Es gibd soicharne und soicharne
Bayerische Volksweisheit
Es war ein Haus, wie es üblich war, nach dem 1. Weltkrieg: Nicht mehr verspielt oder verschnörkelt, aber immer noch gross, mit hohen Räumen und einem imposanten Walmdach. Zum Garten hin öffneten sich Flügeltüren, nach vorne hinaus führte eine kleine Freitrappe zur Auffahrt, rechts war das Hausmeisterhäuschen angebaut, und links die Remise mit Platz für eine Kutsche und ein Auto. Erbaut hatte es die reich verheiratete Urgrossmutter, und weil sie auch nach dem grossen Krieg noch romantische Vorstellungen von der Natur und Gartengesellschaften hatte, war die Auffahrt zur Strasse klein, und der Garten dahinter gross. Es war ein gelungenes Ensemble am Rand einer unterfränkischen Stadt, und das Haus und der Garten beherbergten über Jahrzehnte die immer gleiche Familie.
Ich war nie dort. Ich kannte nur eine der vielen Urenkelinnen der Familie, und als ich die Bilder vom Haus sah, war ihre Grossmutter, die darin gewohnt hatte, bereits gestorben. Wer sich so ein Haus leisten kann, kann sich auch die Bildung der Kinder leisten, und alle sind sie etwas geworden, alle hatten sie studiert und ihren Weg gemacht; später wurde mangels Interesse der Kinder auch die Firma verkauft, die den Bau des Hauses erst ermöglicht hatte. Die Kinder zogen in Städte, die man mit der Kutsche nicht erreicht hätte. Aber mit dem Auto waren sie nie zu weit weg, als dass sie sich nicht an einem Sonntag bequem unter den alten Bäumen der Heimat hätten treffen und wieder heimfahren können.
Nun sind solche Häuser aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts weder besonders selten noch allzu reizvoll; sie haben im Stil der Zeit keinen Stuck und keine verschnörkelten Türgriffe, sie sind fast etwas ärmlich in der Anmutung, und technisch gerade so schlecht den modernen Ansprüchen genügend, dass man damit leben kann, wenn man unbedingt will. Diese alten Häuser sind etwas für Familien, die gerne eine kleine, vertraute Welt um sich haben, die sie von Kindesbeinen an kennen, in dem man jedes Knarzen der Treppe erfühlt und mit einem Luftzug ahnt, welche Tür nicht ganz geschlossen ist. Es gibt, von unserer Zeit aus gesehen, klare Mängel, um die Menschen aber herumwachsen, wie sich der Efeu um Äste windet. Und so mangelhaft sah das Haus auch auf den Bildern der Urenkelin aus.
Vielleicht hätte ich es mir einmal anschauen können; schliesslich habe ich etwas Erfahrung mit alten Häusern, und eine Einladung, so einen alten Schuppen zu betreten, schlage ich nie aus. Steht in Italien zufällig mal ein alter Palazzo offen, drücke ich mich schnell durch die Tür und schaue hinein; das hat man bei uns schon immer so gemacht, und sollte sich jemand beschweren, behaupte ich einfach, mein Hund sei ausgebüchst. Dieses Haus aber hatte einen grossen Garten, und als die Besitzerin gestorben war, sahen sich die Erben dem Problem gegenüber, ein altes, unmodernes Haus mit hohen Decken und schlechter Heizung in einem Grundstück zu besitzen, das schon lange nicht mehr am Rande einer fränkischen Stadt stand. Es war, marktwirtschaftlich gesprochen, ein Sanierungsfall inmitten von 2500 Quadratmeter Baugrund inmitten einer neu entstandenen Siedlung. Einer hätte es übernehmen müssen, aber keiner wohnte mehr dort. Einer hätte sich darum kümmern müssen, aber keiner hatte Lust auf den Ärger mit den Mietern. Einer hätte die anderen ausbezahlen können, aber sie alle hatten Kinder, die ein neues Auto brauchten, ein Auslandssemester oder eine Wohnung irgendwo in einer anderen Stadt. Das Haus war wertlos, aber der Grund war zu teuer für einen von ihnen.
Also sah ich nur die Bilder, die die Urenkelin beim Ausräumen gemacht hat. Danach wurde das Haus verkauft, der Erlös aufgeteilt, der Käufer riss es ab und baute renditeträchtige Mehrfamilienhäuser hinein – so viele, wie halt auf 2500 Quadratmetern und mit seinen Kontakten zur Stadtverwaltung genehmigt wurden. Es ging wohl nicht ohne ein gewisses Bedauern, ja vielleicht sogar Wehmut ab, dieser Verkauf und das Abholzen der Bäume; Menschen sind da komisch, sie nehmen das Geld gerne und denken trotzdem, dass es schön war, in dem Garten, den sie zerstören lassen. Aber es wohnte keiner dort, kein normaler Käufer konnte so viel zahlen, und so wichtig war es ihnen auch nicht. Es bliebenschöne Bilder, auf denen man die fränkische Sommerluft ahnte, die in Räume wehte, an deren Wänden man die Abdrücke der Bilderrahmen sah.
Gerne wird ja behauptet, die Jugend auch der besseren Kreise gäbe sich masslos dem Kapitalismus und den Zwängen der Globalisierung hin; wir sähen nur noch den Preis der Dinge, aber nicht mehr ihren Wert, und die Fliehkräfte der Märkte würden uns hinaustragen in die Unverbindlichkeit anonymer Wohnsilos und schneller Kontakte bei sich elitär gebenden Partneranzeigen. Überhaupt, man ist heute ja Partner wie in einer Kanzlei, und keine Liebschaft mehr. Aber spricht man diese Urenkel dann an und fragt sie, ob sie nicht einen anderen Weg gesehen haben, eine andere Lösung als die Abrissbagger, kommen nur all jene zweckmässigen Argumente, die sie daheim am Küchentisch schon von den Eltern gehört haben: Der Aufwand, die Kosten, die Probleme, die Unsicherheit, zu viele Erben, keiner könnte es allein machen… als ob es die gleichen Probleme nicht früher auch schon gegeben hätte, als man sich trotzdem für so ein Haus entschied. Weil es einem wichtiger war, so ein Haus zu haben, als vieles, was heute als wichtiger, ja unverzichtbar angepriesen wird. Das muss nicht das neue Mobiltelefon sein; Eltern von Urenkelinnen setzen da durchaus auf jene Anlagen mit scheinbarer Sicherheit im Alter, die uns gerade TV-Berichte über AWD und ihre Praktiken bescheren.
Natürlich ist es leichter, beim Makler ein Preislimit zu nennen, zu warten und dann einen Notartermin zu besuchen, als einen Kostenvoranschlag zu lesen. Es gibt immer leichtere Wege in einer Welt, die den leichteren Weg als Geschäftsmodell entdeckt hat, vom Convenience Foodmüll, für den man nicht abwaschen muss, bis zum Vermögensverwalter, der schon wissen wird, was gut für einen ist. Die aber stehen erst am Ende einer langen Entwicklung, es ist die letzte Konsequenz eines Wandels. Und während die Urgrossmutter noch wusste, von welchem Baum welcher Apfel für den Kuchen stammt, kann die Enkelin nur darauf hoffen, dass die Anlage gut ist und woher auch immer, Kinderarbeit, Staatsanleihen aus Portugal, AKW-Betreiber, Derivate, chinesischen Giftmüll, die Rendite für Zinsen und den Kuchen aus der Grossbäckerei erwirtschaftet. Neben all den Kickbacks, Schmiergeldern und Banksterboni.
Das Hinterhaus bei uns ist keine Fabrikantenvilla, sondern ein Hinterhaus. Das Erdgeschoss ist noch aus dem Mittelalter, darüber sind die ehemaligen Lager und Dienstbotenzimmer, darüber ein weiterer Ausbau aus dem 20. Jahrhundert. Der Denkmalschutz würde einem Abriss nicht im Wege stehen, und vieles muss neu gemacht werden. Der Kostenvoranschlag ist so, dass ich überlege, vom Journalismus auf Heizungsbau umzusatteln. Es ist kein Herrenhaus, es hat ein paar Vorteile, wie in der Altstadt seltene Balkone, und ein paar Nachteile, wie in der Altstadt häufige steile Treppen. Der Grund ist einiges wert, und das Gebäude eher nicht. Ich weiss, dass die Urenkelin heute, 10 Jahre später, immer noch zur Miete wohnt, weil Wohnungen so teuer sind, und man sich eine gewisse Flexibilität erhalten will, selbst wenn sie dafür einiges an Unflexibilität auf sich nehmen muss. Und ich weiss, was ich dieses Jahr tun werde, und da gibt es keine Alternativen mit dreimonatiger Kündigungsfrist. Es gibt nur alte Mauern, die mich, wie alle anderen meiner Sippschaft auch schon, überdauern werden.
Aber dafür gibt es auch kein flaues Gefühl, wenn ich später einmal Bilder vom Haus sehen sollte, wie es früher war. Kein flaues Gefühl gegenüber einem Bankberater. Ich finde ja, dass ein Mangel an flauen Gefühlen auch eine Art Wert sein können, und es gibt eben solcherne Urenkelinnen und solcherne Urenkel.