Sogar am Weihwasserbecken hat er die Diakone erschlagen, die kleine Kinder tauften.
Paulus Diaconus über den Langobardenkönig Grimuald
Zu jeder ordentlichen Elite gehört eine Schicht von weniger guter Gesellschaft, die dieser Elite aufgeschlossen gegenüber steht und ihr positive Eigenschaften nachsagt. Oder zumindest das, was man in der Bundesrepublik oft über Eliten zu hören bekommt: Dass sie aufgrund ihrer Stellung im System ein hohes Interesse daran haben, das System zu erhalten und für alle erträglich zu gestalten. Diese Überzeugung nennt sich “soziale Marktwirtschaft” und wirkt so stark, dass manche auch in wirklich widersinnigen Entschlüssen und Bevorzugungen einen Sinn für die Allgemeinheit erkennen wollen. Die Atomlobby würde doch nie für die Kernkraft eintreten, wenn sie nicht absolut sicher wäre. Die Pharmalobby würde doch nicht Medikamenten über die Politik den Markt öffnen, wenn sie nicht Heilung versprächen. Wenn die Politik der Wirtschaft und nicht den Hartz-IV-Empfängern Geld gibt, wird es dafür neue Jobs geben, und die Wirtschaft kann doch auch keine Arbeitslosen wollen. Ein geringerer Steuersatz für Hotels sichert Arbeitsplätze. Bis vor drei Jahren hätte man auch noch geglaubt, dass Landesbanken genau wissen, was sie mit dem Geld der Bürger treiben. Es erscheint eigentlich nur sinnvoll, dass Eliten die sie bevorzugenden Verhältnisse fördern und aus Eigeninteresse nicht zum Schaden aller anderen agieren.
Die oberitalienische Stadt Monza gehört sicher nicht zu den beliebtesten Urlaubszielen dieser gläubigen Schicht. Monza ist nicht besonders schön, und hat nur wenig Sehenswürdigkeiten zu bieten, die der breiten Masse gefallen könnten; nur eine Rennstrecke verschafft dem Ort einen legendären Ruhm, und der Dom mitsamt seinem Domschatz ist eher ein Anziehungspunkt für die nicht allzu häufigen Freunde frühmittelalterlicher und reichlich verworrener Geschichte. Zusammen mit Pavia, Verona und Mailand war Monza in der Zeit des Langobardenreiches von 568 bis 774 nach Christus einer der wichtigsten Orte Oberitaliens, und in seiner Kathedrale wurden die Langobardenkönige gekrönt. Im Domschatz finden sich einige der bedeutendsten Kunstwerke dieser Epoche, und künden von der Macht und dem Prunk jener Tage. Was sie nicht erzählen, ist die wahre Geschichte der hier herrschenden Langobarden, die sehr schön illustriert, wie sich eine Elite ohne alle Rücksichten mitsamt der eigenen Untergebenen in 200 Jahren trotz bester Voraussetzungen zugrunde richtet.
Als die Langobarden, von Osten als letzter Schub der Völkerwanderung kommend, ab 568 weite Teile Italiens besetzten, eroberten sie das verbliebene Sahnestück der antiken Welt. Italien hatte in den Jahrhunderten davor stark gelitten, aber noch waren die römischen Verwaltungsstrukturen und Stadtkulturen weitgehend intakt. Den Langobarden fiel die relativ leichte Aufgabe zu, sich mit Waffengewalt an die Spitze des Systems zu stellen, die Organisationen effektiv weiter arbeiten zu lassen, und das schöne Leben in den antiken Resten zu geniessen. Zum Glück für die Langobarden waren sie der Endpunkt der Völkerwanderung, und hatten keine weiteren Stürme zu befürchten. Byzanz war als effektiver Gegner zu weit entfernt und hatte eigene Sorgen im Osten, die Awaren zeigten sich als zu wenig organisiert, die Franken hatten vorerst andere Ziele, mit den Bajuwaren verstanden sich die Langobarden gut, und der Bischof von Rom war damals noch Bischof von Rom, und ohne Einfluss. Als herrschender Volksstamm hatten die Langobarden auch keine Aufsteiger aus anderen Kreisen zu befürchten.
Unter diesen Idealbedingungen wäre für die Elite auf alle Zeiten genug Reichtum verfügbar gewesen; man hätte sich einfach dankbar niederlassen können und zuschauen, wie die Beherrschten in ihren florierenden Städten für ein angenehmes Leben sorgten. “Die Geschichte der Langobarden” des Klerikers Paulus Diaconus aus späten dem 8. Jahrhundert hätte kurz und erfreulich sein können, aber in diesen Tagen musste niemand seine Machtgelüste hinter Formeln wie “sozial ist, was Arbeit schafft” verstecken. Was Paulus Diaconus beschreibt, sind Intrigen, Bruderkriege, Morde und Grausamkeiten, die von einer vollkommenen Missachtung der Elite für die Notwendigkeiten des Systemerhalts künden. Wenige Langobardenkönige starben eines natürlichen Todes, alle mussten davor mit Schwert und Heimtücke um ihre Macht kämpfen, und wenn sie fielen, wurde die Familie oft genug mitgeschlachtet. Die Langobarden beherrschten Italien über 200 Jahre, aber nur sehr kurze Phasen ihre inneren Streitereien um Vormacht und Vorteile.
Paulus Diaconus erspart den Lesern seiner Geschichte weder das Blenden von Gegnern, noch die Verstümmelung von Frauen. Dass bei den Belagerungen von Städten auch die Beherrschten massakriert werden, ist dagegen nur eine Randbemerkung. Dabei sind sowohl die Schätze im Dom von Monza als auch die internen Zwistigkeiten nur möglich, weil die Untertanen keine Alternative hatten, und diese Zustände finanzieren mussten. Die Langobarden brauchten keine Minister, die Vorlagen von PR-Agenturen und Kanzleien übernahmen, sie mussten nicht alle vier Jahre ihre Parteispenden umschichten, wenn die alten Mietpolitiker bei den Wählern nicht mehr ankamen. Das Langobardenreich, wie es Paulus Diaconus beschreibt, ist die entfesselte Elite, die in den Untertanen nur das Mittel zum Zweck sieht, und ihre Machtposition ohne jeden Skrupel ausnutzt, um sich innerhalb der Elite weitere Vorteile zu beschaffen. Würde man es auf heutige Verhältnisse übertragen: Langobarden hätten ohne Skrupel eine Bank in den Abgrund gesteuert, sich die Rettung von ihren Untertanen finanzieren lassen und sofort wieder üppige Boni gegönnt, und danach gleich wieder Staatsgarantien verlangt. Damals hätte man die Untertanen auch nicht gefragt, sondern diese Vorstellungen mit dem Langschwert durchgesetzt.
Dass sich die Langobarden dennoch so lange halten konnten, ist vermutlich weniger ihren Qualitäten, als vielmehr ihrer Alternativlosigkeit zu verdanken. Es gab einfach keine andere Elite, in etwa so, wie es heute keine anderen Banken, AKW-Betreiber, Atommüllendlager, Nahrungsmultis, Pharmagruppen und Ölkonzerne gibt. Vernutlich hofften schon damals manche Stadtbewohner zwischen zwei Plünderungen, die Langobarden würden doch nicht ein System ruinieren, von dem sie an der Spitze profitierten. Es findet sich allerdings bei Paulus Diaconus keine Stelle, die einem Langobarden einen derartigen Ausgleich unterstellen würde. Man kodifizierte die eigenen Gewohneitsrechte in Gesetzesbüchern. Und man schlug sich bei nächster Gelegenheit wieder tot.
774 setzte der Frankenkönig Karl, den den “Grossen” zu nennen sich irgendwie eingebürgert hat, dem Langobardenreich mit einem Feldzug ein schnelles und unrühmliches Ende. Der Legende zufolge soll Karl die eiserne Langobardenkrone aus dem Domschatz von Monza getragen haben. Von da an nannte er sich König der Franken und Langobarden, und setzte Erstere in Italien anstelle der Letzteren als Verwalter ein. Auch diesmal wurde niemand gefragt, ob es ihm behagte, aber mit der Herrschaft der Franken und den Druckmitteln Karls kehrte Ruhe in Oberitalien ein. Monza sank zu einer Stadt 2. und 3. Wichtigkeit herab, konnte aber die Schätze aus der Zeit der Langobarden behalten. Der heutige Dom enstand gegen 1300, von der langobardischen Kathedrale haben sich nur ein paar Reste im Boden erhalten, und all die Schandtaten in der Geschichte der Langobarden können heute allenfalls Spezialisten auseinander halten.
Immerhin, abgeschnittene Nasen und Ohren sind eine klare Aussage – wer weiss, ob sich spätere Historiker mit der Novellierung der Industrieabgasverordnung oder der Gesundheitsreform ebenso leicht tun, wenn Berlin den Aufstieg vom Reichshauptslum zu einem irrelevanten Kaff wie dem Monza unserer Tage geschafft haben wird. Ich jedoch verlasse diese Stadt und den einsam funkelnden Schatz der Langobarden im Keller unter dem Dom, fahre weiter nach Mantua und von dort aus nach Siena, um mich zum Vergnügen der Leser auf staubigen Pisten dem beginnenden Alter zu stellen.