Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Ein gewisses Grundgesetz, das nicht in der bayerischen Verfassung steht.
Hin und wieder, wenn es etwas zu erzählen gibt aus Ehestreitigkeiten und Problemen mit Kindern, von der Razzia beim Anlageberater und vom nicht ehrenwerten Betragen oder auch nur der Ödnis der politischen Kaste – bremst man sich mir gegenüber plötzlich und sagt: Aber schreib darüber ja nichts im Internet!
Und schaue verblüfft unschuldsvoll, mit pausigen Bäckchen und plüschigen Mondkalbaugen, und schwöre leichtfertig heiligste Eide auf alle Säulenheiligen der Evangelen und und beim Barte der Kapitalismuspropheten, dass ich gar nie nicht je auf den Gedanken gekommen wäre, das im Internet auszubreiten. Daheim erforsche ich dann die Ruinen meines Gewissens, und muss aber tatsächlich auch sagen: Ich habe die Gesetze der Indiskretion tatsächlich mehr verinnerlicht, als es diesem von Plauderei lebendem Berufe fürderlich wäre. Aber es sind Gesetze, und ich halte mich daran. Vielleicht können wir mal anhand von Beispielen darüber reden, wie Indiskretion gesetzlich geregelt ist: Sie ist ja nicht verboten. Sie muss in meinen Kreisen nur im Rahmen der Gesetze bleiben.
Denn natürlich lieben alle die Indiskretion. Sie ist, banal gesagt, Herrschaftswissen. Gerade in dummen, kleinen Städten wie der meinigen und ihren besseren Kreisen kann das über Generationen zusammengetragene Wissen über den jeweils Anderen über Erbkrankheiten und Vermögen, über Risiken etwaiger Schwiegermütter und beruflliche Chancen Auskunft geben. Diesen Sommer etwa musste ich bei einer Mieterin die Fenster neu einlassen, was man eigentlich jedes Jahr tun sollte. Währenddessen plauderten wir etwas, und sie erzählte mir von den Problemen einer Freundin mit einer Vermieterin in der Altstadt. Die wollte diese Freundin aufgrund eines leitenden Engagements in einem Netzwerk dazu bringen wollte, die Wohnung während eines Semesters an eine bestimmte, ihr untergebene Person unterzuvermieten. Für die Mieterin ist so ein Ansinnen ein undurchschaubares Verhalten, aber für mich… die sind seit Generationen in der Stadt verschrien, die vermieten an Auswärtige, weil hier keiner bei denen mieten würde, sie selbst ist eine ganz Gaache, wie die schon ihren Mann rumkommandiert, da lohnt sich der Streit nicht, die Freundin solle lieber kündigen und sich was anderes suchen, ich glaube nämlich, die Frau H., die einen guten Ruf hat, die könnte noch was haben.
Ich hoffe, ich war jetzt nicht zu indiskret. Niemand kann ahnen, um wen es hier geht – ausser ein paar Dutzend Lesern, die ohnehin wissen, welche stadtbekannte Brietschhena und welche Vereinigung ich meine. Aber so hilft dieses Wissen, die richtigen Leute und Geschäfte zusammenzuführen und den wenig erbaulichen Mitgliedern der Gesellschaft das Investmentobjekt Altstadt ein klein wenig zu – ach so wir wollten ja über die Regeln sprechen. Also, die Regeln. Man darf indiskret sein, wenn man die richtigen Parameter im Auge behält:
1. Je besser einen Indiskretion für den Betroffenen ist, desto freizügiger darf sie geäussert werden.
Nehmen wir der Einfachheit halber einmal an, ein nicht mehr ganz junger, allein lebender Mann erwirbt eine Wohnung am Tegernsee und damit an dem Ort, wo der typische Bayer idealerweise dem Krebstod entgegendämmert. Der junge Mann wird natürlich den Teufel tun und in seinen Kreisen damit angeben, dass er jetzt Miesbacher ist und jeden zweiten Konzerttermin absagt, weil die Konzerte im Schloss Tegernsee doch so viel besser sind, und die Staatsoper erreicht er in 40 Minuten, und erst das Programm für Alte Musik in Schloss Ambras, danach gerne noch ein wenig Ausgehen in Innsbruck – niemals würde der junge Mann auch nur den Eindruck erwecken wollen, er halte sich jetzt für etwas Besseres als die Deppen, die sich eine Ostimmobilie, ein Skorpionloch in Dubai oder in Auflösung befindliche Fonds für Geschäftshäuser haben aufschwätzen lassen. Diesem jungen Mann also kann es nur recht sein, wenn in Umlauf gebracht wird, dass er ab und an auch am Tegernsee in seiner neuen Wohnung ist, doch doch, man hat ihn auch schon besucht, gegenüber ist der Berg, die Sicht ist schön, und man hat dort durchaus angenehme Möglichkeiten, eventuell wäre das sogar eine Wohnung, wo es sich ein Paar gut gehen lassen könnte… Der nicht mehr ganz junge Mann könnte, darauf angesprochen, ganz anders reagieren als, sagen wir mal, ein anderer, dessen Fehlinvestitition in Morgan Stanley P2 Value und Degi Europa die Runde machen: Ach ja, da habe ich so eine kleine Wohnung… aber die Terrassse ist ganz nett… kommen Sie doch mal vorbei, wenn Sie nach Innsbruck fahren… da sind in Schloss Ambras übernächste Woche wirklich hinreissende Konzerte… und natürlich würde ich mich freuen, Ihre Tochter auch mal wieder zu sehen… wie geht es ihr denn in Berlin?
2. Je älter die zugrunde liegende Geschichte ist, desto leichtherziger darf geplaudert werden.
Wie es eben so geht, wenn sie was mit Medien machen wollte, und die Agentur nicht richtig auf die Beine kommt. Daheim wäre das nicht passiert, da kennt man die richtigen Leute, aber Berlin ist undurchschaubar, da gilt man als Besitzer eines Dentalbetriebes wenig. Aber über solche Pleiten darf man natürlich nicht reden, denn es würde an der übergreifenden Sicherheit sägen, dass die Kinder es doch besser haben werden. Nun ist diese unsere Welt klein, und moderne Vorstellungen von der Verzeihbarkeit einer Insolvenz oder eines anderen Debakels sind nur begrenzt verbreitet. Vor wenigen Jahren ging hier die Damenausstatterin der gesamten Gesellschaft aus bester Familie bankrott: Das weiss jeder, aber man redet nicht darüber. Das Thema wird totgeschwiegen, obwohl es in der Zeitung stand. Über den Megapetrolskandal, der diese Kreise als Investoren direkt betraf, kann heute schon wieder gelacht werden. Und was vor dem Krieg war – nun, jeder weiss, dass damals die Sitten andere waren, das waren noch harte Männer, und wenn einer meiner Vorfahren berüchtigt war, weil er nach dem Kauf grosser Ladungen von Getreide und erbitterten Verhandlungen immer noch seinen grossen Hut hingehalten hat, damit man ihn noch einmal kostenlos fülle – dann ist das eine spassige Anekdote, die jeder gern wissen darf. Diejenigen, die ihn hassten, sind lange tot, und ich selbst habe nichts, aber gar nichts davon geerbt, solange ich nicht gerade Antikmärkte besuche.
3. Gleichrangige müssen vor Untergebenen bevorzugt versorgt werden.
So etwas würde man unten, wo man sich neue Möbel aus Geschäften mit XXL-Namen holt, sowieso nicht verstehen. Man muss auch gar nicht mit denen darüber reden, dass man die Konzerte derjenigen, mit denen man seit Generationen freundschaftlich-respektvoll verkehrt, jetzt nicht als optimal betrachtet. Das kann man unter seinesgleichen sagen und hoffen, dass es ein wenig die Runde macht, weitergetragen wird, und bei den entsprechenden Personen als leiser Ratschlag ankommt. Das ist natürlich ein gewisses Risiko, denn aufgeblasen und böse interpretiert wird aus einer leichten 12-Ton-Kritik schnell ein Anlass, durch den man als niveauloser Trottel dargestellt wird – aber in der Regel wissen die Beteiligten, dass solche Mittel ebenso billig und wohlfeil anderen zur Verfügung stehen, und jede Übertreibung das Risiko in sich birgt, als unzuverlässige Ratschkattl dazustehen. Das würde einen aber schnell von der Versorgung mit Indiskretionen abschneiden. Also redet man, profitiert von der Weitergabe und respektiert die ehernen Gesetze der Sozialkontrolle. Dafür sind die Informationen auch exklusiv, und man muss nicht die Köchin ausfatschln.
4. Dafür kann man die Untergebenen als Kanal für die Dinge nutzen, die man eigentlich nicht sagen kann.
Denn es gehört sich nicht, Untergebene, die nur untergebene Informationen haben, um Indiskretionen anzubetteln. Wer klug ist, bedenkt den Umstand, dass die Gesetze der Sozialkontrolle nur in Schichten greifen, die sich gegenseitig für das Leben und über den Tod hinaus verpflichtet sind. Untergebene werden bezahlt, und ihre Verpflichtung endet am Tag, da man nicht mehr bezahlt. Wenn überhaupt. Meistens erzählen sie trotzdem alles weiter, von dem sie glauben, dass sie es erzählen können. Das wiederum ist ein Vorteil, denn genauso, wie es mitunter ratsam sein kann, diskrete Indiskretionen unter gesellschaftlichem Druck zirkulieren zu lassen, kann es sinnvoll sein, sich die Eigenarten von Untergebenen zu eigen zu machen, wenn die Indiskretion gross sein soll, ihre Aufdeckung aber den Urheber nicht schädigt. Ein Beispiel: Schleicht sich das Aas von Nachbar heimlich in den Garten, um die ihn störenden Rosen an der Grenze abzuschneiden, und glaubt er, dass die Konvention es nicht zulässt, dass man ihn dafür ausrichtet, weil er dann antworten könnte, wer wolle schon so einen Blumenverhau über seinem Zaun haben, aber er wisse von gar nichts – passiert also so ein Frevel, und kann man nicht direkt reagieren; nun, dann erzählt man es eben der Putzfrau, die auch bei allen anderen zu Gange ist, nur nicht beim Grattler nebenan, der alles seine Frau machen lässt. Und man erzählt es zuerst mit den schillerndsten Farben und grössten Gefühlen – um dann zu sagen, man wünsche aber nicht, dass es die Runde macht, und man könne es hier niemandem sagen, nur eben der Putzfrau, der vertraue man sich an, so ein Verbrechen, die schönen Rosen…. Information wants to be free, sagen heute Internetfreunde, aber das wissen wir schon lang. Free, und vor allem: Big.
5. Man lacht nie über das Unglück anderer Leute.
Auch die grösste Befriedigung muss stets unter dem Mantel des Bedauerns daherkommen. Nie sei die Rede: “Dieses miese Drecksstück aus der Medikamentengosse hat mir schon in der Schule die Mädchen ausgespannt, ich spucke auf die Reste seiner verpfuschten Ehe.” Stets sage man: “Ich verstehe das überhaupt nicht, er was doch so beliebt und immer voller Charme, es ist wirklich nicht zu begreifen, wie das passieren konnte – ach so? Sie wissen das noch nicht? Der Ärmste lebt in Scheidung! Schlimm! Also, bei den tollen Vorbildern, die er hatte, seine Eltern hatten es bei der Arbeitsbelastung durch zwei Apotheken auch nicht leicht, aber sie blieben durch dick und dünn zusammen, aber heute zählt das nicht mehr. Naja. Darf ich Ihnen noch ein Stück Kuchen anbieten?” Je grösser die Zufriedenheit, desto grösser auch das Bedauern, in dem die Indiskretion vorgetragen wird.
Man hat also, grob gesagt, fünf Parameter, zwischen denen man eine Indiskretion aufhängen und gestalten kann. Neue, banale Indiskretionen werden anders verbreitet als böse, etwas ältere Geschichten, man kann die Mottenkiste des Alten bemühen, um Neues in Traditionen zu stellen und Nettes, Nachdenkliches sagen, ohne sich als Giftspritze geben zu müssen. Natürlich ist das komplex und nicht zwingend ehrlich, aber man kennt es nicht anders. Und es hilft, wenn man, wie ich, einen Beruf ausübt, der nur begrenzt den Standesdünkeln entspricht.