Das Fahrrad von Bianchi ist eine der schönsten und klarsten Skulpturen der Kunstgeschichte
Pablo Picasso
Nein, sage ich, das ist nicht alles. Ich muss auch noch Schuhe für den Winter in Verona abholen.
Aha, sagt sie.
Vorausgegangen ist ein längerer Disput um die Frage, ob es angemessen ist, nach Italien zu fahren – allein, um dort mit 3000 anderen Männern in nicht gesellschaftsfähiger Kleidung die eigene Gesundheit auf Schotterpisten und gebrechlichen Rädern zu riskieren. Beim Wort “l’Eroica”, zu deutsch “Die Heldenhafte” leuchten die Augen der Radsportfreunde und alle Warnblinkanlagen derer, die es angeblich gut mit mir meinen.
Ich dachte ja eigentlich, fährt sie fort, dass Feuilleton, gerade dieses Feuilleton keinen Regionalsport alter Männer, sondern eher Opernpremieren, Ausstellungen, Kunstreisen von mir aus, Buchmesse zum Thema hätte.
Bei der Jahreshauptversammlung der Hegemänner bin ich die Woche drauf, versuche ich schon in vorsorglicher Betrübnis über die kulinarische und literarische Wüste Frankfurts zu beruhigen, aber es hilft nichts. Der Verdacht, hoch wie die Berge des Chianti und bleischwer wie die Beine nach 200 Kilometern, steht im Raum: Jetzt hat sie ihn, die Mittlebenskrise.
Wäre es denn so – ich wurde gestern erst 40, und war letzte Woche ziemlich sicher noch 29, und sammle Räder, als wäre ich 14 – wäre es denn so, sähe es schlecht für meine weitere Lebenserwartung aus. Nachdem ich aber frühestens mit 95 und damit in, Moment, minus 35, das heisst in rund 70 Jahren zu sterben gedenke, ist allein rein rechnerisch eine derartige Mittenkrise dezidiert auszuschliessen. Aber natürlich ist die Wachsamkeit meines Umfeldes in gewisser Weise nachvollziehbar: Wie der Alkoholismus vollzieht sich das in meinen Kreisen oft so still und heimlich, dass man genau hinschauen muss. Es sind kleine Details, neue Marotten, nicht die grossen Desaster, mit denen sich die Veränderung ankündigt
Was man zu Beginn gleich als Symptom ausschliessen kann, ist die früher in diesem Lebensabschnitt aufkommende Scheidung: Ein vergleichender Blick auf Freunde von Freunden zeigt, dass Ehen, wenn sie zerbrechen, es in weniger als 10 Jahren tun. Es lässt sich das Schultraumpaar nach dem Studium scheiden, es trennen sich Junglehrer vor dem Titel des Oberstudienrates, und so der allgemeinen Krise um die 40 vermittels Torschlusspanik eine lächerliche Liebesheirat mit üppigem Altersunterschied entspringt, kann man recht früh auf weitere Problemstellungen in den frühen 50ern rechnen. Der grosse Wurd, die Tabula Rasa, der entsetzte Aufschrei gegen das Altern, bei dem alles weggefegt und auf Null zurückgesetzt wird – das ist gar nicht so einfach in Kreisen, die ihre Stellung vor allem in der Tatsache begründet sehen, dass sie nie auf Null gesetzt waren. Und falls doch, wird der erst schweinehütende, dann zu Geld gekommene Vorfahr, den jeder einmal hatte, gern in grauer Vorzeit angesiedelt.
Aber generell machen gesicherte Lebensumstände das Erfinden krisentauglicher Argumente für eine Bedrückung um die 40 nicht ganz einfach, und die braucht man, um ein wenig Mitleid zu ergattern. In einer Region wie Oberbayern ist es schwer, auch mit beschränkten Qualitäten beruflich nicht voran zu kommen – Umfeld und Dynamik absorbieren das einfach und stellen eine fähige Sekretärin ein, und wenn es auch dafür nicht reicht, ist da immer noch die Staatspartei als Auffangbecken. Es ist das Alter, in dem Eltern langsam beginnen, Teile des Vermögens steueroptimierend zu überschreiben, denn lieber gibt man dem Kinde als dem Schäuble, womit die Angst vor dem Verarmen keine Grundlage mehr hat. Und zudem herrscht hier absolut kein Jugendkult; “Junger Mann” ist eine Anrede, die man auch mit 40 noch zu hören bekommt, und das ist nur begrenzt ein Kompliment. Während Berliner Mangelernährte immer noch in der Schlange vor Diskotheken stehen und auf ihre Mobiltelefone blicken, ob jemand etwas von ihnen twittern will, ist das Verlassen dieser Sphäre in den üblichen Westvierteln erst der Anfang von Selbstständigkeit und Respekt.
Dergestalt eingebettet und, wie man in Bayern sagt, “Guad eigsahmt”*, ist es gar nicht so leicht, normal abweichende Torheiten von krisenbedingten Dummheiten zu trennen. Würde ein Normalverdiener etwa nach der Scheidung seiner neuen Flamme ein sehr teures Cabrio aus Stuttgart schenken und dabei auf Schleife und Buffet für die Gäste nicht verzichten: Krise und Dummheit. Bei einem Jahreseinkommen von 250.000 netto: Geschmacklos wie ein gekaufter Adelstitel, aber wer ko, der ko**. Grundlose Grübeleien und Unsicherheiten: Was unten zur Minderleistung werden kann, kann oben auch als Reifungsprozess interpretiert werden – endlich denkt er mehr nach und ist nicht mehr so impulsiv wie damals, beim Paragliderkurs für die ganze Familie. Es ist etwas, das man sich leisten kann – nicht schön, nicht gut, aber was man nun vielleicht an Tabletten braucht, besorgte in Zeiten der Unsicherheit nach dem Abitur noch die Betonmass, und das war, man denke an die Reste von Mutters Golf bei Beilngries, auch nicht gut.
Noch nicht einmal die manische Komponente der depressiven Grundhaltung muss heute noch besonders auffallen: Während man sich in der tieferen sozialen Schicht am Arbeitgeber mit Forderungen beweisen kann, bleibt an den Spitzen eigentlich nur die körperliche Betätigung, um sich an etwas schwer Bezwingbaren abzuarbeiten. Es fällt schon etwas auf, dass viele Bekannte, die früher nie etwas mit den Bergen am Hut hatten, mit 40 plötzlich eine Liebe zu Alm und Fels entwickelten, Kurse für das Klettern belegen und mit der nötigen Funktionsbekleidung eine Industrie am Laufen halten, die mit Näherinnen in China und dem Idealbild des gestählten Naturburschen Renditen erzielen dürfte, die man anderweitig nur mit Mohnbauern in Afghanistan und kreativen Träumen von Werbetreibenden erwirtschaftet. Rennräder für 10.000 Euro, Golfschläger aus Kohlefaser, Wellness für Männer: Die vielleicht letzte Generation, die sich das noch leisten kann, trifft auf eine Wirtschaft, die es versteht, aus Defekten Tugenden zu machen. Und wenn die Knochen morsch werden, hält Titan noch lange aus. Mein Colnago Oval Master Titanio war, das möchte ich hier sagen, eher ein Betriebsunfall, das stand plötzlich in meiner Wohnung, so laufen einem sonst nur Katzen zu.
Es ist für Betroffene nicht unangenehm, wenn der Makel der Verunsicherung formschön überlackiert wird. Das Umfeld jedoch, das seit je her ruhige Entwicklungen schätzt und plötzliche Veränderungen, so gut begründbar sie auch sein mögen, nicht eben liebt, weiss um die mittelfristigen Folgen solcher plötzlich auftretenden Marotten. Denn gleichzeitig ist es eine Absage an das, was danach unweigerlich kommt. Es ist ein Standpunkt, eine letzte Rebellion gegen alles, was für die Älteren das Leben ausmacht, wie Konzert-, Galerie- und Opernbesuche in angemessener Bekleidung, eine Flucht vor den Dämonen der unvermeidbaren Zukunft, eine Art Widerstand gegen Realitäten, mit denen man für die Privilegien zu bezahlen hat – und innerlich auch vielleicht weiss, dass andere Realitäten nicht billiger, aber weitaus weniger angenehm sind, denn 5 lumpige Euro, wie andernorts vielleicht mehr ausgezahlt werden, taugen nur begrenzt für Fluchten aus der Realität. Eine ordentliche Krise muss man sich erst mal leisten können, da unterscheidet sich die besser verunsicherte Gesellschaft nicht von Banken mit Giftmüll in der Bilanz.
Für meine Bekannte aber bedeutet es, dass sie ganz falsche Annahmen zur Grundlage ihrer Verärgerung macht. Denn während sie alleine zusehen muss, wie andere Herren in meinem Alter und ohne Zögern, oder zumindest, ohne sichtbaren Widerwillen und mit netten Pillen aufgehellt, das übliche Konzert in der Kirche nebenan besuchen, schnalle ich das Rennrad auf den Gepäckträger, und mache mich auf den Weg über die Berge. In den Schweizer Bergen hat es bereits geschneit, sie zeigen weisse Köpfe und die Kälte des Todes, aber im Süden soll die Sonne scheinen. Herbstkrise, mehr nicht, sage ich ihr zum Abschied. Und diese Dämonen der kahlen Äste kommen bis nicht nach Siena.
*Gut eingesäumt, wohlhabend
** Wer kann, der kann.