Iss nichts Ungeniessbares, iss nichts, was Du nicht verdauen kannst!
Antonius Anthus, Vorlesungen über die Esskunst
Auch in besseren Wohnlagen bleibt man nicht ganz vom Elend der Werbung verschont: Einmal pro Woche wird hier ein schwefelgelbes Anzeigenblatt in die Briefkästen gestopft, und das hat es in sich. Kataloge diverser Anbieter, die man sonst nicht frequentiert, flattern einem entgegen, wenn man es aus dem viel zu dünnen Schlitz zieht, der für schmale Briefe der Vermögensverwaltung erdacht wurde. Erstaunlicherweise zeigen diese aus der Ferne stammenden Eindringlinge fremdartiger Konsumtempel aber durchaus das Leben, wie es hier ist:
Oben auf der Neureuth schreiben wir auch Namen mit Herzen in weissesten Einskristallen, auf dem Weg hinunter sieht man Leute mit Rodel und Hund, und im Gasthaus findet man tatsächlich auch ein paar junge Ehefrauen, die von Tegernsee heraufgelaufen sind, um ihre neue Wintermode vorzuführen. Allerdings ist unser Schnee noch weissfunkelnder, die Rodelstrecke ist von einem Zauberwald gesäumt, und Jacken kosten bei uns nicht 29,90. Man könnte glauben, dass es wie in der Werbung ist, aber wenn man genauer hinschaut, merkt man, wie bescheiden diee Konsumträume doch sind. Ausserdem sind bei uns die Frauen echt und keine bezahlten Modelle, und die Lebensmittel kommen aus lokaler Herstellung: Wo andernorts vielleicht gerade Eier aus den Regalen geräumt werden und Schilder vor Dioxin warnen, steht bei uns am Einstig zur Rodelstrecke ein Schild mit der Aufschrift: “Vorsicht! Frei laufende Hühner!” Da kommen unsere Eier her. Und bei uns am Berg wächst kein Dioxin. Den letzten Käfighalter haben wir hier 2008 feierlich im See ersäuf…
So schlimm ist es natürlich nicht, aber würde man mich fragen, wo man hier ein Stück Fleisch auf der Massenviehhaltung herbekommt, oder billige Butter, oder Eier aus der Käfighaltung, oder Käse aus einer Nichtnaturkäserei von jenseits des Tales…. ja, doch, da würde mir schon was einfallen, aber es ist ganz schön weit dorthin, in Tegernsee und Dürnbach soll es sowas geben, da ist das Angebot dann auch so künstlich wie in der Werbung, aber sonst wird das echt schwierig. Wie haben hier übrigens fünf Inneneinrichter im Dorf, aber nichts, wo man Möbel zum Zusammenschrauben bekommt, dafür muss man mindestens bis Miesbach. Es schaut hier einfach nicht so schlecht aus, wie die Fleischberge in der Werbung.
Und dennoch ist es diese Werbung, die uns mit der Welt verbindet. Solche Handelsketten zeigen überall die gleichen Bilder vom billigen Winter, egal ob bei uns, in Bad Tölz bis nach Homburg, Düsseldorf, Marzahn, Coswig oder gar Hamburg a.d. Elbe. Wir alle sollen uniform ins Träumen geraten und anfangen, den Winter zu mögen. Er soll uns angenehm und schön erscheinen, romantisch und in der Kälte verzaubernd. Jo mei, sage ich hier am Tegernsee, verdrehe die Augen und gehe in den Dorfladen in der Hoffnung, dass die anderen Anbieter von Zeug irgendwann verschwinden. Aber es muss andernorts funktionieren, sonst würde diese Werbung nicht gedruckt werden. Es ist ein aufstrebender Sektor, dieses Bedrucken von Papier mit Schnee oben und Waren unten. Es gelangt davon immer mehr in meinen Briefkasten. Träume werden ausgegossen in einen Winter, der nie für alle gleich traumhaft ist.
Wenn ich an die letzten Winter zurückdenke, sehe ich weisse Schneelandschaften im gleissenden Sonnenlicht, Berge, eine Rodelstrecke, eine warme Holzwand einer Hütte hinter und einen Germknödel und eine rasende Abfahrt vor mir. In all den Jahren höre ich aus dem Tiefland von ungeräumten Gehwegen und zusammenbrechendem Verkehr, ich sehe von da oben die Bleisargplatte aus Wolken von Dürnbach bis Sylt, alle jammern, klagen, maulen, verursachen Autounfälle und leiden unter dem Matsch, der alle Schuhe ruiniert und die Hosenbeine verdreckt. Man säuft sich die Jahreszeit mit Glühwein erträglich, bevor man am nächsten Tag wieder raus muss und vergeblich auf die S-Bahn wartet, die Tage sind kurz und dunkel, kurz, nichts könnte ferner von den Trugbildern der Werbung sein. Frauen tragen dort keine schicken Mäntel, sondern unförmige, dunkle Säcke. Und wenn man letztes Wochenende hier zu mir fahren wollte, für ein paar Tage nur, stand man 110 Kilometer auf bayerischen, grauen Autobahnen im Stau, irgendwo da unten unter den Wolken. Trotzdem kommt die Werbung offensichtlich gut an: Sie wissen, dass es anders ist. Sie ignorieren es.
Es kann im Sommer schon mal so sein, dass die Sonne für alle gleich scheint – im Winter ist es definitiv anders. Minus 5 Grad bei leichtem Wind in einer graubraunen, abgasgeschwängerten Strassenschlucht sind etwas anderes als die gleichen minus 5 Grad Grad, wenn der Schnee wie Millionen Diamanten funkelt. Ich habe milde Winter in Berlin erlebt, und fand es kalt – hier ist es oft wirklich bitterkalt, aber ich weiss nur, dass es schön war. Der Winter ist hier nichts, was man schnell beendet sehen möchte. Er ist ein wenig so wie in den Stundenbüchern der Eliten des späten Mittelalters: Damals waren die Winter sehr viel kälter als heute, aber dargestellt sind allein die Freuden diesr Tage, meist Festessen am offenen Kamin. Es kommt vor allem darauf an, was man daraus machen kann.
Vielleicht ist diese Realität deshalb für die Hiesigen das, was für die anderen die Werbung ist: Ein Versprechen, wie schön und gut es doch sein kann. So richtig gut ist eigentlich gerade wenig, überall sind Wirtschaftskrisen und brutale Schlachten der Globalisierung, die alte Eliten entmachten und Neureiche entstehen lassen, während die Zeit den Kitt der Moral aus den Fugen des Selbstverständnisses bläst. Die alten Sicherheiten von Familie, Religion, Staat und Kontinuitäten lösen sich auf, aber es bleibt das erhebende Gefühl, dass man wenigstens dieser an sich schlimmen Zeit die besten Vorteile, die schönsten Seiten abringt. Schlimmer kann es hier nicht werden, mag man sich denken und nach Nordwesten schauen, wo andere in diesem Punkt sicher eine erheblich andere Meinung hätten, wenn sie beim Tanz über die Eisplatten einen Moment nachdenken könnten. Diese kältesten, kürzesten, scheusslichsten und immer noch sehr angenehmen Tage des Jahres enthalten das Versprechen, dass es besser wird. Eine Sicherheit, die einem keiner nehmen kann. Ein Winter wie früher, in der guten, alten Bundesrepublik. Ein, zwei Stunden sitzt man oben in der Sonne, und findet den Glauben wieder, auf den die Staatspartei weiter hinten, im schattigen Kreuther Tal, weiterhin vergeblich hoffen wird.
Da unten geht es schon lang nicht mehr um das Verteilen von Wohltaten an die Klientel, und um die Beschwörung, dass alles richtig ist, wenn sich nichts ändert. Sie werden über eine Vorratsdatenspeicherung und Schutz vor Zuwanderung reden, auch wenn die für die Pflege dieser überalteten Gesellschaft notwendig ist, über den Euro und die innere Sicherheit, und unsere Freiheit, die am Hindukusch ungeachtet aller Wikileaks-Depeschen immer noch verteidigt werden soll. Es waren grossartige Tage hier auf dem Berg, und nun kommen sie, und bringen die Ängste hierher, die Sorgen und die Welt, die man eigentlich gar nicht braucht, so wenig wie das Dioxin in Eiern und ihre Blaulichtangeberei auf der Uferstrasse, lauter Zeug, an das man nicht erinnert werden möchte, und mit dem man ab heute infiziert ist, wenn die Medien von hier berichten werden. Zum Glück gastiert dieses Elend hier nur ein paar Tage, dann verschwindet es mit den Holländern, und man kann in Schnee und Eis wieder all die Krisen und Probleme vergessen und verdrängen. Natürlich ist es eine Sucht, und sie ist nicht billig. Aber sie wirkt und schadet dabei nicht, und deshalb lohnt sie sich mehr, als das Billigfleisch in der Werbung für jene, die glauben, das wäre ein gutes Essen.