerte und neue Abendkleider wollen auch bezahlt werden, denn Bildung braucht Gelegenheiten, um hell wie die Kerze in der Finsternis der Bestsellerlisten zu erstrahlen. Oder…
Das obige Ex Libris klebt in einem Buch, das ich am Sonntag aus einer Kiste auf dem Antikmarkt zog und kaufte. Es ist nicht irgendein Buch, sondern ein wunderbares Beispiel für die Sinnlosigkeit dieses ebenso edlen wie sinnlosen Bildungsbestrebens: “Ein Spaziergang durch Japan” von Bernhard Kellermann, zuerst erschienen 1910, hier die dritte Auflage von 1920. Kellermann war seinerzeit einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller, und das Buch erzählt Kluges und Wissenswertes über den fernen Osten in einem angenehmen Plauderton. Heute ist Kellermann trotz seiner früheren Popularität weitgehend vergessen. Die Besitzerin hat das Werk damals noch mit einem exzentrischen Privateinband versehen lassen, ein Zeichen echter Wertschätzung, könnte man meinen, und hätte sie es gelesen, würde sie heute vielleicht noch sehr fremdartige Dinge von einem Japan erzählen können, das nichts, gar nichts mit dem krisengeschüttelten Land der Gegenwart zu tun hat. Verständnislos würde man sie anlächeln und das Thema wechseln. Sie hat es jedoch nicht getan, nicht ihre Belesenheit vorgetragen. Das Buch ist ungelesen und völlig unberührt, nicht alle Seiten sind ganz aufgeschnitten, aber es sieht sehr hübsch aus und macht einen äussert guten Eindruck.
Kurz, es verhält sich wie Bildung, es erfüllte in dieser Form scheinbar achtlos auf dem Teetisch liegend sicher auch Konvention und Zweck, ohne andere mit Gschaftlhuberei seiner Besitzerin zu belästigen, und hat – im Gegensatz zur Bildung der Besitzerin – sogar noch nach 90 Jahren einen Restwert weit über den Kriegsanleihen seiner Zeit und unseren toxischen Verbriefungen. Vielleicht lese ich es sogar. Es ist zwar 100 Jahre zu spät, aber so zweckfrei und ohne Aussicht auf Rendite ist es wenigstens ein Luxus, wie jede Beschäftigung mit sinnlosem Tand.
Und vielleicht reicht es schon, wenn die Sinnlosigkeit der Bildung nicht so dumm wie die Sinnlosigkeit der Werbung, der Springerpresse und der Kolumnen von Spiegel Online ist.