Nackt stand sie vor dem Hintergrund aus grünen Bäumen
Jose Saramago, Vergeltung
Soll ich Kuchen kaufen?
Ja, bitte, ich habe noch nicht gefrühstückt.
Es ist der erste Januar, vier Uhr Nachmittags, ich komme gerade vom Rodeln zurück, eine Freundin ruft mich an und erzählt, dass sie auch am Tegernsee ist: Ihr Freund hat ihr unter anderem ein paar Gutscheine für den hiesigen “Wellnesstempel” am See mit Saunaschiff und allen Optionen geschenkt. Und nun hat sie genug vom Rumliegen und kommt zum Tee vorbei. Und sie will Kuchen. Weil sie noch nicht gefrühstückt hat. Wie sich danach herausstellt, ist der Grund dafür keine Verkaterung, sondern ein Projekt, das nochmal am Morgen überprüft werden musste. Und dann ab in die Sauna.
Das alles hat natürlich sein Gutes, denke ich mir beim Weg über die Uferstrasse zum Konditor: Sollte sie mir nachher entkräftet entgegensacken, kann ich sicher sein, einen nach allen Regeln der Kunst gesäuberten, entspannten und durchmassierten Körper in Händen zu halten, wohlriechend und mit seidig glatter Haut. Beim Rodeln haben sich vorgestern welche derrannt, da war viel Blut auf der Piste: So gesehen wäre sie im Vergleich zum Knochenblutbrei sicher eine angenehme Abwechslung für die Sanitäter gewesen. Aber sie hat auch den Weg bis zu mir geschafft und alles brav gegessen, auch mein Stück Kuchen, und ich habe sie nicht gross mit der Frage inkommodiert, warum zum Teufel sie so etwas macht. Die Frage ist ebenso sinnlos wie bei Kettenrauchern, adernschlitzenden Jugendlichen, Anorexiefreundinnen und Fans des Ehepaars Guttenberg. Die sind halt so.
Ausserdem kenne ich die Antwort. Es geht nicht anders. Es muss sein. Sie hat auch ohne Frühstück schon zu wenig Schlaf, man kann sich ja unterwegs eine Semmel kaufen, Termine kennen keine Feiertage, Sklaven haben keinen Urlaub, wer in einer verantwortungsvollen Position ist, muss andernorts Abstriche machen, woanders geht es auch nicht anders zu, das ganze viele schöne Geld kommt nicht von nichts, das ist nur noch diese Woche mit den Resten, die letztes Jahr nicht fertig wurden, in drei Wochen geht es sowieso in den Resturlaub, weil der sonst verfällt, auch wenn man keine Ahnung hat, wer dann die ganze Arbeit macht, aber das gönnt man sich schon und man ist ja auch per Mail erreichbar. Erstaunlicherweise hatte mein Vater eine nicht unwichtige Position in einer nicht kleinen Firma, deren Aufträge sehr viel grösser waren als, sagen wir mal, eine Pressemitteilung, eine Ausgabe des krepierenden Focus oder ein Konzept für einen Kunden, der noch nicht gewonnen wurde: Er hatte kein Mobiltelefon und kein Internet und immer Zeit für Frühstück und Urlaub, und niemals ging die Firma deshalb pleite.
Was mich bei derartigen Verschiebungen wirklich erstaunt, ist die Rolle der gedruckten Medien: Der Wirtschaftsteil dieser Häuser propagiert massiv die Bereicherung durch mehr Arbeit und Anpassung an die Ideale des chinesischen Mörderregimes und seiner kapitalistischen Büttel, bekannt als Globalisierung, und im Verlag wundert man sich, warum die Auflage sinkt, und die jungen Leute nicht mehr lesen: Vielleicht gar nicht mal, wie gern unterstellt wird, weil sie das Internet so toll finden, sondern weil die Zeit für das Lesen allenfalls in der Bahn oder im Flugzeug gegeben ist – wo die Zeitung dann oft genug verschenkt wird. Man wünscht sich folgerichtig ein Leistungsschutzrecht im Internet und entsprechende Einnahmen, statt dafür einzutreten, dass den Kunden die nötige Zeit für das Lesen einer Zeitung bleibt. Nicht nur meine Bekannte, scheint es, ist in diesem logischen Hamsterrad gefangen.
Und das System nimmt aus den steigenden Anforderungen und ihren Erfüllungen als Erkenntnis mit: Es geht doch. Entweder die anderen sortieren ihr Leben um, oder geben etwas auf, das nicht so wichtig ist, oder sich anders organisieren lässt. Das Frühstück ist das beste Beispiel dafür: Man kann es mit einer Semmel und einem Kaffee im Pappbecher in die Anreise zur Arbeit packen, und hat als Nebennutzen auch noch Zeit für Zubereitung und Abwaschen gespart. Folglich kann man länger ausschlafen, und das wiederum heisst, dass man später zu Bett geht – und hier wiederum kann man schnell noch über ein Konzept drüberschauen. Mit der Verschlechterung der Kantine geht da sicher auch noch was um die Mittagszeit, und schlank ist sowieso modern.
So und nur so, lässt uns das System durch seine Marktschreier ausrichten, schaffen wir es, bei den Veränderungen an der Spitze zu bleiben; vielleicht ist es nicht schön, zugunsten eines Konzepts an einem Feiertag auf das Frühstück zu verzichten, aber man denke nur mal daran, was wäre, wenn uns die Chinesen eines Tages überholen und wir für die dann 70 Stunden pro Woche nähen und Computermüll zusammenschrauben. Wir sind, sagt man uns, in einem Rennen, da muss man nicht anhalten und nachdenken, sondern dabei bleiben und durchhalten. Unten bekommen sie bei dem Spiel auch noch weniger Lohn, oben dafür verdient man in diesem Land besser. Wer mehr rennt, entfernt sich schneller von China, dem echten und dem, das gerade in den unteren Etagen nachgebaut wird. Dafür kann man schon mal auf das Frühstück verzichten. Zumal es ja manchmal Alternativen gibt, die besser als eine Semmel sind.
Und so sitzen wir also da, ich mache Tee und höre mir das Elend an, halte mich an die Krapfen und ahne zutreffend, dass sie zum Zug eilen wird, bevor ich ihr noch die im Entstehen begriffene Kürbistarte mitnehmen kann: Wir Kinder der besseren Kreise und sicheren Lebensverhältnisse, die beste und in meinem Fall auch längste und sinnloseste Ausbildung, all die Chancen und Möglichkeiten. Systemkonform bei ihr umgesetzt mit der Möglichkeit, ein Vermögen für Wellness auszugeben, und unsystematisch bei mir, der ich für das gleiche Geld eher einen Rodel kaufen würde, und ansonsten zufrieden bin, und am nächsten Morgen ein schönes Frühstück habe. Vielleicht gehen wir in zwei Wochen in ein Konzert, wenn sie Zeit hat und nicht wieder absagen muss: Dann sehen wir aus, als wären wir füreinander gemacht. Niemand würde ahnen, dass sie vor Steuern drei mal so viel wie ich verdient. Und ich Zeit zum Frühstücken habe.
Ich bin die Vergangenheit. Sie ist die Zukunft. Und zwischen uns ist der Riss, an dem diese Welt untergeht, die man einst die besseren Kreise nannte. Wir werden nicht an Kindermangel oder Desinteresse am Sex aussterben, das liesse sich alles irgendwie einrichten. Wir werden aussterben, weil wir für viele unsere Sicherheiten, Riten und Überzeugungen keine Zeit mehr finden. Unsere Museen haben für uns inzwischen später auf, den Einkauf der richtigen, langen Handschuhe können die Damen auch online 24/7 besorgen, fast alles kann um den Komplex Arbeit und Leistung herumgelegt und angepasst werden, in einem schleichenden, langsamen Prozess: Wir sind nicht mehr bestimmend, wir werden bestimmt. Bis hinunter zu absoluten Selbstverständlichkeiten wie dem Frühstück. Wenn Sie mal bei der jungen Leistungselite was wirklich Dreckiges sagen wollen, sagen Sie, dass Sie drei Stunden gefrühstückt und nebenbei ein Buch gelesen haben, und da ist die Zeit für die Tarte noch nicht mal eigerechnet. Und danach noch immer kein Konzept, sondern auf den Berg über die Wolken, worunter die anderen bleiben.
Am Ende führt das natürlich schon auch zum Aussterben der alten Haltung: Mit solchen Perversionen wird man vermutlich nicht so schnell vom Schlag getroffen, aber bei der Frage der Fortpflanzung kommt es auch heute noch auf die Anpassungsfähigkeit und das Funktionieren in den veränderten Lebensbedingungen an. Man sieht das übrigens sehr schön bei all den vulgärdarwinistischen Online-Elitepartnervermittlungen, die mit zwei primären Schlüsselreizen operieren: Alter und Beruf. Übersetzt: Noch zeugungsfähig, noch karrieretauglich, und zu erwartendes Einkommen. “Kinderhassender Berufssohn” oder “psychisch anstrengende Erbin aus dem Münchner Süden” habe ich dort noch nicht gesehen. Dabei ist es, bei Lichte betrachtet, auch nicht schlimmer als “mies gelaunte Irgendwasmitmedien ohne Zeit und mit Essstörung” und “schlecht erzogener Anspruchsdenker mit Ellenbogen auf dem Tisch und in den Nieren seiner Konkurrenten”. Der Markt bestimmt uns, und wir bestimmen nicht mehr den Markt. Wir kaufen nur noch ein Stück Kuchen mehr, als Verpflegung für Freunde am Rande des grossen Rennens in Nichts.
Naja. Das nächste Mal sperre ich sie vielleicht im Schlafzimmer ein und übernachte auf dem Sofa, und lasse sie erst fahren, wenn sie gefrühstückt hat.