Wohl mancher dürft auf seinen Geist vertrauen,
dem noch die Sehnsucht, alles zu erkunden,
geblieben ist zu ewiglichem Graun.
Dante, Die göttliche Komödie, Purgatorio, Dritter Gesang
Hinten über meinem Kühlschrank, und vor allem über den dort gelagerten Marmeladenvorräten, hängt das Fragment eines Holzschnitt. Es ist die untere Hälfte des “Grossen Rosenkranzes” von Erhard Schön, entstanden vor rund 500 Jahren in Nürnberg, Oben würde man Christus, Heilige und Engel sehen. Unten, und darauf kommt es mir an, ich habe es nicht so mit Heiligen, ist das Fegefeuer. Ein Flammenmeer. Die Betrachter des 16. Jahrhunderts waren überzeugt, dass sie nach dem Tod dort eine Weile würden verbringen müssen, und sorgten sich schon im Leben um jene unerfreuliche Phase, die ihnen dort bevorstand. Vieles von dem, was heute in Museen als sakrale Kunst ausgestellt wird, entstand aus dem Wunsch der Stifter heraus, im Jenseits kürzer zu brennen.
Sie, liebe Leser, sind vermutlich nicht allzu oft in Kreisen aufgewachsen, die auch heute noch ein derartiges Jenseitsbild mit all seinen unschönen Aspekten befürchten. Ich dagegen, der ich meine Jugend im erzkatholischen Bayern zugebracht und obendrein recht viel Nichtpartyzeit meines Studiums mit Patristik und mittelalterlichen Grabungsfunden gefüllt habe – mir ist das so nah, dass ich es tatsächlich gerne über meinen Kühlschrank bei den himmelsüssen Marmeladen sehe. Weniger gegessen habe ich dennoch nicht. Auch um 1500 herum war man wegen solcher Abbildungen nicht besonders tugendsam. Die Frage ist nur: Glaubt man der Eschatologie, die einem dieses Feuer garantiert, oder glaubt man eher der modernen Wissenschaft, die bislang weder einen Gott noch ein Fegefeuer, sehr wohl aber Einschaltquoten für Amateure beim Singen und Spaltkräfte des Atoms nachweisen kann. Sie, liebe Leser, nehme ich an, präferieren wie die meisten Bewohner der westlichen Welt die Aufklärung und die wissenschaftlichen Analysen. Die katholische Kirche selbst setzte sich schon im 16. Jahrhundert von allzu drastischen Vorstellungen des Fegefeuers ab; inzwischen hat man es als akzeptable “grosse Läuterung” rebrandet. Läuterung klingt schon mehr noch Gnadenakt, so wie Kontamination auch nicht mehr zwingend an Vergiftung, sondern eher an “Da ist dann halt was” erinnert.
Kurz, die Eschatologie, die Lehre von den letzten Dingen, hat sich unter dem Druck der Konkurrenz von Lutheranern, Calvinisten, Aufklärern und anderem heute nicht mehr brennbaren Material dazu entschieden, mehr die Heilsaspekte denn die Strafandrohung in den Vordergrund zu stellen. Wirklich prächtige Schmerzensdarstellungen findet man denn auch in Rokokokirchen kaum mehr, und auch in bayerischen besseren Kreisen ist es jetzt nicht mehr üblich, Töchter ins Kloster zu stecken und zu hoffen, dass sie Wundmale bekommen, zum Ruhme der Familie. Wir glauben alle nicht mehr dran. Und das ist vielleicht auch ganz gut so. Wer will schon das Fegefeuer sehen, wenn es kommt?
Der mittelalterliche Mensch hätte vermutlich weniger Probleme, das Geschehen rund um Fukushima richtig einzuordnen. Wir modernen Menschen reden über Millisievert und Jahresdosen, wir lesen von Berechnungen und Krebswahrscheinlichkeiten, wir lassen uns immer wieder sagen, dass es keinen Anlass zu Sorge gibt, keine gesundheitliche Gefährdung, zumindest nicht akut, wir lesen von Modellen, wie sich das Spaltmaterial im Ozean verdünnt, und von Plänen, auf den ganzen Krempel einen Deckel zu tun. Wir haben beste Informationen und garantiert neutrale Wissenschaftler, wir haben Medien, die genau wissen, welcher Studie man trauen kann, wir blicken in die Details und sehen das Grosse nicht. Das Grosse ist, aus mittelalterlicher Sicht: Der Mensch mag nicht mehr ins Purgatorium, also kommt es unausweislich zum Menschen, durch sein eigenes Verschulden. Und es ist nicht im mindesten so amüsant, wie Dante es sich ausgemalt hat. Es hat keinerlei Dolce Stil Nuovo.
Der mittelalterliche Mensch würde nicht von einer statistisch leicht ansteigenden Möglichkeit der Erkrankung mit Leukämie sprechen, er würde das strafende Feuer, die Allmacht Gottes sehen, das die Menschen scheinbar ohne Logik und Gnade von innen heraus verbrennt: Vielleicht den Statistziker oder die Tochter des Atomkraftgegners, vielleicht die Geliebte des Atomkraftverkäufers oder denjenigen, den das alles gar nicht interessiert. Er würde in der Zufälligkeit, die wir als Wahrscheinlichkeitsrechnung abtun, den Willen sehen, diese Menschheit zu strafen, niemand kennt den Tag und die Stunde, und er würde sich gegen dieses Schicksal, das Fatum, das in der Stochastik steckt, wappnen und seine Gebete verrichten. Die Rücksichtslosigkeit des Schicksals, die einen zu verbrennen und die anderen zu verschonen, mal die Partikel auf das Meer zu blasen und mal auf Tokio, das alles würde ihm das Gefühl geben, klein und hilflos vor der grossen Macht zu sein. Er würde nicht einfach nur das Versagen eines Stromkonzerns nach einem Erdbeben sehen, sondern das Strafgericht, das Fegefeuer im Diesseits. Er würde einen Schritt weiter als die Wissenschaft denken.
Dass man die Gefahr nicht schmeckt und nicht riecht, dass man nicht wie vor dem Feuer davonlaufen und nur hoffen kann, dass das Schicksal anderen den Körper von innen heraus mit Metastasen umpflügt, würde ihn nur in seinen Überzeugungen bestärken. Es tötet nicht wie der Krieg und es rafft nicht dahin wie die Pest, es wartet, es entwickelt sich langsam und brennt Jahrzehnte, in den Opfern, ihren Angehörigen, und niemand wird sagen können, wer es natürlich bekam, und wer durch die Strahlung. Nur die Missgeburten, seit jeher Zeichen göttlicher Ungnade, die kranken Kinder ohne Hoffnung, sie werden Zeichen sein und jeder Mutter Sorge machen. Wollte man dem Fegefeuer entgehen, musste man beten, fürchten, sich niederwerfen, demütig sein: Früher kaufte man den Ablass, heute Jod. Und die Eschatologie hatte doch recht.
Dieses Ding dort an der japanischen Küste, dieses 100 mal 400 Meter grosse Areal, von dem keine Wissenschaft sagen kann, was in ihm vorgeht, das die Menschen verbrennt, die sich ihm nähern, muss von solchen verdammten Menschen noch viele Jahre gekühlt werden. Oben schüttet man Wasser hinein, unten läuft Gift heraus. Es gibt keinen kühlen Platz in diesem Fegefeuer, nur unterschiedlich unangenehme Orte, wie bei Dante. Man kann es wie das Fegefeuer nicht löschen, nur durch Opfer lindern, vielleicht, aber so genau weiss das keiner. Dem Mensch den Mittelalters wäre das wohlbekannt, auch die fast unendlichen Zeiträume, zu denen in Fukushima das Diesseits verurteilt wurde. Mein ist die Rache, spricht der Herr.
Wir aber haben Wissenschaftler. Und Stromkonzerne. Und bessere Reaktoren Und bessere Wahrscheinlichkeitsrechnungen. In zwanzig Jahren auch genaue Analysen, dass allenfalls Promille der Bevölkerung betroffen sind, und erwarten Sie bitte keine Berichte, wie es denjenigen geht, die von diesen Kleinstunwahrscheinlichkeiten betroffen sind, runtergerechnet auf den Einzelfall in der Millionenmetropole Tokio, vom Morphium, das sie Tage und Wochen bekommen, weil sie sonst die Schmerzen nicht ertragen, in denen sie sterben. Wir dagegen dürfen schon wieder davon lesen, dass es auch andere Reaktortypen gäbe, deren Rückstände uns nur 500 Jahre zur Last fallen. Was sehr viel besser als zigtausend Jahre mit diesem Fegefeuer ist, das in Abklingbecken, Zwichenlagern und Salzstöcken irgendwo verbleibt. Wir haben es erst mal gut aufgeräumt, unser Fegefeuer, und das nächste, versichern uns Experten, geht ganz schnell. 500 Jahre, was ist das schon. Genau so viel, wie Sie, liebe Leser, von dem Holzschnitt über meinem Kühlschrank trennt. 500 Jahre Fegefeuer.
Der spätmittelalterliche Mensch, der den Stich gekauft hat, wäre bei diesem Urteil der Eschatologie in die Knie gegangen, und hätte zu Gott gebetet, er möge seiner Seele gnädig sein. Wir dagegen haben Experten, die Studien zur Bedeutung geringer Strahlenmengen auf den menschlichen Organismus verfertigen, und die zum Schluss kommen, dass es praktisch nicht nachweisbar ist, wer von innen heraus verbrennt, weil wir das Purgatorium selbst angezündet haben. Ob es danach wirklich statistisch eine Erlösung gibt – das war auch vor 500 Jahren schon stark umstritten. Restrisiko würde man heute zu dieser Verdammnis sagen.