Anlässlich des zweijährigen Jubiläums dieses Blogs habe ich gefragt, was die Leser denn gerne neben der üblichen Nichtigkeiten meines angenehm sinnlosen Daseins hätten. Manche sagten, sie wünschten sich einen Bericht aus Amerika oder gar New York, was eine ganz furchtbare Stadt ist, schlimmer noch als Wien – kurz, sie hatten kein Herz. Dafür habe ich die blogschreibende Autorin Julia Janke um einen Beitrag gebeten, die gerade dort drüben angereist und so freundlich ist, mir mit ihrem Bericht den Leidensweg abzunehmen, derweilen ich anderen weiterhin ungestört Leiden bereiten kann.
Woche 1
Es gibt verschiedene Arten, in New York anzukommen. Sich auf den Bahnsteig übergebend ist nur eine davon. Ich möchte es nicht auf die Fluggesellschaft schieben, Service und Landung waren in Ordnung; auch das Gewusel im Zug von Newark zur Pennsylvania Station ist sicher nicht der Auslöser für diese, nun ja, ungewöhnliche Ankunft gewesen. Ich habe keine Ahnung, warum ich so krank und fertig in New York angekommen bin, aber die Reaktion der Stadt auf diese Abscheulichkeit war die schönste Begrüßung, die ich mir nur vorstellen kann: Nichts. Kein komischer Blick, kein Abwenden von dieser ekelhaften Person, und auch keine dummen Fragen. Es war schlicht so, als würde das jeden Tag tausende Male passieren. Es war perfekt, auch wenn ich mich jetzt im Nachhinein vielleicht über etwas Anerkennung für das Tütenbereithalten gefreut hätte.
Also, hallo New York. Hallo tollste Stadt der Welt, wie immer alle sagen. Hallo Zuhause, für die nächsten drei Monate. Ich habe meinen Job für Dich gekündigt, New York. Der Mann und ich haben unsere Wohnung aufgelöst, alles eingelagert und etwa ein Jahr auf das hier hingearbeitet. Er wird hier wichtige Recherchen für seine Dissertation durchführen, und ich: Urlauben, etwas arbeiten und ganz nebenbei alles sehen und alles erleben. Und wenn nicht alles, dann doch wenigstens ein bisschen davon.
Woche 2
Es ist Winter in New York. Das heißt, die meisten Touristen sind zuhause oder woanders, die Stadt gehört den New Yorkern, und die würden sie wohl lieber umtauschen. Es liegt tonnenweise Schnee herum, der abwechselnd schmilzt, friert und sich über Nacht erneuert. Viele New Yorker Frauen scheinen davon auszugehen, dass Hunter-Gummistiefel, wie sie Kate Moss im berühmten „Festivallook” eingeführt hat, die besten Winterschuhe sind. Man kann das genau so lange nicht verstehen, bis man in einer dieser menschenverschlingenden Pfützen steht, die sich beim leichtesten Tauwetter an jeder Straßenkreuzung bilden. Frauen und Männer jeden Alters springen wie junge Rehe über die Seenlandschaft. Ich selbst habe schon das ein oder andere Kind an einer Pfütze vorbei getragen, während die Mutter den Kinderwagen schleppte.
Es ist aber auch ein Ausnahmewinter dieses Jahr. Im Central Park fiel während des Schneesturms Ende Januar so viel Schnee wie seit 1871 nicht mehr an einem einzigen Tag, mehr als ein halber Meter. Das sieht beim Central Park natürlich schön aus, aber während sich der Schnee in den Straßen türmt, macht der Müll das gleiche. Der lokale Nachrichtensender berichtet darüber und zeigt unter anderem Menschen, die sich aufregen. Reporter stehen an jeder Straßenecke in Manhattan, dokumentieren den Schneefall und kündigen den nächsten an. Keiner kommt mehr hinterher. Auch die Heizungen nicht, die in nicht nachvollziehbaren Abständen quietschen und zischen, also heizen, und dann wieder für Minuten, manchmal Stunden kalt an der Wand hängen. Mit einer Decke über den Schultern stehe ich dann am Fenster und beobachte, wenn ich Glück habe, einen Thundersnow, das seltene Wetterphänomen, bei dem ein Schneesturm von Donner und Blitzen begleitet wird. Dazu läuft ein einsamer Mensch durch das Unwetter und brüllt immer wieder „Pieces of shit!” ins Nichts. Es ist Winter in New York.
Woche 3
Ich beschäftige mich drinnen. Und weil es keinen Spaß macht, den ganzen Tag dem Heizkörper beim Zischen und Blubbern zuzuschauen, geht es raus und erst dann wieder rein. In den Indoor-Park in Soho zum Beispiel: „Park here”. Über eine Fläche von 465 qm haben sie eine Galerie komplett mit Kunstrasen ausgelegt, nur unterbrochen von einem Mini-Teich und einen klitzekleinen Rindenmulch-Wäldchen. Die Organisatoren nennen es den Central Park-Ersatz für den Winter, und abgesehen davon, dass Pflanzen, Bäume und Gras künstlich sind, ist es ein passender Ersatz. Knutschende Pärchen sitzen neben picknickenden Cliquen und kartenspielenden Ehepaaren, zwischendrin laufen Kinder. Meine New Yorker Freunde versichern mir, dass es im Central Park im August genauso voll ist wie hier. Wenn das stimmt, dann freue ich mich, dass sich das Gras dort gerade unter der dicksten Schneedecke aller Zeiten ausruhen kann. Aber überfüllt ist gut in New York, und deswegen wurde die kleine Park-Kunst-Installation um einige Wochen verlängert.
Eine weitere gute Indoor-Beschäftigung ist das Einkaufen. Da fühlt man sich in New York ja auch nach jahrelanger Shoppingerfahrung noch wie ein Ossi im KaDeWe. Ich darf das sagen, ich bin Ossi, und mit entsprechendem Blick bleibe ich vor Schaufenstern stehen, laufe durch riesige Einkaufslandschaften voller fantastischer Produkte und bin sogar vom örtlichen Aldi-Äquivalent zutiefst beeindruckt. Fast alles ist dort „organic”, sieht sehr hübsch aus, und ist trotzdem bezahlbar. Deswegen schlängeln sich zwei lange Wartereihen durch den kompletten Laden, vorbei an jedem Regal, was ja auch schon wieder praktisch ist. Endlich an der Kasse angekommen, muss man sich nicht beeilen, da wird geschwätzt wie früher im Konsum (Ossi-Referenz), und ich bekomme noch ein Los in die Hand gedrückt, weil ich meinen Beutel selber mitgebracht habe. Wenn ich Glück habe, gewinne ich damit einen 25 Dollar-Einkaufsgutschein, auch in anderen Läden gibt es mit eigenem Jutebeutel Rabatt. Da fühlt man sich gut. Überhaupt habe ich in dem Gewühl dieser großen Stadt viele dieser warmen, freundlichen Momente. “How was your day?” fragt der Mann im Coffeeshop und erwartet tatsächlich eine Antwort. Toller Tag, danke, aber ich mach ja auch Urlaub hier. Aha, woher ich denn käme, aus Deutschland, ah, da habe er mal eine Frage. Was heißt denn auf Deutsch „Have a nice day!”? Ich muss eine Weile überlegen, weil mir das richtig Passende nicht einfällt. „Schönen Tag noch!” bringe ich ihm dann bei, das klingt sogar nett, wenn er es sagt. Solch kleine Dinge in New York sind schön, und auch sonst habe hier ich oft das Gefühl von Vertrautheit. Das liegt in erster Linie an meiner Fernsehsucht. Das Meiste, was ich über diese Stadt weiß, stammt aus Serien, Filmen und Realityshows. Ich habe fast alles gesehen, kann also an vielen Ecken sagen „Ach guck, hier wohnt Seinfeld!” oder „Das ist ja das Museum, in dem Ben Stiller die Exponate gejagt hat!”. Ich weiß auch, dass ich hier die gleiche Vorwahl habe wie Carrie Bradshaw im „Sex & the City”-Film, nachdem sie ihr altes Telefon ins mexikanische Meer geworfen hatte: 917 – „the new New York”.
Woche 4
Hipster Beach ist zugeschneit. Nichts deutet an diesem Sonntag auf den massiven Andrang hin, von dem mir ein Bekannter erzählt hat. Im Sommer, so sagt er, stapeln sich hier die Leute, die alle ähnlich aussehen und dreingucken. Sie tragen große Brillen, enge Hosen, haben die Haare an der Seite abrasiert und schauen meistens sehr gelangweilt. So war es zumindest im vergangenen Sommer, von den Moden des kommenden wissen wahrscheinlich noch nicht einmal sie selbst etwas. Auf jeden Fall ist gerade kaum ein Hipster da, kein Wunder, am “Beach” liegt tonnenweise Schnee. Streng genommen ist es auch kein Strand, es ist der East River State Park an der Westseite Brooklyns. Die Fläche am Wasser ist nicht groß, statt eines Sandstrandes verbinden große, dreckige Steine und Warnschilder das Land mit dem Wasser. Aber der Ausblick ist grandios. Man schaut über den breiten Fluss hinüber nach Manhattan, geradeaus auf die Lower East Side und schräg rechts auf die berühmte Skyline. Dieser Blick ist deshalb so besonders, weil ihn keiner, wie etwa den Rest des Uferstreifens, verbauen darf. Rund um den Park türmen sich, wenn auch keine Wolkenkratzer, dann doch für die Gegend ungewöhnlich hohe und befremdlich glasstarrende Wohnhäuser. Sie sollen junge Familien aus Manhattan anlocken, die hier für weniger Miete auf größerem Raum wohnen könnten.
Sie sollen sehen, was die Hipster schon lange wissen – Williamsburg ist ein guter Stadtteil, mit kleinen Läden, höchstens vierstöckigen Häusern und jeder Menge Charme. Nur ein paar Querstraßen vom Park entfernt zieht sich die Bedford Avenue durch das Viertel, sie ist auf einem kleinen Teilstück der Catwalk der Hipster. Die Mieten sind zwar lange nicht mehr so günstig wie noch vor ein paar Jahren, aber man sieht die Leute ganz alternativ in Second-Hand-Läden stöbern, Bio-Gemüsestände aufsuchen und handgemachten Bio-Käse kosten. Das ist meistens sehr liebenswert, aber ab und zu aber auch anstrengend anzusehen. Im Café sitzt ein Pärchen am Nachbartisch, das so ausssieht, als würde es die Sachen der Urgroßeltern auftragen, dann aber die teure, vegane Speisekarte hoch und runter bestellt. Die Beiden stapeln einen Bücherturm vor sich auf, der jedes Klischee erfüllt – “French Grammar, “French Verbs”, “Kamasutra”- rühren aber keines davon an. Sie geben stattdessen ihre Bestellung auf, dann telefoniert das Mädchen und ihr Freund – was tut er da? – er ritzt ihr Antlitz in einer Kupferplatte. Natürlich. Er schaut abwechselnd auf sie und die Platte und ich frage den Mann, etwas enttäuscht vom unserem schlichten Kuchendate zum Sonntag, warum er das eigentlich noch nie getan hat. Warum hat er mich noch nie irgendwo reingeritzt? Abgesehen von diesen komischen Menschen, die einem in jeder Großstadt in einem bestimmten Viertel begegnen, ist Williamsburg wirklich schön.
Jetzt kommt auch zum ersten Mal der Frühling hierher, hoffentlich bleibt er gleich da. Er schmilzt die Schneeberge weg und weht in einem lauen Lüftchen den aufgetauten Müll durch die Straßen. Jetzt reicht eine dünne Jacke, und die Gummistiefel sind auch schon wieder sowas von out. Es ist jetzt angenehmer, und passend dazu bekomme ich Besuch, das Sich-treiben-lassen hat also vorerst ein Ende. Bald werde ich zum Flughafen fahren und auf dem Weg dahin in Penn Station umsteigen. Ich werde am Bahnsteig stehen, und sollte sich zufällig jemand neben mir übergeben, werde ich nicht auffallen, und wie ein echter New Yorker reagieren.