Setzen Sie sich hin, nehmen Sie sich Zeit, es ist genug Text für alle da.
Es war nicht vorbestimmt, dass Herrn K. dereinst seine Laufbahn auf einem hohen Ministeriumsposten beenden würde. Herr K. Kam in seinem Leben weiter als viele andere, er war hochbegabt und wäre vielleicht Wissenschaftler geworden – aber das war zu unsicher, also lernte er etwas Anständiges, studierte auf Lehramt, gab sich alle Mühe und bekam den Traumposten bei der besten mathematischen Schule weit und breit. Dort verstand er es, das ohnehin schon hohe Niveau noch einmal zu steigern, und das in einer Art, die ihn bei den Schülern und Eltern nicht unbeliebt machte. Mit einer gewissen Achtung sprach man von ihm sehr früh, Respekt wurde ihm gezollt, als seine Unterrichtskonzepte von den Schulräten ans Ministerium empfohlen wurde, und er war noch keine 40 Jahre alt, da ging er nach München und durchlief zielstrebig seinen Weg nach oben. Die fortschrittlich und dennoch nicht liberalen Ideen von Herrn K., Schüler auf Ziele einzuschwören und effizient Unterricht zu halten, gelten mit als der Stoff, aus dem man aus dem neunstufigen Gymnasium ein achtstufiges Irrenhaus machen konnte. Herr K. kann nichts dafür, er hatte gute Ideen, die Ausführung besorgten andere. Aber dennoch sprach man stets mit Achtung von Herrn K.. Zumindest, so lange man von seiner Mutter über ihn unterrichtet wurde.
Seine Mutter kam aus einfachsten Verhältnissen, und hatte das Geld für die Erziehung ihres Sohnes als Besitzerin eines kleinen Zeitschriftenkiosk erspart. Dieser lag günstig genau zwischen dem Westviertel der Stadt und dem Tor der Altstadt, und in einer Bucht davor konnten zwei Autos kurz stehen bleiben. Wer also in der Stadt zu tun hatte – Bürgermeister, Unternehmer, Anlagebetrüger – fuhr, radelte oder ging dort vorbei, kaufte vielleicht Zigaretten oder eine Zeitung, und plauderte etwas mit Frau K.. Eines Tages war Frau K. dann tot, und der Kiosk wurde abgerissen. Er hatte sich damals, in den frühen 90er Jahren schon lange nicht mehr gelohnt, sie ging dort nur hin, weil sie sonst keinen anderen Ort mehr hatte. Das gleiche Schicksal ereilte zu jener Zeit auch die meisten anderen Kioske der Stadt; nur einer existiert noch am Busbahnhof. Das war lange vor dem Internet und der Medienkrise, aber gleichzeitig mit dem Aufstieg dieser Stadt zum effektiven und reichen Wirtschaftszentrum.
Es gibt aus dieser Zeit übrigens auch nur noch ein einziges, alteingesessenes Cafe in der Altstadt. Mit den Kiosken verschwanden auch die Cafes, die Stadt, schien es, konzentrierte sich alleine auf die Selbstbereicherung. Zu jener Zeit gab es in dem Haus, in dem ich wohne, acht Parteien und vier Zeitungsabos, die unter den Frühaufstehern und Langschläfern geteilt wurden. Heute landen jedes Wochenende allein Anzeigenblättchen in der Papiertonne. Und wenn Sie, liebe Leser, mich fragen, warum ich denn kein Mitarbeiterabo dieser Zeitung habe – ganz ehrlich? Die Zeit des Tages, die ich wirklich Zeit für Vertiefung habe, verbringe ich mit alten Büchern und noch älterer Musik. Den Rest besorgt das Internet. Ausser im Urlaub.
Es gibt in Mantua natürlich die FAZ. Sie ist ganz einfach zu finden, man muss nur die Kioske ansteuern, die ihre Ständer für deutsche Presse von diesem Hause haben. Hier habe ich genug Zeit, schliesslich ist hier zwischen 12.30 und 15.00 Uhr alles geschlossen. Für einen Langschläfer und Spätarbeiter wie mich (ich schreibe dies um 22:44 Uhr) sind das paradiesische Zustände, kaum habe ich gefrühstückt, wird es auch schon Zeit, nach Mantua zu radeln und mich dort in die Bar Venezia zu setzen, und die FAZ zu lesen. Ich bin da nicht der einzige; es gibt viele Männer und Frauen, die allein mit einer Zeitung im Cafe sitzen. An der Piazza delle Erbe in Verona gibt es kostenloses WLAN – auch dort sehe ich nur Zeitungen. Wer sollte sich auch mit einem Rechner in ein italienisches Cafe setzen, um zwei Stunden zu surfen? Das ist vollkommen irrwitzig. Kein Mensch würde so etwas machen. Man zieht die Zeitung heraus, meist beige und oft auch rosa, und liest. Oder liest sich was vor. Oder redet über Gelesenes. Oder schaut, was bei den anderen in der Zeitung steht.
Mantua hat nur ein Drittel der Einwohner meiner Heimatstadt. Ich könnte aber auf Anhieb 10 Kioske in der Altstadt nennen. Es gibt hier keinen Platz ohne Kiosk. Die kürzeste Distanz zwischen zwei Kiosken, die ich hier kenne, sind weniger als 100 Meter. Alle leben sie, alle verkaufen sie genug, man muss sich nur umschauen: Kiosk – Cafe – Zeitung. Was soll man auch sonst tun, wenn die Sonne scheint, man schlecht für die zwei Stunden nach Hause radeln kann, genug Langweile am Computer hatte und entspannen möchte? Eben. Etwas kleines zum Essen, das ein oder andere Getränk, eine Zeitung, zwei Stunden Zeit, come un bel di di maggio.
Es gibt ja so eine These, dass der Niedergang der gedruckten Zeitung dem Internet zuzuschreiben ist. Tatsächlich merke ich hier seit zwei Jahren, wie sich meine Zahlen nach oben entwickeln: die verkaufte Auflage dagegen sinkt. Ausser am Wochenende. Das Wochenende ist für Zeitungen der Lichtblick im Jammertal, da wird noch gedruckt und mit Werbung schwer verdient. Da haben die Leute dann auch genug Zeit, dieses Produkt wirklich zu nutzen. Sie lesen es. Sie sind zumindest teilweise durchaus bereit, das Produkt zu kaufen, wenn es – wie bei den Honoratioren meiner Heimatstadt – noch in den Tag passt.Was es ganz sicher nicht mehr tut, wenn ich mir den Tagesablauf der heutigen Lehrer anschaue. Und wenn ich sehe, wie Schüler in dieser neuen Schule rotieren, sehe ich auch den Zweck von Aktionen nicht, Zeitungen an die Schulen zu bringen. Man kann die mangelnde Aktualität der Zeitung problemlos durch vertiefte Analysen aufheben. Aber man kann die Analyse nicht verkaufen, wenn der Leser keine Zeit dafür hat, weil er sich schnell im Supermarkt irgendwas in den Mund stopft, bevor das nächste Meeting losgeht. Man kann sich als Zeitung an diese Haltung ausverkaufen in der Hoffnung, dass andere dabei schneller draufgehen. Siegen und gutes Leben sehen anders aus.
Es gibt im schönen München eine Zeitschrift für Luxusprodukte und angenehmes Leben, deren Chefin ihren Mitarbeiterinnen aus Gründen von Figur und Effizienz das Essen im Beruf verbietet. Es gibt Wirtschaftsseiten, die sich über neue Formen der Personalführung begeistern, selbst wenn die Betroffenen mit Problemen wie Burnouts zu kämpfen haben. Der Beruf des Journalisten ist leider oft genug genussfeindlich und in Sachen Zeitgestaltung eher unattraktiv, und deshalb werden oft Haltungen für gut befunden und verteidigt, die Herr K. effizient befunden hätte, aber seine Mutter in den Ruin treiben würden. Wir führen Debatten über Paymodelle im Internet und einen Stück vom verbleibenden Awarnesskuchen, im Kampf gegen social Networks und Pr0nseiten, weil unser Begriff von Zeit nicht mehr zur alten Zeitung passt. Verlage sehen die katastrophale Verweildauer und hoffen, die werbetreibende Industrie denkt, dass andere noch schlechter sind, und nur deshalb bleiben. Was gedruckte Medien mit ihen Onlineangeboten machen ist “live to fight another day”, aber ich würde mich auf den guten Ausgang dieses Tages nicht verlassen.
Zeitung bräuchte statt des Rattenrennens diese zwei Stunden, dieses Stück Wochenende an jedem Tag. Amüsanterweise hätten Zeitungen durchaus die Mittel in der Hand, ihe eigenen Leser dafür zu begeistern. Oder aber – sie eröffnen Blogs, in denen es um schnelle, billige Nahrungsaufnahme in Supermärkten geht. Sie könnten für eine Welt eintreten, die zu ihnen passt. Oder das Wettrennen in eine Zukunft mitmachen, die ihr Wachstum allein aus der Verknappung der Ressource besteht, ohne die keine Zeitung gekauft wird. Keine Zeit, keine Zeitung, ganz einfach.
Natürlich geht das nicht für alle, manche müssen wirklich arbeiten und haben auch gar kein Interesse an langen Lesestücken, aber für die anderen müsste man dafür eintreten, dass sie diese zwei Stunden irgendwann bedingungslos und verbindlich haben: Ein bedingungsloses Zeiteinkommen. Und dann müsste man sich vorstellen, wie so eine Zeitung im Umfeld eines Cafes am besten funktioniert. So müsste man schreiben. Ein Cafe ist eine grossartige Sache; man liest auch im Flugzeug und im ICE gern etwas, das einem die Illusion gibt, in einem Cafe in Mantua zu sein. Niemand würde eine Zeitung kaufen, die einem im Cafe den Eindruck vermittelt, gleich käme der unfreundliche Schaffner, oder der Nebenmann würde sich schon wider der Armlehne bemächtigen, oder man könnte erfahren, in welchem hässlichen Markt welcher Pappbecherkaffee 10 Cent billiger ist. Das Cafe ist wichtig, es ist das Zentrum der Kultur der Besserlebenden. Danach kann man ja immer noch effizient für die Ideale des Herrn K. arbeiten. Mit dem Gefühl, dem Zwang ein paar Stunden entgangen zu sein, geht es besser. Man lebt angenehmer. Wird älter. Und hat länger Zeit, das Abo zu behalten. Es wäre ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, wir stacheln zu schönerem Leben an, die Leser leben schöner, alle sind glücklich und zufrieden. Oh, natürlich, werden da manche aufjaulen, wo kämen wir denn da hin, wenn jeder am Mittag zwei Stunden im Cafe sässe, die Wirtschaft würde zusammenbrechen, die Value Chain erodieren, und all die schönen, zusammengepappten Fastfoodbrötchen der amerikanischen Ketten, wer sollte sie noch kaufen, wenn der angeschmolzene Grana Padano duftet? Niemand natürlich. Aber bei 2% Auflagenverlust pro Jahr kann ich keine Rücksichten auf Brotschnellzusammenkleber nehmen, bedaure.