Normalerweise wird hier immer etwas ironisch über die eingebildeten Stützen der Gesellschaft aus westdeutschen Wohlstandsregionen berichtet. Diesmal, ausnahmsweise, nicht. Diesmal geht es um diejenigen, die diese unsere Gesellschaft wirklich stützen.
1323. Ein gewisser John Lutterell reist an den Papsthof von Avignon, um dort den Philosophen William von Ockham wegen Häresie zu verklagen. Nach einem fünfjährigen Prozess befindet eine Kommission, als deren Ankläger Lutterell fungiert, Ockham der Häsresie für schuldig. Unter anderem hatte Ockham die Frechheit besessen, im Sinne von Aristoteles eine Widerspruchsfreiheit in philosophischen Diskussionen zu fordern. Zudem begann er, sich am prunkvollen Papsthof Gedanken über das eigentlich geltende Armutsgebot der Kirche zu machen. Letztlich bleibt ihm nur die Flucht zum deutschen Kaiser Ludwig dem Bayern, unter dessen Herrschaft und Schutz er eine Reihe von den Päpsten verhasste Bücher schreibt. Ockham lehnt das scholastische Denken ab, in dem nur das weitergelehrt wurde, was als erwiesen und richtig galt, und setzt eigene Beobachtungen dagegen. Davon ausgehend, walzt Ockham die Widersprüche zbd Doppelmoral der kirchlichen Oberhäupter aus. Die exkommunizieren ihn dafür und hätten ihn wohl gerne verbrannt, wenn sie ihn erwischt hätten.
1415 ist es dann so weit: In Konstanz verbrennt man den tschechischen Kirchenreformer Jan Hus. Der hatte es ab 1402 gewagt, in der Volkssprache zu predigen und den Menschen damit bisher Klerikern vorbehaltenes Herrschaftswissen nahe zu bringen. Zudem trat er für das damals revolutionäre Philosophieprinzip der “Gewissensfreiheit” ein, und machte ausserdem eine Reihe von Skandalen der Amtskirche weithin öffentlich. 1408 versuchte der Erzbischof von Prag, ihm die Erlaubnis zur Predigt zu entziehen und ihn damit mundtot zu machen. Hus hielt sich nicht daran und brachte weite Teile der böhmischen Bevölkerung hinter sich. Von dem, was damals mit drei streitenden Päpsten die Kirche sein wollte, wurde er exkommuniziert, und versuchte, in Konstanz seine Lehre zu verteidigen. Dafür gab es eine Zusicherung für freies Geleit, aber schon nach drei Wochen wurde er festgenommen, dann gefoltert, verurteilt und auf dem Scheiterhaufen mit seinen Werken verbrannt. Seinen Freunden schrieb Hus:
“Das aber erfüllt mich mit Freude, daß sie meine Bücher doch haben lesen müssen, worin ihre Bosheit geoffenbart wird.”
Als Luther 1517 mit seinen Thesen einige unangenehme Wahrheiten über den Papst und etliche Fürsten öffentlich verbreitet, über Nepotismus, sinnlose Schlächtereien in Gottes Namen, den Aberglauben an Ablässe, später auch über Ränkespiele der Kurie und andere Verfehlungen, über die man sonst nicht zu tuscheln wagte, so man sie überhaupt erfuhr – hatte er mehr Glück. Und einen sicheren Hafen, in dem er und seine Helfer Zuflucht fanden. Und Druckerpressen, um ihre Ansichten zu verbreiten. Auf allen Kanälen übrigens; die Reformation und Gegenreformation setzten nicht nur auf gelehrte Schriften, sondern wüste Beschimpfungen des Gegners (“Sau aus Ingolstadt” für den Katholiken Eck), auf Sex and Crime der verrufenen Einblattdrucke, um der jeweils anderen Seite ihre Defizite aufzuzeigen. Nebenbei machte Luther die Bibel auch denen zugänglich, die nicht Latein beherrschten, und sich so selbst einen Einblick in ihre Religion verschaffen konnten. Das 1521 – juristisch fragwürdig zurückdatierte – Edikt des Reichstages von Worms, das unter anderem das Drucken und das Lesen von Luthers Werken verbot, hatte diesmal nicht wirklich gute Chancen gegen die Druckerpresse.
Mehr “Glück”, wenn man so will, hatten die Behörden dann im Jahre 1600 bei Giordano Bruno. Der ehemalige Dominkanermönch hatte eine Vorliebe für die in seiner Zeit wiederentdeckten Philosophen der Antike und neumodische Astronomen, und postulierte die Unendlichkeit des Weltalls – was in jener Epoche der Kirche vorne beim geozentrischen Weltbild und hinten bei der christlichen Philosophie nicht passte. Unstet und häufig auf der Flucht irrlichterte Bruno durch Europa, oft im Streit mit seinen Kollegen, und verhasst für seine amüsanten Texte über die Nickeligkeiten des gelehrten Betriebs. Bruno war eine Rampensau, das Gesicht und der Frontmann einer ganzen Generation von Forschern, die keine Lust mehr hatte, alte Lügen zu glauben. In Venedig schliesslich wurde er von einem Gastgeber an die Inquisition verraten, nach Rom verbracht, erst von der Kirche und dann von den staatlichen Stellen verurteilt, und dann auf dem Campo del Fiore öffentlich verbrannt. Damit er nicht zum Volk reden konnte, band man seine Zunge fest. Den Richtern, die ihn zum Schweigen bringen wollten, sagte er:
Mit größerer Furcht verkündet Ihr vielleicht das Urteil gegen mich, als ich es entgegennehme.
Tatsächlich schreitet die menschliche Entwicklung fort, und der Philosoph und spätere Schöpfer der Enzyklopädie Denis Diderot wird nicht umgebracht, als er 1749 im Gefändnis von Vincennes landet. Trotzdem wollte man ihm damit den Mund schliessen; die Zensur lastete ihm den erotischen Erfolgsroman “Die indiskreten Schatzkästchen” an, der ein Jahr zuvor anonym und mit erfundenem Druckort erschienen war. Darin breitete Diderot hemmungslos die sexuellen Zustände am französischen Hof zu aller Leser Gaudium aus. Die Handlung war zwar in Afrika angesiedelt, aber jeder wusste, um welche Unterleiber es da ging. So viel Erkenntnis über die Lustbarkeiten für alle Untertanen waren dann doch zu viel – Diderot musste eine Weile schmoren, und schrieb derweilen weitere Schweinereien. Später gab es genug Versuche, ihm die Enzyklopädie mit dem Wissen für die Allgemeinheit zu verbieten, oder auch seine skandalträchtige Beschreibung der Zustände in Nonnenklöstern, in die junge Frauen gezwungen wurden. Es half nichts. Diderot war zu erfolgreich, man konnte es sich nicht leisten, ihn mundtot zu machen.
Eine französische Revolution später hatte Deutschland einen Erfolgsdichter namens Heinrich Heine. Ein Bestsellerautor. Ein genialer Schreiber, ein gnadenloser Reporter seiner Zeit. Und Deutschland hatte Zensoren. Die sorgten dafür, dass man von Heine möglichst wenig bemerkte, was bei einem Bestsellerautor natürlich nur teilweise gelang – zu gern wurde er gelesen. So etwa folgendes Gedicht von 1827, kurz vor seiner Übersiedling nach Frankreich, das nichts und alles über die Zustände sagt:
Die deutschen Censoren — — — —
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— — — — — Dummköpfe — —
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1962 zitierte der Spiegel aus internen Unterlagen des Verteidigungsministeriums, die deutlich machten, dass die Bundesrepublik einem Angriff der Sowjetunion wenig entgegen zu setzen hätte. Aufgrund einer Anzeige wegen “Landesverrats” wurden der Herausgeber Rudolf Augstein und mehrere Redakteure verhaftet – der Autor des fraglichen Artikels auf Veranlassung von Verteidigungsminister Franz-Josef Strauss unter falschen Beschuldigungen in Spanien. Augstein war 103 Tage in Haft, während sich die Affaire durch den Druck der Bevölkerung und der Medien zur Staatskrise auswuchs. Strauss musste zurücktreten, und das Verfahren wurde 1965 mit einem Freispruch für die Angeklagten beendet. Seitdem war man relativ sicher, wenn man geheime Unterlagen publizierte. Immerhin.
2010 wird Julian Assange, der Gründer von Wikileaks, in England aufgrund eines internationalen Haftbefehls aus Schweden (Hintergründe hier) verhaftet. Eine vorläufige Freilassung gegen Kaution wird abgelehnt. In den USA wird Druck auf Firmen und Institutionen ausgeübt, Wikileaks aus dem Internet zu verbannen, zu zensieren, die Spenden zu blockieren, und zudem versucht, Assange vor Gericht zu bringen. Der Verteidigungsminister der USA hält die Verhaftung für eine “gute Nachricht”. Der mutmassliche Informant der von Wikileaks verbreiteten Informationen über die Kriege in Afghanistan und im Irak, und der diversen Vorgehensweisen des Aussenministeriums bishin zur Bespitzelung der UN, ist seit Monaten in Haft. Die Prozesse, wenn es dazu kommt, werden so fair sein, wie sie eben sein können in einem Land, in dem ein Präsident zugeben kann, persönlich Folter angeordnet zu haben, und dafür nicht zur Rechenschaft gezogen wird.
Ich persönlich bin mir mit Blick auf die 7 Jahrhunderte Wikileaks sehr sicher, dass man Assange wie seinen Vorgängern einst auch ein Denkmal errichten wird. Man wird über seine Verfolger und ihre Verbrechen verächtlich reden, wie man heute verächtlich über Scheiterhaufen denkt, und sich über diese seine Zeit wundern, da die Bürger, die nun endlich frei und mündig gewesen wären, nicht genug getan haben, diejenigen zu schützen, die die Wahrheit sagten, und jene gewähren liessen, die sie bewusst belogen. Historiker werden vielleicht die Unterlagen finden, die Aufschluss über die Menschenjagd unserer Tage und die erste Phase des 1. Datenweltkonflikts liefern, und den Kopf schütteln über die Büttel der schreibenden Zunft, die das auch noch unterstützt haben. Für den Historiker mag es tröstlich sein, sich vorzustellen, dass es irgendwann eine Statue geben wird, die trotz Taubenkot und davor spielenden Kindern zur Wahrheit und Offenheit mahnt. Schon aus heutiger Sicht wäre so eine Art Heinedenkmal sehr nett, wie es Kaiserin Sissi auf Korfu hatte.
Und nicht ein Denkmal wie das, das für Giordano Bruno auf dem Campo del Fiore an der Stelle errichtet wurde, wo man ihn ermordet hat.