Man soll den Teufel nicht an die Wand malen
Aber genau das habe ich beim letzten Beitrag getan, und als ich dann gestern beim Rodeln war, kam der Teufel. Heute übrigens auch, in Form einer sehr adrett aussehenden, flirtwilligen, alleinerziehenden Mutter mit gar nicht so terroristischem Kind in der Hütte am Tisch neben mir, vade retro satanas. Aber der Teufel, von dem ich erzählen will, war der Teufel von gestern, und der bestand aus zwei Berliner Ehepaaren und ihren vier Kindern. Und sie alle waren am Berg, an meinem Berg, wo Preissn eigentlich nichts zu suchen haben. Hinten ein dickes, junges Ehepaar, nennen wir sie Johanna und Florian, und vorne ein dürres Ehepaar, sagen wir mal Nele (die hesissen wirklich so da oben) und Patrick. Dazwischen das übliche in überteuerter Kindermode steckende TabaeaThorbenTheresiaTheodor-Elend (TTTT). Und weil Nele und Patrick die Sache sportlich angehen wollten und Johanna und Florian zu viel in der Anwaltskanzlei sitzen, weitete sich zwischen ihnen der Abstand. Ihr nichtswürdiger, übergewichtiger Blogger war zwar etwas schneller, aber doch so langsam, dass er ein paar Minuten in den Genuss der gebrüllten Konversation in Waldesruh kam, worüber der Himmel feinen Sprühregen ergoss.
TTTT: Wäh kalt heim Fernsehen Playstation essen wie weit ist es denn noch.
Johanna: Das wird schon nicht mehr so weit sein.
Ich (wie der Meuchelmörder von hinten kommend): Griass eana God!
Florian: Guten Tach. SagenSe mal, wie weit ist es denn noch auf den Berg zu dieser Hütte?
Ich: Jo mei, es san scho no, mei, oiso i brach a Schtund fei scho bis zum End vo da Rodlschtreckn, und nochad no a hoibe bis gonz auffi.
TTTT (Die Münder so weit offen wie jenes Krokodil, das ihre Mützen eingestickt haben): WÄHHHHHHHHHHH!
Johanna: Nele! Patrick!
Nele, Patrick: (stiefeln weiter)
Johanna (wütend): NEEELE!
Nele: JA?
Johanna: DER HERR HIER SAGT, ES IST ZU WEIT!
Patrick: ACH WAS! DAS GEHT SCHON!
TTTT: Wäh mag nicht mehr kalt bäh
Johanna: (schaut Florian böse an)
Florian: PATRICK! BITTE WENIGSTENS NICHT SO SCHNELL!
Patrick (der geborene Dynamik-Coach): DAS SCHAFFEN WIR!
Johanna und Forian (Begreifend, dass es etwas anderes ist, mit den Freunden Nele und Patrick im Gasthaus Alt-Wien in Berlin zu essen, als an der Neureuth wahlweise zu erfrieren, von TTTT in den Wahnsinn getrieben zu werden. oder sich von den Dynamikern zum Herzinfarkt bringen zu lassen): NEEEEEEEELE!!!!!!
Den Rest, so unterhaltsam sich der vielleicht auch im Warmen mit einer guten Tasse Tee lesen lässt, erspare ich Ihnen jetzt. Ich hörte den Streit der Ehepaare an, ausgetragen über weite Distanzen mit grosser Lautstärke, und mit dem Ergebnis, dass TTTT, Florian und Jahanna zurück in das Hotel fuhren und Nele und Patrick weiter ihre Funktionskleidung dem Regen aussetzten.
Nun ist das grosse Thema dieses Blogs die Frage, wie sich die besseren Kreise von Beginn des 19. Jahrhunderts an geformt haben, und wie diese Kreise mit den radikalen Veränderungen der letzten 30 Jahre fertig wurden. 30 Jahre, in denen sie ihre Bedeutung umfassend an die Globalisierung und die Konzerne verloren, in denen sich die Massenkultur vollkommen von ihrem Kulturbegriff abkoppelte, in denen nur das Neue zählte und die Traditionen langsam verschwanden. Dieses Blog erzählt von der Gegenwart und einer neuen Generation, die Scheidung und das Alleinerziehen von Kindern nicht mehr als Makel begreift, die Ehen als vorübergehende Flausen begreift, und die Ausbildung der kommenden Generation als Investment in Leistungsträger für den globalen Markt. Niemand käme heute noch auf die Idee, dem Kinde zu sagen: Für Dich reicht es, und wenn Du keinen Fehler machst, wirst Du bis an Dein Lebensende alle Berufstätigen auslachen können, such Dir eine passende Frau, wir haben es ja. Beziehungen werden fragil und Freundschaften ein Knopfdruck bei Facebook, die Defaulteinstellung für das Leben, meinte eine Mitbloggerin einmal, sei “it’s complicated”. Und es wäre für meine Eltern vollkommen unvorstellbar gewesen, sich mit anderen Eltern im Urlaub öffentlich zu streiten. Das wurde schon im Vorfeld durch genaues Überlegen und Planen ausgeschlossen.
Diese Gegenwart ist für mich, der ich eine gute, klassische Erziehung habe, ein Stupor Mundi, gerne würde ich Eltern, die ihre Kinder in der Stadt mit einer Bierflasche in der Hand antreffen, einen schweren, frischen Eichenprügel reichen, mit dem sie wenigstens die elektronischen Gerätschaften des Nachwuchses zertrümmern. Mir ist durchaus klar, dass Bergurlaub im Regen nur begrenzt angenehm ist, und wer wäre ich, dass ich die Defizite bei Florian, Johanna, Nele und Patrick ändern wollte – die sind eben so. Aber, und das treibt mich nicht erst seit gestern Abend um: Wie werden die in 15 Jahren sein, wenn es Sylvester ist, und TTTT kommen von den katholischen Internaten heim in die bis dahin entstandenen Patchworkfamilien (bei Florian und Johanna sicher, aber auch bei Nele würde ich wetten, dass sie 2013 den Rappel bekommt, wenn sie Patricks Okcupid-Profil findet), um endlich ihre Pubertät mal richtig krachen zu lassen?
Es war früher recht einfach und harmlos, gegen geordnete Verhältnisse zu revoltieren: Ein paar abwertende Worte über die Ehe, ein paar ausschweifende Feste, die Wahl eines Orchideenfachs beim Studium und 15 Semester, bis man doch Jura machte, ein Totalschaden, eine Freundin aus einem nicht ganz westlichen Viertel, deren Eltern den Bonzenzögling nicht mochten. Wie aber revoltiert man gegen ein “Neobiedermeier”, in dem die Kinder zwar Geigenunterricht und die erste Fremdsprache schon im Kindergarten bekommen, aber die Eltern beim Besten für das Kind keine stabile Beziehung im Auge haben? Wie empört man sich gegen einen Vater, der schon drei Frauen weiter ist, wie setzt man sich gegen eine Mutter und ihr optimiertes Profil bei Elite Partners ab? Wie setzt man die Unbeständigkeit und Unverbindlichkeit von Leuten noch eins drauf, die noch nicht mal ihr eigenes Leben so im Griff haben, wie es der Geigenunterricht für die die Kinder suggerieren soll?
Es ist nicht zu bezweifeln, dass TTTT darauf angemessene Antworten suchen und finden werden, und es wird sicher nicht ein wenig Gemotze aus Designerkleidern sein. Es wird etwas sein, worauf die Berlinschwaben keine angemessene Antwort haben: Weil das geordnete Neobiedermeier mit seinen Konzertbesuchen, angesagten Pop-CDs, Galerien, Alt-Wien, Dauerjugendlichkeit und Zwangsattraktivität nur die Fassade für ein Leben ist, in dem der globalisierte Leistungsdruck und die private Neigung zu den unverbindlichen Gelegenheiten die eigentliche Messalliance des Lebens eingehen. Das kann und wird man ablehnen, und die Ablehnung wird all das Verlogene dieser Lebenskonzepte in sich tragen. Vielleicht sollte man sich den Geigenunterricht doch sparen?
Sie sehen, ich beende 2010 mit einer Frage. Ich habe eigentlich auch keine Antworten, ich weiss es nicht, es ist nicht mehr meine Welt, und wer weiss schon, was ich 2025 mache, wenn TTTT den Gashahn aufdrehen und
Vermutlich rodeln gehen, nehme ich an. Weit, weit weg. Hier am Berg in Oberbayern ist das alles ohnehin noch etwas anders. Alles andere weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass ich sehr herzlich Danke sagen möchte für all die freundlichen, spannenden und angeregten Debatten hier bei den Stützen der Gesellschaft; und vielleicht denken Sie ja 2025 dann auch zurück an die gute, alte Zeit, als sich noch jemand ärgerte, weil das Gschleaf mit Bierflaschen in der Hand durch die Strassen zog. 2011 geht es dann weiter.