Schau hie, do liegd a doada Fisch im Wossa, den momma hie
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Vorspiel am Freitag, den 1. Oktober
Von Machiavellis Landhaus und den mörderischen Toskanafraktionen ist es nur ein Katzensprung nach Siena. Ich beschliesse, der Pinacoteca von Siena einen Besuch abzustatten, um die schönen Madonnen von Duccio um 1290 mit der aufreizenden Madonna von Pietro Lorenzetti von 1328 zu vergleichen. Die Pinacoteca ist oben auf dem Berg, auf dem Siena liegt. Mein Hotel ist ein Kilometer Luftlinie davon entfernt. Auf diesem Kilometer sind auch noch 100 Höhenmeter. Ich habe das Rad dabei, mit dem ich die l’Eroica am Sonntag mitfahren will, eine Art Volksfest und Carneval für Renradfahrer mit historischen Rädern in der Toskana über – in meinem Fall – 78 Kilometer und 1200 Höhenmeter. Das kleine Training wird mir gut bekommen.
Oben angekeucht, beschliesse ich, erst mal Krawatten kaufen zu gehen. Mein Krawattengeschäft ist direkt am Bapristerium des Doms, Tausende von Touristen kommen stündlich vorbei. Dort sind sicher auch Diebe, sage ich mir, und wenn ich das Rad dort stehen lasse, klauen sie es, und ich kann mit allerbestem Grunde erklären, warum ich nicht mitfahre. “Ich war schon beim Anstieg nach Siena dem Tode nahe, als nicht untergewichtiger, aber untertrainierter Freund italinischer Kulinarik” wird die Erklärung jedenfalls nicht lauten.
Erstaunlicherweise werde ich im Geschäft trotz meiner Ermattung, um es höflich zu umschreiben, bedient und bestens beraten. Von meinem verlockend chromblitzenden Klassiker nehmen aber nur ein paar Touristen Kenntnis, und lichten ihn ab. “Edles Rennrad in Siena” werden sie in der Diaschau sagen. Auch vor der Pinacoteca möchte niemand mein Rad stehlen. Ich gewöhne mich bei der Abfahrt an den Gedanken, am Sonntag mein Schicksal zu treffen, ohne es eingeladen zu haben.
Aufführung am Sonntag, den 3. Oktober
Ich trage ein blaues Trikot aus Merinowolle mit weisser Banderole und mit der Aufschrift “l’Historique”, gehäkelte Handschuhe aus Parma, Kickerbocker aus schlammfarbenem Cordsamt, dunkelbraune Kniestrümpfe von Burlington, historische Rennradschuhe Modell “Merckx”, und eine Fliegeruhr. Unter mir ist mein Saronni von 1984 mit weitgehend originaler Shimano 600 EX Ausstattung. Allerdings habe ich Reifen mit erheblicher Breite von 35 Millimeter anstelle von 23 aufgezogen. Die Stollen passen gerade so eben in den Rahmen, aber das muss so sein, schliesslich geht es auf wildes Terrain, da überlässt man die penibel geputzten Oldtimer besser anderen, die lieber polieren als fahren.
Die Geburtsstunde dieses Rennens auf alten Rädern war der Unmut einiger Bewohner von Gaiole in Chianti, dass mit EU-Mitteln die alten Feldwege zwischen den Dörfern zubetoniert werden, und die Region somit ihr Gesicht verliert. Also organisierte man eine Rundfahrt für Rennräder, um zu zeigen, dass die alten Strassen sogar für diese grazilen Gebilde taugten. Inzwischen fahren über 3000 Starter ausschliesslich auf Rädern vor Baujahr 1987 mit, auf vier verschiedenen Strecken. Ich habe angesichts meines schlechten Trainings und eines mittelschweren Unfalls beim Sturz in den Lenker mit drei angeknacksten Rippen die zweitkleinste Strecke gewählt. Nun ist es halb 11 Uhr morgens, und ich bin nach dem ersten kleinen Pass, auf dem ich schon ein paar Dutzend andere Radler einholte, auf der ersten der ungeteerten Strada Bianche, einem Steilstück hoch zu einem Castello di Broilo, dessen Namen mich an das ekelhafte Ossiwort “Broiler” erinnert; auch, weil ich mich verbrazelt fühle. Ich habe nichts gegen Strade Bianche, dürfen sich gern mit 15% und engen Serpentinen zur Burg hochschlängeln, aber die EU sollte doch bitte einen Toskanabasistunnel bauen, dann tut mir nach 10 Kilometer nicht mehr jeder Muskel weh, und ich muss mich auch nicht anlügen, denn wenn ich ehrlich bin: Ich hasse die Strade Bianche. Wer zum Teufel lässt sich so etwas einfallen? Nach der ersten Hälfte des Steilstücks gebe ich auf und tue das, was viele tun: Ich schiebe. Ich schiebe im Bewusstsein, dass damit das Schlimmste vorbei ist. Schlanke, zuckende Muskeln italienischer Herkunft ziehen ungerührt an mir vorbei, die Italiener, teilweise alte, kleine Männer, denen ich ohne Zögern im Bus den Sitzplatz überlassen würde, sind auch dabei. Sie fliegen auf ihren schmalen, leichten Reifen nur so vorbei. Ich frage mich, warum ausgerechnet ich solche Ideen bei der FAZ als Thema einreichen muss. Die Antwort ist einfach: Ein Kontrast zur Raserei der Mille Miglia im Frühjar sollte es werden. Und ein Kontrast ist es auch. Bleifuss im Frühjahr, Bleibeine im Herbst.
Dann geht es bergab. Und wie! Neben mir immer wieder zuckende italienische Muskeln. Aber diesmal sind es die Arme, die verzweifelt Reifen aufpumpen. Bergauf leide ich unter meinen schweren Crossreifen, bergab kann kein Fels ihren Lauf stören. Um mich herum mögen nicht Tausende, aber doch einige fallen, es sind die Pest des Schlauchplatzens und die Cholera des Felgenverderbens, die das Feld lichten und an den Strassenrändern Edelrenner und Muskelmänner schichten, als mein Saronni zwischendrin zu Tale knallt. ATTENZIONE brülle ich von hinten heranrasend, an ihren Trikots erkenne ich jene, die mich dreist überholten, und die nun dem Furor meiner Stollen zum Opfer fallen. Beim 80. Opfer höre ich zu zählen auf. Auf schmalen Rennreifen muss man auf dem Schotter um sein Leben beten, mit meinen Walzen komme ich wie ein Dämon über sie. Sie halten mich für einen Idioten, weil ich dabei auch noch ihr Leid in voller Fahrt von unten heraus photographiere. Ob das die Versicherung der FAZ deckt? Egal! Ich liebe die Strade Bianche!
Dann wechselt der Strassenbelag zu Asphalt und das Wetter von bewölkt zu Regenschauer. Während sich andere Landsmänner in die Bäume werfen, um sich dort in Regenjacken zu flüchten, beschliesse ich, dass meine Fettpolster bayerischer Wochenmarktqualität sicher blendend isolieren und ich ohnehin, weil es mir als sehr unstylisch erscheint, keine Regenjacke mitgenommen habe. Gegen Regen und Kälte gibt es ein gutes Mittel: Volle Geschwindigkeit. Ein paar Dutzend Überholvorgänge und sechs Kilometer weiter erreiche ich die zweite weisse Strasse.
Sie ist nicht weiss. Sie hat exakt den schlammbraunen Farbton meiner Hose. Und sie ist steil. Nicht zu steil, aber so steil, dass ich auf dem grössten Ritzel hochkrieche. Immer wieder geht mein ungläubiger Blick nach hinten zum Zahnkranz: Doch, alle technischen Mittel sind ausgeschöpft, es ist auch kein grösseres Ritzel im fruchtbringenden Regen nachgewachsen. Keuchend halte ich eine Gruppe aus Florenz in Schach, die angenehm plaudernd ein paar Meter hinter mir das Schlammbad geniesst. Ich leide, es tut weh, ich bin am Ende meiner Kräfte, aber was mich bis zum Ende dieser Strecke weiter trägt, sind zwei Sicherheiten: Auf meiner Hose wird man den Dreck, der von hinten in Fontänen hochschiesst, nicht sehen. Und: Schlimmer kann es nicht werden, weil Regen und steil und dreckig hatten wir schon.
Aber schlimm kann es werden. Nach einem Sturz über eine unfassbar steile Piste ins Tal wechseln sich kleine, giftige Anstiege und Gefälle auf dem dritten Teilstück der weissen Strasse ab. Man kann sich nicht verfahren, der Boden ist übersäht von abgerissenen Startnummern hier schon durchgefahrener Recken. Ich sammle einige als Andenken auf und beschliesse, sie für die FAZ mit folgendem Text abzulichten: “Gnadenlos riss unser Reporter jedem gedemütigten Konkurrenten die Nummer vom Rad”.
Ich bin einigermassen guter Laune, von hinten kommt ein Fiat 500 heran und treibt mich mit italienischen Gassenhauern aus dem 50ern an, und bei Funinculi, Funincula schmettere ich auf Bayerisch unter Dreckkaskaden mit, ein braunes, lautes Schlammwasserspiel inmitten des Toskanadschungels 6 Kilometer vor Radda in Chianti:
Schau hie, do liegd a doada Fisch im Wossa, den momma hie, den moma hie!
Mare, Mare, die Fisch den momma hie! Jojojojojojojo, den Fisch, den momma hie!
Dann kommt die Strasse. Ich bin versaut. Ich starre vor Dreck, in meinem Mund ist Sand, die Zähne knirschen und meine Augen tränen, ich hätte jetzt gerne eine Dusche und dann die Zeitung und ein grosses Frühstück, aber was ich bekomme, ist die Strasse nach Radda. Radda liegt auf dem Berg. Und die Strasse ist so angelegt, dass man nach der Hälfte sieht, dass man jetzt zwar schon fast tot ist, aber die andere Hälfte noch fehlt. Bis hierher war das Schlimmste nur die Befürchtung, vollkommen überfordert zu sein. Vor Radda ist es die Gewissheit, dass es so ist.
Ich steige ab und schiebe etwas. Das tun andere auch. Manche überhole ich schiebend, andere, die ich auf der letzten Schotterpiste erwischt habe, überholen mich radelnd, aber es ist mir egal. Nicht egal ist mit das letzte, extreme Teilstück in Radda selbst hoch zur Kontrolle, bei dem ich zu früh absteige, als dass es irgendwie lässig wirken würde. Genauer: Ich falle wie ein Sack vom Rad. Das ist demütigend. Als sie mich sehen, scheinen die Augen der kleinen Kinder an der Kontrolle zu sagen: Mama, warum darf der dicke, alte Mann bei einem Radrennen zu Fuss mitlaufen?
Aber es sind 42 Kilometer bis hierher, mehr als die Hälfte, dss Schlimmste ist vorbei, Radda ist ganz oben, nur ein paar unpassierbare Bergspitzen ragen noch höher in den Himmel Um mich herum sind hunderte, die den dreckigen Zustand der anderen begutachten, eine erstaunliche Betätigung, für die es keine mir bekannten Konventionen gibt. Es sieht aus wie nach der Weltmeisterschaft im Massenschlammcatchen. Ich gehe in einen Laden, kaufe die letzten Bananen und etliches anderes und tue etwas, das ich sonst ungern tue: Ich esse ohne Geschirr in der Öffentlichkeit. Wenigstens konnte ich am Brunnen meine Hände waschen – andere waschen hier ihr Rad, meines bleibt dreckig. Es lohnt sich nicht. Es kommen noch viele Dreckstrecken. Aber das Schlimmste ist vorbei. Jetzt geht es heim.
Bis zum Oberrohr ist das Rad vollkommen schlammbraun. Wo vor dem Start gewienerter, dunkelbrauner Lack schimmerte und glänzender Chrom funkelte, starrt nun das Hellbraun eines verwesendes Stück Aases empor, erinnre, was wir sahen, oh Seele, als uns des Sommers Glück bestach, an eines Weges Bug, im Kieselbett verborgen… und dabei wirst auch Du einst diesem Schmutze gleichen… Du Sonne meiner Welt, mein Engel, meine Leidenschaft… durch das Braun rast nur noch das ölige Schwarz der Kette, als es von Radda pfeilschnell hinab ins nächste Tal geht.
Ein paar Deutsche begleite ich eine kurze Strecke, doch einer der Helden hat nur einen Gang am Rad und kann das Tempo nicht halten, und so setze ich mich ab. Es ist angenehm, hier zu fahren, so muss es weiter gehen, immer leicht abschüssig, 35 Kilometer nach Gaiole zurück. Da ist auch ein entsprechendes Schild. Nur zwigt das Schild des Rennens in eine andere Richtung. Es ist die Richtung des nächsten Berges, der nächsten Rampen. Nun ja. Das ist nur noch begrenzt überraschend.
Der nächste Ort heisst Lucarelli und bietet eine fahrbare, wenngleich auch elend lange Steigung an. Diesmal nicht im Regen, sondern im Sonnenschein. Und man muss fair sein: Der Sonnenschein ist wirklich in Ordnung. Nicht zu heiss, nicht zu stechend, wirklich. Dazwischen der Fiat von vorhin, mit Motorschaden. Mein Motor läuft noch auf dem letzten Zylinder, bei den Kollegen von vorher, die mich wieder einholen und stehen lassen, läuft noch mehr. In der Ferne keuchend zur Kenntnis genommen: Lucarelli ist auf einer Spornlage. Auf drei Seiten geht es bergab. Der Pfeil der l’Eroica steigt auf ein Steilstück, das die Beschreibung “Mauer” verdient. Und es geht nach oben, und über weitere Rampen zur nächsten weissen Strasse.
Inzwischen steige ich nicht mehr ab, um zu schieben, sondern auf, um mal wieder mein Glück in den Pedalen zu suchen, denn meine Rennradschuhe sind mit den glatten Sohlen für das Bergwandern so geeignet, wie ein Schwabenminister für die PR von Stuttgart21: Dauernd kommt man ins Rutschen, sorgt für bemitleidenswerte Auftritte und ist schuld, dass am Ende jemand Staub fressen muss. Aber es geht nicht. Es ist zu steil. Manche kommen sehr weit, andere geben gleich auf, aber ich sehe niemanden, der dieses Stück durchfährt. Und es ist lang. Es sieht, aus der Ferne photographiert, sogar fast idyllisch aus, wenn man da so hochschiebt. Spitzweg mag einem einfallen, aber vielleicht auch der Manierismus
Ich unterhalte mich unterwegs mit einigen Landsleuten, die das so auch nicht erwartet haben. Allerdings, muss ich selbstkritisch sagen, heisst die Veranstaltung ja auch “l’Eroica” und nicht “Das lockere Rollen für untrainierte Profiblogger von einer Verpflegung zur nächsten mit optionaler Sänfte für jede Art von Steigung”. Nach einer Weile komme ich sogar mit dem Bergsteigen gut zurecht. Es ist wie bei mir am Tegernsee, nur steiniger und steiler. Und länger. Ich steige und steige und der Berg will einfach nicht sterben. Im Gegenteil, er will, dass ich sterbe. Er oder ich. Dann, nach zwei Kilometern Hatscherei, die nächste Kontrolle und die nächste Verpflegung. 12 Kilometer seit der letzten Kontrolle. Und zwei Stunden Quälereie.
In Radda war das der Gipfel. Erlösung macht sich breit. Das Schlimmste wäre damit geschafft. Der Berg ist besiegt. Ich sitze im Gras der Toskana und warte, dass ich meine Beine wieder fühle. Ich nehme mir vor, weniger zu essen und besser auf mein Gewicht zu achten, und dergleichen Blödsinn im Delirium mehr.Was man halt so tut, wenn man eine Gefahr überstanden hat. Ich gehe zur Kontrolle und lasse ein Bild von mir und dem Herrn mit dem Stempel machen. Ich plaudere mit dem hübschen Mädchen ein wenig, und sage, dass ich mich schon auf die Abfahrt freue. Nein, sagt sie, das dauert noch, jetzt geht es erst noch drei Kilometer bergauf. Ich schaue mich an diesem gottverlassenen Flecken im Wald zwischen Lucarelli und Volpaia um. In allen Richtungen niedrigere Berge. Das hier muss dieses Montrum sein, das ich schon in Radda gesehen habe und dachte: Zum Glück bauen die da oben keine Strade Bianche.
Ich fahre. Ich schiebe. Ich helfe einem Franzosen mit Kettenriss. Niemand hilft mit mit dem Hirnriss, hier ohne besonderes Training mitfahren zu wollen. Irgendwann wird es flacher, dann endlich die Abfahrt! Bis zur Kurve, dann wieder ein Anstieg, der die letzte Kraft raubt. Dann aber die Abfahrt! Die Walzen des Donners bügeln wieder! Bis zur nächsten Kurve, hier der nächste Anstieg… als es dann wirklich bergab geht, warte ich bis Volpaia, bis ich in den grossen Gang schalte. Die Abfahrt ist sehr steil, und nach den Beinen, Armen und dem Rücken sind jetzt die Finger beim Bremsen gefragt. Ich stürze wie ein Adler in das Tal, wie ein Adler aus Beton mit Bleianker an den Beinen. All das Elend des Aufstieges, in ein paar Minuten Richtung Radda verblasen.
Wohin es jetzt auch geht. Die Strecke kenne ich schon. Ich bin sie vor zwei Stunden hinuntergerast. Und sie war steil. Ich versuche einen Trick. Ich sage dem Berg das, was bei Veranstaltungen auch meistens funktioniert, wenn sich jemand in den Weg stellt: “Lieber Berg, ich bin beruflich hier. Ich muss darüber schreiben, ich bin keiner von den Sportlern, die das wollen. Also bitte, lass mich durch, ich muss schnell nach Gaiole, sonst wird das nichts mit meinem Bericht.” Sehr zu meinem Missfallen funktioniert es diesmal nicht. Also steige ich ab und habe unterdessen ein sehr nettes Gespräch mit einem Herrn, der 20 Jahre älter ist, aber den Berg hinaufgeht, als wäre er 20 Jahre junger. Aber das alles ist mir längst egal. Ich will heim und ankommen und dann eine Dusche. Das ist alles. Dafür krieche ich auch an Radda vorbei und den nächsten Berg hoch. Immerhin fahre ich noch. Bei anderen hat das Material nicht durchgehalten.
Nach dem elenden Berg ist eine Abzweigung. Rechts geht es hinunter nach Gaiole. Links, wo ein Treck entnervter Fussgänger alte Rennmaschinen als Rollatoren benutzt, geht es hinauf in Richtung der Route, die zu befahren sein soll. Ich mag nicht mehr radeln, aber noch weniger mag ich schieben. Also radle ich, soweit es geht, halte an, warte darauf, dass ich wieder Schmerzen empfinde – ein gutes Zeichen, denn Tod geht anders – radle weiter, bin ab und an entsetzt über die nächste böse Überraschung nach einer Kurve, bei der ich dachte, das Schlimmste sei vorbei, und erreiche die letzte weisse Schotterstrecke, auf der gewachsener Fels seine Platten durch den Sand schiebt. Es geht auf fünf Uhr zu, ich war den ganzen Tag auf dem Rad, und zum ersten Mal geniesse ich hier, 5 Kilometer von Gaiole, gelöst und vollumfänglich die Schönheit der Toskana.
Abfahrt, Ziel, Stempel, Essen, Auto, Heim, Tee, Bloggen (Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss, Blogger müssen weiterschreiben), Dusche, Bett. Träume von düsteren Dingen, die den Organisatoren zustossen könnten. Immer noch was Schlimmeres. Nie das Schlimmste. Das kommt immer erst noch.
Nachspiel am Montag, den 4. Oktober
In Parma schüttet es. Ich komme gerade von Richetti, wo ich Schuhe von Mantelassi kaufte, und gehe zur Antica Salumeria Farini in der Strada Farini 57a, wo zwei dicke Brüder den besten Scamorza der Welt mit Buchenholzasche verkaufen. Ich kann etwas Fett brauchen, was, seien wir ehrlich, nicht gerade sportlich, aber besser als der Bedarf eines Leichenwagens ist. An mir kommt ein Radler mit Schirm vorbei, und der Himmel schüttet alle Wasser über ihn aus. Ich denke mir: Naja, wenn das alles gestern herunter gekommen wäre – das wäre wirklich unangenehm gewesen. Was für ein Glück ich doch mit dem Wetter hatte!
Mir fällt auf, dass ich schon wieder verdränge und im Nachhinein Unerträgliches schön mache, ja vielleicht sogar überlege, 2011 wieder mitzufahren, und, nachdem ich die 78 Kilometer schon kenne, die 135…
Ich beschliesse, das Grauen ganz schnell aufzuschreiben, damit ich es nächstes Jahr im September nachlesen kann, falls ich mir blöderweise denken sollte, wie schön doch so eine Radtour durch die Toskana im Oktober sein kann, und mich wieder dort anmelde, zu im Übrigen wirklich sagenhaft günstigen 50 Euro mit Alutrinkflasche, toller Organisation, Verpflegung und Ersatzschlauch. Und Pasta danach in Hülle und Fülle. Was für eine Pasta! Wirklich toll. Und der Moment, als hinter Radda zum ersten Mal die Sonne durchkam, als ich durch die pumpenden Italiener pflügte, als die Speichen sirrten und das Mädchen an der Kontrolle das Bild von mir machte und meinte, ich sähe gut aus, als wir uns anlachten, weil wir alle so sagenhaft dreckig waren, als ich den Berg anschrie, er solle endlich sterben, und er tat es dann auch endlich, er musste sterben und ich konnte leben, als ich wusste, jetzt geht es wirklich nur noch bergab, und habe ich schon gesagt, wie es ist, wenn man über 40 ist, die meisten Schulkameraden sind fett und krank und kommen nicht aus ihren Sitzen hoch, und starren den ganzen Tag in den Bildschirm, während man selbst gerade drei angeknackste Rippen überstanden hat und entgegen den Rat des Arztes nicht nur fährt, sondern durch all den Dreck und alle Berge auch durchkommt, dabei zwei Kameras im Schlamm kaputtknipst, wenn es schmerzt und einen an die Grenze bringt? Also, wie soll es schon sein, das ist dumm, falsch und kompletter Unsinn. Niemals wieder!
Und ich bin mir auch ganz sicher, dass ich nächste Woche auf der Buchmesse in Frankfurt nur zivilisierte Menschen treffe, die sehr sauber sind, sich zu benehmen wissen und jede Form von Dreck, Schmutz, Gestank, Eiter und all die Gemeinheit der Strade Bianche nie nach aussen tragen, sondern stets in ihrem Innersten bewahren, auf den schwarzen Strasse der Hegemänner in die Hölle der unsterblichen Langeweile, wo es nur Qualen und Lügen und PR-Personal und Kleinstgeister aus Schmierschulen in Leipzig, aber keine Erlösung gibt.