Wir haben alle Vorteile der Kleinstadt gegen alle Nachteile der Grossstadt eingetauscht.
Mein Musikalienhändler
Ich gehe auf einen beliebigen Empfang in einer fremden Stadt. Gleich neben dem Buffet hanswurstet ein immer noch geschmacklos, aber für seine Verhältnisse halbwegs zivilisiert aussehender, lokaler Würdenträger herum, und möchte die grosse Welt willkommen heissen. Letztere ist, da zumeist fremd, reichlich desorierntiert und teilt sich in zwei Gruppen auf: Jene, die den Abend unter sich zu bleiben gedenken und jene, die niemanden so richtig kennen und deshalb allen die Hand hinstrecken, die sich nicht schnell genug abwenden, was in dem Gedränge unmöglich ist. Wie heissen Sie ne kenn ich nicht ich schau dann mal ob da jemand ist den man sonst so kennt und rempelt sich weiter. Geh nach rechts, Mann! Da ist der lokale Würdenträger! Mit dem wirst du dich blendend verstehen. Du und der lokale Würdenträger, ihr seid die armen Würstchen des Abends: Du bist fremd. Und der lokale Würdenträger muss einen Ort repräsentieren, der niemanden interessiert und den die meisten bald, drei Kreuze und Davidsterne* in jüdisch-christlicher Tradition oder wie das heute heisst schlagend verlassen. Solange kann er aber der fremden Wurst die Hand schütteln, ein Bild machen lassen, und, wenn er am Ende vielleicht heruasgefunden hat, wer dieser Typ denn war, sagen: Ach ja, damals war ja der Dingens aus Bummens da, sehr netter, kluger Mann. Und Die fremde Wurst kann im sich als Metropole ausgebenden Slum sagen: Äh, ja, da war auch noch dieser komische Typ vom Regionalmarketing, retardierter Simpel, aber beim nächsten Buch vielleicht ein guter Kontakt zum Literaturhaus.
Dergleichen ahnt vielleicht der Würdenträger, aber statt das zu tun, was seine Vorgänger getan hätten – das Öl erhitzt, die Stadttore verrammelt und ein paar zwielichtige Typen, Bankster und Popliteraten mit zu vielen Kontakten nach draussen im Gefängnisturm verrotten lassen – beginnt mit dessen flauem Gefühl am nächsten Morgen die Erkenntnis, dass sich die kleine Stadt diesen weltgewandten, händeschüttelnden Würsten, die hier niemanden kennen und morgen woanders auch keine Kontakte haben, die Anwesenheit zu erleichtern. Denn solange der Fremde nicht gerade aus einer Schicht kommt, die Herr Sarrazin nicht leiden kann, steht er für jene grosse Welt, für den globalen Zusammenhang und damit auch die Zukunftsfähigkeit, an der teilzuhaben heute dem Lokalfürsten so wichtig ist, wie dem Verleger das E-Book-Projekt.
Und so kommt es dann, dass sich so ein Schüttelschorsch, wie wir in Bayern sagen, plötzlich nicht mehr als Lokalfürst gut genug ist, sondern sich an einer Magistrale fühlt. Dass er sich erträumt, die Welt käme in sein Kaff, wenn die Wege dorthin nur schnell und hindernisfrei sind. Die Stadt solle Teil eines grösseren Ganzen werden, Brücke von Ort A, wo man das Kaff nicht kennt, nach Ort B, wo man kein Geld für so eine Reise hat – also ungefähr so wie die Welthauptstadt des Schwabentums Stuttgart zwischen Paris und Bratislava. Da rodet man bekanntlich ein paar Bäume und haut an deren Stelle Schüler ungespitzt in den Boden. Da gibt man den alle Wege beendenden Kopfbahnhof einer grossen, bedeutenden Stadt auf, und macht sich zur Durchgangsstation. Zukunftsfähigkeit nennt sich das, und alle vom Bau profitierenden Wirtschaftsgrössen und deren Politiker finden das wichtig. Nicht mehr im Weg stehen, sondern der Globalisierung den Weg freiräumen.
Es ist ein erstaunliches Geschäft, das die Lokalpolitik da betreibt: Für den scheinbar wichtigen Anschluss an die Welt werden die Sorgen und Bedürfnisse und Gelder der eigenen Bürger gerne ganz hinten angestellt. Aber keiner der durchrauschenden Weltbürger wird je dort kurz aussteigen, den Verantwortlichen die Hände schüttel und sagen: Danke für diesen schönen Bahnhof! Danke für die drei Minuten, die ich jetzt schneller durch Euer Kaff bin. Warum auch: Die wollten das genau so. Die Weltbürger, die der Likalfürst im Kopf hat, kommen nicht nach Stuttgart, um zu sagen: Endlich! Stuttgart! Sie kommen, um so schnell wie möglich wieder weg zu sein. Die Weltenbürger begreifen das als Selbstverständlichkeit: Eine Subvention ihres Lebensstils, ihrer Geschwindigkeit und Heimatlosigkeit. Mit etwas Glück sagen sie sich vielleicht noch: Von einer Firma, die den Staat bei Milliardenkosten immer noch dazu bringt, seine Bürger zusammenzuschlagen, kann man durchaus Aktien kaufen. Auch wenn noch einiges zu einem Petrolkonzern fehlt, dessen Manager in Afrika Staaten dazu veranlassen, ihre Kritiker umzubringen: So ist das mit der Globalisierung, Baby.
Auf der anderen Seite stehen die, die eher bleiben, Häuser bauen und dort alt werden möchten, und die durchaus wissen, dass ein nachgepflanzter Baum länger als ihr Leben brauchen wird, um wieder ein alter Baum zu werden. Für einen Durchrasenden ist ein Baum nur ein grüner Streifen vor dem Fenster oder ein Hindernis, für den Bleibenden dagegen so etwas wie die Zukunftsfähigkeit seines eigenen Ortes. Aber genau diese Erkenntnis scheint Lokalpolitikern beim Händeschütteln mit Auswärtigen abhanden gekommen zu sein. Das passiert heutzutage oft, wenn sie in den richtigen Westvierteln wohnen und in Städte verreisen, wo sie befürchten müssen, von Anwälten, Beratern, Finanzfachleuten, Lobbyisten und all den anderen Funktionsvortäuschern als Dorfdepp behandelt zu werden. Das eigene Westviertel und die Anerkennung der Welt sind wichtig, der Rest ist das Problem derjenigen, die nicht in guter Lage wohnen.
Im Mittelalter, jener Zeit, aus der Siena stammt, die Stadt, die hier auf den Bildern zu sehen ist, gab es Mauern und Tore. Unter den Toren musste jeder unterschiedslos durch, sich gleichsam wie unter einem Joch beugen, und wenn er das Wappen oben in der Mauer passiert hatte, stand er unter dem Recht der Stadt, die er betreten hatte. Man mag das heute vielleicht reaktionär finden, und das ist es vermutlich auch: Daraus entsprint bis heute diese in Siena überdeutliche, aber auch andernorts übliche Haltung, dass dies hier nicht die Stadt aller, sondern die Stadt der Bürger ist, in der man sich zu benehmen habe, wenn man fremd ist. Der Durchreisende – und jeder flotte Manager auf dem Weg zum Termin ist das mehr als jeder Asylbewerber – muss sich eben den Interessen derer unterordnen, die hier dauernd leben müssen. Das fängt damit an, dass man keine Kippen auf den Boden wirft, und endet damit, dass man den Ort der anderen nicht als störendes Hindernis beim Rasen, sondern als Bereicherung betrachtet – oder wenigstens so tut. Alles andere ist schlechtes Benehmen.
So wie die Haltung jener, die mit dem eigenen ICE gerade durch die Stuttgarter Kinderstube Richtung Stuttgart21 donnern wollen. Um das nicht zu verstehen, oder nicht nachvollziehen zu können, muss man schon sehr im Beschleunigungsraum der Globalisierung gefangen sein. Oder an eine Zukunft glauben, die nur die eigenen Interessen und die der eigenen Klientel im Auge hat, und nicht die Belange derer, die in den Lehrbüchern der Ökonomie ohnehin nur noch als Kostenfaktoren und in den Powerpoints der PR als Ziel von Influence definiert werden. Daraus erwächst diese ebenso einfache wie dummdreiste S21-Logik: Wenn Ihr jetzt nicht spurt, bauen sie in Korea, China oder Bahrein den Bahnhof auf ein paar Minuten Zeitersparnis um, weshalb alle Firmen dorthin ziehen und ihr, das Bürgertum, werdet arbeitslos sein. Eure Kinder werden keine guten Schulen mehr haben und im Internet mit alten Säcken reden, eure Häuser werden von Arabern übernommen und überhaupt geht damit das jüdischchristliche Erbe unter. Deutsche Demonstranten schaffen Deutschland ab.
Dass man in München den Wahnwitz des vor allem für die mobile Elite geplanten Transrapids zwischen Bahnhof und Transrapid bürgerschaftlich verhindert hat, hat bislang übrigens noch nicht zum Niedergang von München, sondern allenfalls der dafür einstehenden CSU geführt. In Italien verrammelt jede klügere Stadt seit längerem die Tore für den Autoverkehr, und die Touristen kommen trotzdem, ja, sie geniessen es sogar, nicht über den Haufen gefahren zu werden. Noch nicht mal in den von der Umverteilung profitierenden Westvierteln schätzt man mobile Eliten, die hier einfallen, um das Ruder von jenen zu übernehmen, die schon vorher da waren. Für mobile Eliten und ihre Politiker und Journalisten mag es schwer verständlich sein, aber ihre Zukunftsfähigkeit, die sich darin begründet, dass sie und ihre Produkte überall so schnell wie möglich sein können, ist absolut nicht die Zukunftsfähigkeit der Bürger, die eigentlich dort zufrieden sind, wo sie gerade sind. Sonst wären sie nicht dort. Sondern vielleicht auf einem Empfang, wo sie nur mitleisdig den Kopf über den herumwurschtelnden Lokalfürsten schütteln können, der so gern zukunftsfähig wäre. Und nach der Zerstörung des Bürgertums vielleicht noch als kleines Rädchen im System der falschen Zukunft mitdrehen darf.
* copyright Kurt Tucholsky