Gleich darauf marschier’n die Lehrer, Machtverehrer, Hirnverheerer,
für das Recht die deutsche Jugend zu erziehn zur Schlächtertugend.
Eines der Brechtgedichte, die bei uns nicht gelehrt wurden.
Seit genau zwei Jahren erzähle ich hier selektiv Halbwahrheiten in einer Art, die Sie, liebe Leser, gerne noch etwas fälscher interpretieren dürfen, als sie ohnehin schon gedacht sind. Nicht, dass ich lügen würde, dafür bin ich zu gut erzogen, aber ich passe schon auf, dass Sie mir und denen, die mir wichtig sind, nicht zu nahe kommen. Wir wurden uns schliesslich noch nicht vorgestellt, und ausserdem, glauben Sie mir, wäre die ganze Wahrheit über mein Westviertel und die besseren Kreise vermutlich genauso banal wie jede andere Wahrheit. Bei mir sitzen Sie auf den billigeren Plätzen und sehen auch mit dem zweiten Auge nicht wirklich gut, und faktenbasiert verdrehte Informationsaufbereitung bekommen Sie hier auch nicht. Ausser heute. Ausnahmsweise. Denn es geht um etwas Wahres und Wichtiges, die Bildung nämlich, deren Erhalt ausgerechnet von jenen Verantwortlichen aus Ex-Berlinpolitik und Medien verlangt wird, die dafür so zuständig sind, wie der Steuerhinterzieher für die Forderung nach Steuerfahndung. Diese “Oh Gott unsere Kinder werden ja so dumm”-Debatte. Die “Wenn ich meinen Nachwuchs nicht in eine Privatschule stecke wird er asozial”-Panik.
Ich war während der 80er Jahre auf einem der beiden Elitegymnasien meiner Heimatstadt. Das andere war humanistisch, meines war nahe an unserem Seeviertel und mit einem Direktor gesegnet, der nebenbei auch Chef des CSU-nahen Lehrerverbandes in Bayern war. In jener Zeit konnte man sich kaum ein unliberaleres Städtchen wie meines vorstellen, und im Zusammenwirken all dieser Kräfte war das Gymnasium das blanke Gegenteil aller schulreformatorischen Bestrebungen. Als Kind versteht man all diese Zusammenhänge noch nicht vollständig, und zudem gab es in jener Zeit auch keine Alternativen: Bei uns existierte keiner der angeblich zu verständnisvollen, ökomüsligen Kumpellehrer, die andernorts so lautstark beklagt werden als die 68er, die an der Bildungsmisere schuld sind. Es gab ein paar Lehrer, die dachten, man könnte nicht im Stil der 50er Jahre unterrichten.
Unser Physiklehrer etwa war menschlich durchaus nett. Mathematisch eher minderbegabt, wählte ich Physik als Abiturfach über vier Halbjahre. Weil die Schule einen blendenden Ruf bei diesen Fächern hatte und genug dabei waren, die danach Maschinenbau studieren wollten, war dieser nette Lehrer mit dem Stoff für das Abitur nach knapp über einem Jahr durch. Danach lernten wir weiter bis zu dem Stoff, für den gerade der Nobelpreis für Physik vergeben wurde – Quantenmechanik und Funktionsweise des Rastertunnelmikroskops, das würden wir sicher bald brauchen. Das stand nicht im Lernplan, tat aber dem Ruf der Schule gut. Der wirklich nette Lehrer war der Meinung, wir sollten halt Prioritäten setzen, ihm sei das wichtig. Das sagten, weniger nett, auch weniger nette Lehrer über ihre Fächer. Es gab einen Wettlauf, wer am weitesten kam und am meisten forderte. Wenn eine Klasse mal nicht spurte, wurden die Schulaufgaben so lange auf einen Schnitt von 3,95 runterkorrigiert, bis die Eltern Panik bekamen und die scheinbar faulen Schüler daheim weitertrieben. Ich glaube, das war eine Schule, deren System aus Druck, Kontrolle und Leistungswille Herrn Sarrazin gefallen hätte.
Ich war in Englisch nie schlecht, aber einer Lehrerin gelang es spielend, mich von meinem langjährigen, guten Durchschnitt nach den Sommerferien um fast drei Noten zu drücken. Einfach, weil sie das für richtig hielt. Dass ich später Englisch als Leistungskurs nehmen und problemlos bestehen konnte, verdanke ich dem Umstand, dass sie sich das Bein gebrochen hat und durch eine andere, dann sehr engagierte Lehrerin ersetzt wurde: Die geknackste Dame liess schon vorher wissen, dass ich bei ihr keine Chance hätte. Einfach so. Es gab einen Chemielehrer, der in der ersten Stunde des Jahres seinen Schülern – ohne sie zu kennen – sagte, wen er durchfallen lassen würde. Ein kathlischer Religionslehrer unterhielt seine Schüler gern mit Erzählungen von der Partisanenjagd, damals an der Ostfront. Ein Musiklehrer, der erstaunlicherweise über den Volkstanz Cardas promoviert hatte, hasste Jazz so sehr, dass er sich weigerte, die Schüler über diesen Punkt der Musikgeschichte zu unterrichten. An anderen Schulen der Region – Bayern unter Strauss, wie gesagt – ging es auch nicht liberaler zu. Aber dafür hatte dieses Gymnasium einen besseren Ruf bei technischen Berufen, deshalb schickte man seine Kinder dorthin. Es war eine wirklich harte Schule. Die Art Schule, die den Ruf des Bayerischen Abiturs besonders förderte.
Es gab natürlich auch unter den Lehrern solche und solche. Man konnte das Pech haben, dass einem der Deutschlehrer bei jedem Buch sagte, es gäbe dazu einen Film. Man konnte das Glück haben, dass man von einem anderen Deutschlehrer zur AG Literatur eingeladen wurde, um mehr zu lesen. Es war dieser Lehrer, der – man stelle sich vor, 80er Jahre des 20. Jahrhunderts – sich der Demütigung aussetzte, den Direktor zu bitten, ob er mit uns Andre Gides Verliesse des Vatikans lesen dürfte. Schliesslich war Gide homosexuell, und das Buch spielt leicht darauf an, da musste man fragen. Das war weltenfern vom Mörike-Schiller-Goethe-Nationaldichter-Kanon, der ansonsten üblich war, und den ein paar alte Herrschaften gerade wieder lautstark einfordern. Dieser Mann öffnete einem dann auch die Augen für den Umstand, dass es neben der Lyrik eines mitunter doch etwas fragwürdigen Herrn Goethe auch noch andere Autoren gab, die uns etwas Nettes sagen konnten: “Wenn die Igel in der Abendstunde still nach ihren Mäusen gehn, hing auch in an Deinem Munde, und es war um mich geschehen” – wir hingen sehr an den Mündern der wohlerzogenen Mädchen in der AG Literatur. Wir fuhren mit ihnen auch in die Staatsoper nach München. Es war nicht alles schlecht an dieser Schule, es gab Freiräume für Entwicklungen, die das Zwangsprogramm des Schultheaterbesuchs nie gelassen hat. Aber auch dieser Deutschlehrer konnte manche bayerischen Dorfkinder mit genialischem Mathematikverständnis und Desinteresse an seinem Unterricht nahe an den Rand des Durchfallens benoten, ohne mit der Wimper zu zucken. Wer es hier nicht schaffte, konnte immer noch auf ein Deppengymnasium.
Ich erzähle das nicht, um mich zu beklagen. Man konnte es überleben, man entwickelte Strategien für ein Leben jenseits des Zwangslernens. Die Zahl derer, die mit den diversen Erwartungshaltungen nicht fertig wurden, in der Station 36 landeten, vom Hochhaus sprangen oder Säufer wurden, war sehr klein. Man zählte die Tage bis zum Ende. Man schluckte hinunter und wusste, über der Donau ist München, Leben, Studium, Staatsoper, Museen und Party. Zumindest in meinem Umfeld, das wohlerzogen, selbstbewusst und kulturbeflissen war. Man musste uns nicht in die Opern und die Hypo-Kunsthalle zwingen, wo wir weiterhin an den Mündern von Sängerinnen und gemalten Schönheiten hingen. Man behält in den Jahren des Studiums einen gewissen Überblick über ehemalige Schulkameraden: “Man”, das waren die paar Kinder, die schon in der AG Literatur waren. Die anderen wurden durchaus auch anständige Leute, gute Techniker, begnadete Ingenieure, zuverlässige Ärzte, Nachfolger ihrer Eltern, sicher keine Idioten. Aber eben auch Leute, die es nicht verstehen, warum man kein TV-Gerät besitzt. Mit denen man sich nicht über die Musik von Lully unterhalten kann. Die sich schon eine Anlage für den Preis eines Kleinwagens kaufen, um darauf dann aktuelle Popmusik zu hören. Deren Häusern man ansieht, dass ihr Wollen und Können bei der sinngerechten Verwendung historischer Baustile eher nicht in Einklang stehen. Es sind anständige Leute, sie mussten sich an den Realitäten orientieren: Ein baldiger Studienabschluss war wichtiger als ein Nachmittag in der Antikensammlung.
Nein, kann ich aus meiner Erfahrung mit einer vorreformatorischen Schule und ihren Ergebnissen nur sagen. Nein. Weder sind deren Ergebnisse des Systems besonders aufgeschlossen geworden, noch besonders gebildet. Es sind Menschen, die zumeist gar keine andere Wahl hatten, als sich nach den Notwendigkeiten zu orientieren: Weder hatten sie die Zeit, noch die Lust oder gar das Verständnis, am Zentralinstitut für Kunstgeschichte am Mittwoch Vorträge zu hören. Wir hatten dort das schönste Unicafe über der Abgusssammlung: Wir blieben dort unter uns. Und das ganz sicher nicht wegen der Schulen, aus denen wir kamen. Es waren wenige, die diesen Weg gehen wollten, andere hatten andere Vorstellungen. Einbilden sollte man sich darauf nichts; es ist ganz leicht, sich in einem Spezialbereich Wissen anzueignen und auf andere herabzuschauen. Bildungshybris ist besonders abstossend, weil sie Wissen mit einer Intoleranz verknüpft, die andere ausschliesst. Wer sich wirklich für Kultur interessiert, wird sich schnell und leicht über alles hinwegsetzen, was ein normaler Lehrer zu unterrichten weiss, und wer andere Interessen hat, sollte sie haben dürfen, ohne deshalb als Symbol des Bildungsniedergangs herhalten zu müssen.
Realistisch betrachtet führt in der Bundesrepublik des Jahres 2011 kein Weg zurück in die Schule der Unterdrückung und Gegenreform, aus der ich komme. Was damals üblich und an Auswüchsen möglich war, würde heute auch in Bayern zu einem Elternaufstand führen. Von meinem Abiturjahrgang sind sicher die Hälfte der Absolventen immer noch in dieser Stadt; nie habe ich einen von ihnen in der Sonntagsmatinee gesehen, die klasische Musik allen ohne Eintrittsgeld und Hürden durch Bekleidungsvorschriften zugänglich macht. All der Druck, der Sadismus, die kleinen Schweinereien und die verständnisvollen Ausnahmen haben nicht dazu geführt, dass die Ergebnisse hoch gesteckten Bildungshoffnungen gerecht geworden wären.
Es war umsonst. Man kann, das ist zumindest meine Überzeugung, niemanden zur Bildung unterdrücken, allenfalls zum Auswendig lernen, und zum Hass, und zur Intoleranz. Und von den Resultaten solcher Ideologien des Zwangs möchte ich eigentlich nicht, dass sie erneut Einfluss darauf bekommen, wie man in diesem Land Bildung organisiert.