There is nothing more exhilarating than to be shot at without result.
Winston Churchill
Vor sechs Jahren besuchte mich leichten Herzens und schnellen Entschlusses ein Freund aus Berlin. Von den alkohlolikergesäumten Gestaden der Spree zu den trinkergefüllten Fluten der Donau fährt man gut 5 Stunden, davon lange Strecken durch die brandenburgischen Ausläufer der Wüste Gobi an den Füssen des Thüringer Urals, aber er kam gerne für zwei Stück Kuchen. Er meinte, er würde sich das später vielleicht nicht mehr leisten können, einfach mal für einen Tag hierher zu fahren. Und obwohl es ein sehr angenehmer und lustiger Tag war – man hat mit ihm immer viel zu lachen – sprachen wir auch über das Altern. Wir kämen, so führte er damals aus, in das Alter, da man jeden Tag nach dem Aufstehen Tabletten nehmen muss, um sicher zu gehen, dass man am nächsten Morgen aufstehen kann. Und tatsächlich ereilte danach den einen der Blinddarm und den anderen ein Tumor, der eine konnte wegen seiner Knie nicht auf den Berg, bei anderen wanderte eher etwas in der Wirbelsäule; und all die blinden Maulwürfe mutierten zu sichtlosen Grottenolmen und hätten Probleme, das hier oder auch nur den morgendlichen Weg zum Bad ohne Brille zu erkennen.
Nur ich brauche keine Tabletten, um dem Heuschnupfen, der mich ins Asthma treibt, zu entgehen. Sechs Wochen Italien sind Therapie genug, und jeden Morgen esse ich Focaccia con Cipolle für ein hohes Alter und am Nachmittag Sauereien von Pavesi gegen Vitaminmangel und dazwischen schreibe ich Beiträge über das Nichtstun gegen meine Verarmung durch Schuhkauf (und ganz ehrlich: mein Schaffen ist davon das Minderwertigste). Es ist nicht so, dass man durch das Leben hüpft, bis man alt und krank wird und Krankenhaus und Sterben die beherrschenden Themen sind. So um die 40 herum taucht jedoch die Morbidität in den Gesprächen auf, um stetig mehr Raum einzunehmen. Von einem “was, so jung schon und das Problem hast Du” mutiert der Gesprächsverlauf zu “eine Freundin hat das auch und der Arzt sagte ihr”, um sich schlussendlich zu einem “das hatte ich vor zwei Jahren auch, daran stirbt man nicht”-Geschwür der Veteranen zu verwandeln. Und das alles nur in fünf Jahren.
Und dann – stirbt der eine oder andere doch daran. Natürlich, wir werden alle älter – unter 80 Jahre im Schnitt in den Regionen, in denen man nicht leben möchte, über 80 dort, wo ich gemeinhin wohne, und das trotz Hautkrebs und all den Sportunfällen rüstiger Senioren. Aber das ist Statistik, und für vier 90-jährige erwischt es dann auch einen mit 40. Besuchen Sie das schöne Rottach am Tegernsee, Sie werden jede Menge bestes Statistikmaterial zur Begründung finden, warum es erhebliche Wahrscheinlichkeiten für einige gibt, nicht so alt zu werden. Man wähnt sich, angesichts der Möglichkeiten von Medizin zwar gerne auf der richtigen Seite, man sieht sich selbst gern als Fels in der Brandung, dem keine Welle – und bitte, was für Wellen sollen in so einem besseren Dasein schon kommen – etwas anhaben kann.
Wenn man “Recht” hat, hat man einfach das Glück gehabt, dass sich die Statistik einen anderen herausgesucht hat. Die Chancen für den nahen Tod sind, für alle betrachtet, gar nicht mal so furchtbar schlecht. Oder gut, je nachdem, ob man es als Statistiker oder Untersuchungsgegenstand betrachtet. Wenn man es nur vorher genauer einschätzen könnte, würde man sich vermutlich danach richten – auch wenn es ohnehin seltsam erscheint, wenn sich die vergoldete Nichtmehrganzjugend meines Umfeldes sagt, 20 Jahre klotzen sie noch ran und dann wird gelebt. 20 Jahre ist eine lange Zeit, wenn man sie schuftend zubringt. Und kurz, wenn danach dezidiert Schluss ist. Arbeiten, scheint mir, ist auch ein wenig die Flucht vor der letzten Gewissheit.
Vor dieser letzten Gewissheit kann man natürlich auch Roulette mit dem Schicksal spielen: Auf der anderen Seite des Sees liegt der romantische Ort Salo’, zu trauriger Berühmtheit gelangt durch die kurzlebige “Republik von Salo'”, jenem deutsche Vasallenstaat von Hitlers Gnaden, dem Mussolini nach seiner Entmachtung als Duce erneut vorstehen durfte. Dort ist auch das Haus von Otto Erich Hartleben, der zu seiner Zeit – es war das wilhelminische Deutschland – enorme Popularität genoss. Er war beliebter Theaterautos, Bestsellerschreiber und Mitherausgeber der Zeitschrift “Die Jugend”. Zweimal in seinem Leben kam er zu einem grösseren Vermögen: Einmal durch Erbschaft. Die nutzte er, um sehr unstandesgemäss, aber seinen Neigungen entsprechend eine ehemalige Kellnerin zu heiraten, was sich aber als suboptimale Investition erwies. 1900 erschien dann eine sagenhaft erfolgreiche Gesellschaftstragödie, die genug einbrachte, um sich ein Haus in Salo’ zu kaufen und dort den Rest seiner Tage mit seiner neuen Flamme und freigeistigen Freunden zu verbringen.
Es war, muss man sagen, keine grosse Anzahl von Tagen, denn schon 1905, mit nur 40 Jahren, starb Hartleben in dieser seiner Sehnsuchtsstadt. Sein Werk “blieb überschaubar”, darf man nachlesen, denn Hartleben hatte es mitnichten mit der Vorstellung, seinem Namen gerecht werden zu müssen. Es gehört wenig Phantasie dazu, sich seine Zeitgenossen vorzustellen, die einen derartigen Lebenswandel sicher nur begrenzt goutierten: Subversives schreiben, vermögend werden, verschwinden und am See sitzen. Wir jedoch, die Nachgeborenen, müssen erkennen, dass Hartleben das Beste aus seiner Situation gemacht hat, und mitnahm, was möglich war. Natürlich hätte er noch vier Jahre daran geben können, weitere Verkaufsschlager zu produzieren, aber jener zarten Literatur ward es auch nicht gegeben, das Massensterben im Grossen Krieg für einen thomasmannesken Nachruhm zu überleben. Als hätte er die Wogen des Schicksals erahnt, mag man sich denken, die entscheiden, welche Kiesel an den Strand geworfen werden, welche im Wasser verschwinden, und welche im Laufe der Zeit zerrieben werden. Wie kann er nur, sagten jene, die von seinen Eskapaden lasen, und heute mit all ihrer Empörung noch erheblich vergessener sind, als der Dichter am anderen Ufer des Sees, der manchmal sehr schön ist, und manchmal die Styx.
Da sitzt man also und schaut hinaus, hinten kommt ein Schulbus und sammelt Kinder ein, die zu schlecht bezahlten Lehrern gesperrt werden, und die nachmittaglichen Wellen, getrieben vom Wind aus Oberitalien, plätschern dezent an den Strand. Vier Wochen war man in Italien und hat nichts getaugt und wenig gelungensten, aber viel geschnauft und überhaupt, taugen – wer je dem Barras entging in alten Tagen, der weiss um die Süsse der Untauglichkeit, anderthalb gewonnene Jahre, nicht eingesperrt, frei. Daheim sagen manche, erheblich Reichere, sie hätten es auch gern so schön; sagt man ihnen aber, sie sollten doch bitte herkommen und sich auch vergnügen, werden Termin- und Karrieregründe vorgeschoben. Es sind speziell jene, die auf gar keinen Fall so arm, so normal, so unbedeutend wie alle anderen sein wollen, sie möchten nach vorne, oben, wo immer das sein mag, jedenfalls nicht hier am Strand, noch ein Jahr und noch ein Jahr, und am Ende dann: Der grosse Gleichmacher Tod. Gratulation zum Erreichen des Ziels. Lassen Sie Ihr Leben los, Sie gewinnen so viele Privatjets, wie sie tragen können.
Natürlich weiss man es nicht. Und all jene, die hier die Villen besitzen, die mir nicht gehören, müssen es irgendwie geschafft haben, sich ihrer zu bemächtigen; sie oder ihre Vorfahren haben sich schwer hinein gekniet und abgerackert und dafür gesorgt, dass andere es zu ihren Gunsten auch tun. Aber der Bentley in Sirmione war nicht offen wie mein Cabrio, und für die Kinder hinter der Glasscheibe des Schulbusses, für mich und vielleicht irgendwann auch wieder für den Villenbesitzer nebenan – das Gebäude ist noch verrammelt – wäre es die gleiche Aussicht. Nicht jeder hat es selbst in der Hand, das ist schon ein gewisses Privileg der Reicheren dieser Gesellschaft. In diesem Moment, der Schulbus ist abgefahren, bin ich allein mit meinen Gedanken. Nicht die beste Gesellschaft, aber angenehm. Ich winke Herrn Hartleben über die Styx zu, und bringe ihm, Händelarien hörend, in den Kurven der Gardesana ein kleines Rauchopfer mit 131 PS. Oben in Costermano, wo ein paar tausend Deutsche liegen, die für den Glauben an den Übermenschen und eine Herrenrasse mit dem Leben bezahlten, bestelle ich einen Gang zu viel, verschlucke mich und denke gleich wieder an den Tod: Wenn ich einmal nach der letzten Völlerei die Wahl habe, würde ich gern auf der anderen Seite bei Herrn Hartleben liegen.