Du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen gegen Deinen Nächsten
Unerfreuliches Gebot aus dem Sinai gegen eine sinnreiche Erklärung für Betrunkene, warum sie den anderen grundlos zusammengeschlagen haben.
In einem kleinen Dorf nahe der kleinen, dummen Stadt an der Donau lebte (und lebt, wenn er vermutlich nicht gestorben ist) ein Tierarzt. Und weil das hier in Bayern spielt, und nicht in einem britischen Dorf, muss ich die Leserschaft sogleich bitten, nicht an jene hübsche Serie mit dem Titel “Der Doktor und das liebe Vieh” zu denken. Die Epoche, von der hier zu erzählen ist, mass dem Veterinär seine wichtige Rolle im Dorfleben wegen seiner Stempel, seiner Nonchalonce beim Umgang mit Tiermedizin und seinem guten Draht zum hiesigen Schlachthof zu. Es waren jene Tage, da man den Rinderwahnsinn für ein britisches Problem und den Leberkäs noch für “Essen” hielt. Vegetarier wie ich wurden schräg beäugt, und Lebensstandard drückte sich in Wurstdicke aus. In der Stadt hatte man zwar schon begriffen, dass hauchdünner Parmaschinken mehr Prestige als ein Grillhendl hatte, aber der Veterinär war auf dem Dorfe. Und weil jeder mit ihm gut können wollte, weil er doch so ein feiner Mann war, und auch jeder gut mit ihm können musste, weil er ein hohes Tier der dörflichen Staatspartei war, wurde er auch überall eingeladen. Kirchweih, Kriegerverein, Bauernverband, Volksfest.
Und wie es bei uns in der kleinen Stadt so ist, kennt jeder jeden und ich die Tochter dieses Herren. Ab und an fuhren wir gemeinsam vom Studienort München in die dumme, kleine Stadt zurück, mal mit meinem, mal mit ihrem Auto. Und irgendwann mit der S-Klasse ihres Vaters. Der war nämlich zum Volksfest eingeladen worden, war dann gegen den Rat seiner Bekannten blau wie eine Strandhaubitze in den Wagen gestiegen, hatte erst den dahinter und dann den davor parkenden Wagen mit Wucht weggeschoben, und den verwunderten Passanten, wie auch später der Polizei erklärt, das sei schon so gewesen und überhaupt könne man ihm nichts, denn er sei der X aus Y. und er würde sich beim Z. im Festzelt beschweren. Kurz, kein von ihm zum Bolzenschussgerät verurteiltes Tier dürfte je so besinnungslos in sein Schicksal gegangen sein, wie der Veterinär, Staatspartei hin, Freund im Festzelt her. Sechs Monate hatte seine Tochter dann seinen Wagen, und der Veterinär selbst allen Grund, seinem gewandten und geschickt auftretenden Anwalt dankbar zu sein. Das Urteil der Richter jedenfalls las sich weitaus netter als das Urteil der Geschichte, das hier niederzuschreiben mir vergönnt ist. Und wenn Sie nun “Klassenjustiz” sagen – nun, ich wäre auch gern länger mt der S-Klasse nach Hause gefahren. Es trifft uns alle gleich. Und was glauben Sie, was es für ein Schock für eine bessere Tochter ist, wenn sie nach sechs Monaten auf dem Leder aus Stuttgart zurück auf den braunen Cordsamt eines Golf 1 mit 55 PS muss.
Zur allgemeinen Beruhigung ist dies aber nur die Illustration der Vergangenheit, in der mächtige Männer bei Tageslicht wenig kluge Dinge machten, zu ihrer Überraschung öffentlich aufflogen und sodann jemanden brauchten, der alle Wogen des unversehens stürmischen Daseins zu glätten in der Lage war. So etwas kommt immer raus, das wird immer Gespräch des Ortes, und da ist es famos, wenn es einen langen, hageren Anwalt mit langer Familientradition gibt, der das weiss und andere Sichtweisen in Umlauf setzt. Ich bin mir sicher, dass in jenem kleinen Dorfe bis heute die Mär geistert, dass die Reparatur der S-Klasse so lang wie der Urlaub des Veterinärs – gegönnt sei es ihm, unserem prominenten Mitbürger! – gedauert habe, und ein Neukauf am Ende nur an den langen Lieferzeiten der S-Klasse scheiterte. Vom Richterspruch so weit entfernt wie meine Erzählung, nur in die andere Richtung – dorthin lenkte der kluge und allseits beliebte Herr Rechtsanwalt auch nach dem Prozessende die Spekulationen.
Seitdem hat sich aber mit all den anderen Verschiebungen des Konservativismus ein gewisses Unrechtsbewusstsein in besseren Kreisen herausgebildet. Heute würde niemand mehr öffentlich über Steuerhinterziehung sprechen. Freundschaftliche Auftragsvergabe ist jenseits der grossen SchwabenzZüge und Atomstromleitungen deutscher Politik kein Thema für die Öffentlichkeit, dem Alkohol und schlimmeren Dingen wird massvoll, wenn überhaupt, zugesprochen, und die Kinder solcher Familien werfen auch nicht mehr gleich nach der Schule die Bierflasche in die Schaufensterscheibe und rufen dabei den geliebten Führer Mao an. Sie kaufen erst mal Dosenbier bei einem Supermarkt, glühen vor, lassen einen Freund im Alter über 18 drei Flaschen Wodka kaufen, und diese Flasche wird dann am frühen Morgen als Mutprobe gegen Glas ausprobiert, hinter dem das Konsumgut funkelt. Je teurer, desto besser. Man ist ja seinem Ruf verpflichtet und macht das nicht in den schlechten Vierteln. Letzthin wieder hier in der Strasse geschehen und nicht unbemerkt geblieben, und es ist überflüssig zu sagen, dass alles natürlich nach der ordnungsgemässen Festnahme ordnungsgemäss die Runde machte, Geschichten könnte ich hier erzählen, also, das ist bei denen nämlich so, weil der Vater, wissen Sie noch nicht?
Also, abgesehen von allem anderen wurde hier gemäss der Tradition der Prominentenanwalt eingeschaltet, der mit den guten Drähten und den vernünftigen Erklärungen. Der Mann, den man kennt, und den man auch Nachts um Drei noch bemühen kann. Sag nichts, sagt er dem berauschten Kinde, man wird das schon irgendwie erklären können, ist ja nur Glas. Aber dennoch ist da die Aufmerksamkeit, das wachsame öffentliche Auge, das dergleichen nicht wirklich schätzt und schon gleich gar nicht, wenn es nicht irgendwelchen Anderen anzulasten ist, sondern Fleisch vom eigenen Fleische. Und so stellt sich die Frage, ob die klassische Antwort, die früher im Öffentlichen noch ihre Berechtigung hatte, in Zeiten wie diesen und bei Vergehen der Postmoderne wirklich noch angemessen ist. Denn wenn jeder jeden kennt, kann man Informationen als Anwalt steuern – aber nicht zurückhalten. Dafür ist man selbst zu bekannt.
Und so wäre vielleicht genau das Gegenteil eine wünschenswerte Einrichtung: Ein Anwalt, der zwas funktioniert, wie ein Prominentenanwalt, der jederzeit erreichbar ist und Sinn und Verständnis für die besonderen Wünsche der Klientel hat, aber auch mehr kann, als gefallene Söhne und Töchter bei minimierten Schaden in der öffentlichen Meinung heraushauen. Jemand, der gerade nicht in die interessierten Kreise involviert ist, jemand, bei dem man sich nicht an fünf Fingern abzählen kann, welchem Clan welches Unglück wiederfahren ist. Ein Herr, geschätzt und allert bei Gericht, aber gleichzeitig nicht auffallend, nicht mit lauter Gattin gesegnet, kein Honoratior, sondern einfach eine effiziente Funktion mit möglichst wenig Profil. Und wenn dann etwas passiert, und eine Ahnung die Runde macht, ist wenigstens nicht mehr Information unterwegs, als unbedingt sein muss. Das Angenehme an Reifenschlitzereien, Drogenbesitz und Sachbeschädigung ist ja, dass es keinen fundamentalen Widerspruch zu einem gesitteten Betragen bei Tage gibt. Wenn so etwas die Runde macht, können es viele gewesen sein. Erst ein lauter, bekannter Anwalt macht die Sache gross, die er dann klein machen muss.
Mit so einem Unprominentenanwalt könnte man auch hervorragend eine Lücke schliessen zwischen all den kleinen, durchaus fähigen, aber mit der Delikatesse solcher Spezialanforderungen nicht erfahrenen Anwälten in Wald und Wiese, und den grossen, alten Familien der Gesetzesbiegung. Die steigende Neigung der Jugend zum Alkohol, die Freude am Vorglühen und die Notwendigkeit, sich mindestens wie die Rapper im Musik.TV zu benehmen, schafft zunehmend mehr Arbeit, weil die Besitzenden in den Innenstädten weniger Verständnis zeigen. Es gibt Überwachungskameras und Bürgervereinigungen, wachsame Augen und schnelle Telefonate, und hier sehe ich dann auch gute Chancen für all jene Nachwuchsjuristen, die diese meine Schicht zeitigt: Wenig erfolgreiche, eher aus Desinteresse die Juristerei studierende NichtBWLseinwoller, mit durchaus guten Manieren, aber ohne jede Chance in einem veränderten und globalisierten Berufsbild mit Law Firms und Profit Centern. Es ist leichter, eine Scheibe einzuwerfen, als einen stillen Anwalt Nacht um Drei zu bekommen. Das ist eine eindeutige Marktlücke für Junganwälte und die Rettung für so manche heile Familienvortäuschung. Zumindest so lange, bis man hinreichend erklären konnte, warum für den eigenen Nachwuchs die Schulen hier zu kaputt und verblödet sind, und man nun die Hilfe einer Privatschule für unumgänglich hält.
So kommen sie denn auch über das Abitur, durch das Studium, fangen sich vielleicht oder erben wenigstens ordentlich, machen wieder einen kleinen Fehler hier und eine Trunkenheitsfahrt da, aber sie wissen es ja: Es gibt jemanden, den sie immer anrufen können, der immer da ist, wenn etwas passiert, und der es versteht, im Hintergrund zu bleiben. So werden aus Problemkindern geschätzte Stammkunden. Wir sind einen langen Weg von der öffentlichen Hinrichtung über den Pranger und Prozesse bis zur überlasteten Justiz gegangen, die auch froh ist, wenn sie solche Zwischenfälle irgendwie beiseite legen kann, vergessen, abschliessen – und dafür wird man abschliessende Funktionsanwälte brauchen, die still und sanft agieren, wie es dem Geist der Zeit entspricht, dezent und ruhig wie der Dieb in der Nacht, auf dass niemand etwas merke oder gar zu vergleichen weiss, was die Gattin des Anwalts einerseits und die Tochter des Verurteilten andererseits zu erzählen wissen. Wenn, wie vor nicht allzu langer Zeit, mal wieder wegen Luxemburger Fonds Akten in Dienstfahrzeuge geschleppt werden, ist das genug Aufregung für dumme, kleine Städte an der Donau und anderen trägen Flüssen dieses Landes.