MEDIA VITA IN MORTE SUMUS
Notker I. von St. Gallen
Auch wenn das pseudowissenschaftliche Rassenforschertum im 21. Jahrhundert meint, im Rückgriff auf populäre Thesen des mittleren 20. Jahrhunderts Gene bemühen zu müssen – was tut man nicht alles für einen wohldotierten Vorruhestand – so bietet sich meines Erachtens doch eher die familiäre Prägung als Grundlage allen Handels an. So gibt es Bayern bei allen massiven Clanstrukturen nur einen zuverlässigen Vorgang, der dazu führt, von der Verwandtschaft so selten wie nur irgend möglich aufgesucht, ja gar geschnitten zu werden: Indem man Arzt wird. Der Arzt, so die gängige Meinung, sieht einen beim Totenschein noch früh genug, und Krankheiten, die von selber kamen, werden auch von selber wieder gehen. Zahnschmerzen, und ich rede da aus eigener Erfahrung, werden lieber wochenlang ertragen, bevor man es einen Onkel wissen lässt, der es dem Zahnarzt sagt, der dann anruft und zu hören bekommt, es gehe schon wieder, aber, na gut, wenn er unbedingt meint… Zum Arzt geht man so selten wie möglich, und das schliesst auch Familienmitglieder mit ein. Es gibt kein Gen, das einen zum Familienarzt ziehen würde, aber sehr viel Prägung, dass der Tod gar nicht so schlimm ist, im Vergleich zur Spritze.
Nach dieser zum Erhalt meines Rufes als schmerzresistentes “Bummerl” unverzichtbaren Darlegung meiner Grundüberzeugung kann ich nun sagen, dass ich mich nach dem unfreiwilligen Abgang auf die Almwiese über den Lenker meines Rades am schönen, atomkraftwerkfreien Tegernsee mit brutaler Gewalt zu einem Arzt geschleift und mich dort heldenhaft gegen jedes Ansinnen verteidigt habe, mich zur weiteren Beobachtung in ein Krankenhaus zu stecken, weil, was von selbst gekommen ist… Der Arzt kennt das, er kennt die Familie, er weiss, dass es sinnlos ist, und gab mir nach den üblichen Ratschlägen, die mir nicht mehr einfallen, Folgendes mit: Wenn es morgen besser ginge, sei ich noch jung, wenn es dagegen schlechter ginge, würde ich merken, dass ich alt werde. Es ging natürlich besser. Ich konnte sogar schon wieder zum Bäcker humpeln, und wenn ich genau richtig atmete, konnte ich sogar aufrecht sitzen.
Also war ich doch noch jung, und junge Menschen brauchen keinesfalls die Woche Bettruhe, die ihnen angeraten wird. Junge Menschen können schon nach ein paar Tagen wieder auf den Wochenmarkt und sich in der Öffentlichkeit zeigen. Sie können auch schon wieder dumme Witze über den verlangsamten Denkvorgang machen und darüber, dass man die Politik gar nicht so schlimm findet, wenn das Gehirn nur mit 25% Auslastung läuft – haben Sie je einen Dackel über die CSU meckern hören? Hat sich je eine Amöbe beschwert, dass die SPD Sarrazin für seine widerlichen Rülpser nicht den Tritt gegeben hat? – und sich so in das Verderben reden. Denn mitnichten ist es so, dass man dafür als “jung” gilt, auch wenn man es nach ärztlicher Definition noch ist. Es gibt in diesen Kreisen eigentlich nur zwei Haltungen der Beurteilung für das Alter der Söhne. Nicht “jung” oder “alt”. Sondern entweder noch zu jung, um etwas schon zu tun, oder schon zu alt, um etwas noch zu tun.
Dazwischen gibt es nichts, und wenn ich den Einlassungen Glauben schenken darf, habe ich diesmal die Grenze zwischen den Altersstufen durchbrochen. Denn die allgemeine Meinung neben der Empfehlung, nun doch endlich mal die Rennräder zu verkaufen und die Anschaffung eines Elektrorades, das Gadget 2010 schlechthin im Westviertel anzudenken, lautet: In meinem Alter bräuchte ich endlich eine Frau, die auf mich aufpasst. So gehe das nicht weiter. In diesem Alter muss man vorsichtig sein, und wenn man es selbst immer noch nicht ist, muss eben jemand her, die das für einen besorgt. Der Subtext solcher Anwandlungen: Der hat sein Leben nicht mehr im Griff, der braucht jemanden, der das für ihn tut. Bislang war die Argumentation eher andersrum: Der hat sein Leben noch nicht im Griff, der braucht jemand, der das noch für ihn macht. Ich denke, der Zeitraum, in dem ich erwachsen und selbstständig war, begann mit dem Verschlagen des Lenkers und endete mit dem Aufschlag auf der Almwiese.
Nun ist Fürsorge der Mitmenschen natürlich eine feine Sache, zumal sie sich nicht nur in Verboten äussert, sondern auch gleichzeitig wohlriechende und mit zarter Haut verschönerte Alternativen anbietet: Für einen Ü-40-Tanzkurs, so ist allgemein bekannt, besteht grosser Mangel an tanzwilligen Herren, die sich der Damen erbarmen, die keinen Partner mitzubringen in der Lage sind. Das ist auch Sport, aber dafür brauche man keinen Helm und sehe auch nicht aus wie, Zitat, “Presssack in Plastik”. Auch die Sache mit dem “Studentencabrio” sollte ich mir mal zugunsten eines vernünftigen Autos überlegen, das bislang unbekannte Tugenden wie Zuverlässigkeit, ein wasserdichtes Dach und eine Heizung, die nicht nur im Sommer funktioniert, in mein Dasein schleppt. Ein Dasein, das bislang mit einem Ladekabel, einer Plastiktüte für die Sitze und einer Schöpfeinrichtung trefflich funktionierte. Und wenn nicht, nehme ich halt solange das Rad.
Weitere Angebote des kleinstädtischen “Lebensfortschrittsmanagements” umfassen die Schrecknisse einer Putzfrau, deren Dienste ich früher in Anspruch nehmen sollte, weil ich nie richtig putzen gelernt hätte; heute jedoch scheint es an der Zeit zu sein, es endlich in kompetente Hände zu geben, statt mich damit “noch” abzutun, zumindest solange, bis ich die Arme wieder heben kann, und dann wird man sehen. Früher galt es, auf das jugendliche Gewicht zu achten, jetzt heisst es: Vorsicht von Zucker und Cholesterin, nicht zu viel Fett, denn in diesem Alter müsse man auf die richtige Ernährung achten.
Und so, wie sich die Ansprüche ändern, ändern sich auch die negativen Beispiele. Erzählte ich früher vom letzten Anstieg auf den Leonhardstein, berichtete man mit von irgendeinem Onkel, der in jungen Jahren am Berg geblieben war. Fuhr ich schnell ein paar Pässe, wusste man immer von einem jungen Verwandten zu berichten, der bei sowas mindestens das elterliche Auto verschrottet hatte. Das waren noch Zeiten! Heute heisst es eher, dass irgend ein Onkel auch lange nicht mehr laufen konnte und nach Neuburg – nach Neuburg, das muss man sich mal vorstellen, zu den Barbaren! in die Reha musste, als er vom Rad gefallen ist, so mit 77 oder 78. Ob ich Medikamente bekomme und sie auch ja genau dosiert vor dem Essen einnehme – damit ist nämlich nicht zu spassen, wenn man erst mal alt wird, irgendeine Grosstante wurde deshalb tablettensüchtig, während ein Uropa vermutlich noch drei Jahre gelebt hätte, wenn er nur die Anweisungen der Ärzte genau befolgt und die Dosis nicht aus dem Fenster gekippt hätte, wenn keiner aufpasste. So oder so ist man im Leben vom Tod umfangen, aber mein Tod ist nicht mehr Skeletthüpfer der des jugendlichen Leichtsinns, sondern der morsche Knochenhaufen der Altersschwäche, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung.
Ich konnte deshalb heute nach dem Konzert nicht umhin, mich auf mein Rennrad zu schwingen und demonstrativ noch einmal an jenem Cafe vorbeizufahren, wo sich die guten personifizierten Ratschläge aufhalten. Einmal mit überhöhter Geschwindigkeit in die eine Richtung und dann, langsamer, zum freihändig Winken in die andere Richtung. Es hat weh getan, und das Schnaufen geht deutlich schwerer, denn man sitzt sehr gekrümmt an der Stelle, wo die Ripperl ans angesäuerte Lüngerl reiben. Aber das sind eben die Opfer, die man in all den kleinen, dummen Städten bringen muss, um Haltung zu zeigen und den Ruf zu wahren.