מנא ,מנא, תקל, ופרסין
Die Fahrt über den Campo von Siena gehört zu den grossen Augenblicken der Mille Miglia – so oder ähnlich steht es in vielen Berichten. Vor dem Campo fährt 2011 eigentlich niemand, durch einen Fehler der Organisation staut es sich durch die ganze Altstadt, ein Inferno aus alten Bugattis, Alfas und Lancias, die höllisch stinken, und der Abwärme ihrer modernen Enkel, der Ferraris, McLaren SLRs und Porsches, die man gegen Geld, Beziehungen oder Dreistigkeit mit in die Gassen lässt. Zusammen mit den roten Backsteinmauern geben die engen Schluchten einen schönen Eindruck davon, wie die Hölle des Individualverkehrs aussieht: Es ist der teuerste Stau der Welt. Es sind die schnellsten Strassenfahrzeuge ihrer jeweiligen Zeit. Und alle stehen sie, alle Fahrer schwitzen, die Motorkühlungen kochen über, man kämpft um Schattenplätze, man schiebt, man krepiert, man wird aggressiv. Zumal ein paar Mangelintelligente es auch hier nicht bleiben lassen können, ihren Motor bei hohen Drehzahlen im Stand anzuhören. Normalerweise ist hier ZTL, höchst begrenzter Verkehr. Heute kann hier jeder verstehen, was “freie Fahrt für freie Bürger” bedeutet, wenn man es radikal umsetzen würde.
Durch dieses Inferno aus stehendem Blech und zerlaufenden, wütenden, eingesperrten und hilflosen Fahrern geht ein alter Mann mit Krückstock, als wäre es wirklich der Höllenkreis für Automobilfreunde. Er ist langsam. Er humpelt. Er überholt sie alle, kopfschütelnd und verständnislos. Er deutet auf das laute Metall, dann auf seine Ohren, und seine Stirn: Impazzito, schreit er gegen den Lärm an. Ich bin hier nur mit Kamera, Käfer und 30 Pferdestärken, und der Wagen steht auch brav vor der Stadt in einer Garage. Trotzdem schäme ich mich. Er hat recht. Impazzito, durchgeknallt. Das Ende des Individualverkehrs, lauter Individualisten und seltenste Fahrzeuge, geronnene Schlacke vergangener, unseliger Zeiten, aufgestaut im engen Labyrinth der Gassen und – wer könnte es bezweifeln, der es gesehen hat – für die Verschandelung der schönsten Stadt der Welt verdammt zum Aussterben. Niemand, der bei Sinnen ist, würde das lange aushalten. Es muss anders werden.
Und es wird anders. Politik hat in den letzten Jahren die Eigenschaften entwickelt, ganz langfristig zu entscheiden. Nicht mehr das, was heute wichtig ist, sondern jetzt schon mal das, was in 15 Jahren sein wird. Die Glühbirnenverordnung war steinalt, als sie langsam, langsam, eingeleitet und umgesetzt wurde, mit der Idee des langsamen Abkochens eines Bürgerhummers im Hinterkopf, der gar nicht merken sollte, was da kommt. Die Euroeinführung. Der Rhein-Main-Donaukanal. Stuttgart21. Lange, lange Vorlaufzeiten, lauter Projekte, wegen derer man die nächste Wahl nicht verlieren muss, wer weiss schon, was in zehn Jahren sein wird, und ganz ehrlich: So ganz war auch mir 2009 nicht klar, dass ich 2011 enorme Probleme haben würde, für meine venezianischen Leuchter matte Glühkerzen zu finden. Und in ein paar Jahren werden dann viele Althausbesitzerkollegen erstaunt begreifen, dass die Nachrüstpflicht für Wärmedämmung am Altbau von 2002 ein sehr teures Förderungsprogramm für Algen, Schimmel und marode Fassaden war.
Und nun also die Lösung der Verdammten in den Strassen von Siena: Mit dem Programm zur Förderung der Elektromobilität, das gerade von der Regierung erarbeitet wird, steht der grosse Umbruch beim Verkehr fest. Und es ist eine gelbschwarze Regierung Hand in Hand mit der Autoindustrie, die Steueranreize für den Kauf von Stromautos vorschlägt. Es sind nicht die Grünen, die bevorzugte Parkplätze und Fahrstreifen für E-Mobilität umsetzen. Oder, sagen wir es andersrum für alle, die ein wenig Verdammnis doch etwas abgewinnen können: Die den klassischen Verbrenner fossiler Energien zu diskrimieren gedenken. Denn jede Förderung von E-Mobilität wird durch die Abgaben der anderen finanziert. Eine Million Stromautos bis 2020. Non impazzito. schwarzgelbe Politik von 2011. Zusammen mit Firmen, die vor nicht allzu langer Zeit noch gegen Katalysatoren eingestellt waren.
Diese Industrie schickt immer noch Grossaufgebote zur Mille Miglia. Diese Industrie lebt heute noch von der ruhmreichen, abgaserfüllten Vergangenheit und verkauft Vertreterträume von 300 PS im Motorraum des Firmenkombis. Gleichzeitig hat diese Industrie durch Ozon und Feinstaub, durch Fahrverbote und Verkehrsberuhigung auch begriffen, dass sie in den Städten ein Problem hat, und macht entsprechende Wettbewerbe für Zukunftsvisionen. Da gibt es durchaus noch ein Auto. Aber eigentlich dominiert dabei ein anderer Gedanke. Grob formuiert: “Die ideale Mobilität für jeden Ort immer und überall verfügbar haben.” Für die Innenstadt ein Elektrorad. Für die Metropole ein immer geladenes E-Auto. Für die Langstrecke einen Hybrid. Für den Weg zum Kindergarten und zum Urlaub einen Kombi. Für das Wochenende ein Cabrio.
Natürlich kann das keiner alleine besitzen. Die Zukunftsplanung solcher Wettbewerbe und Think Tanks ist weniger der Verkauf von Stromautos, sondern die Dienstleistung der individuellen Mobilität. Für die Automobilfirmen, die 125 Jahre lang das Hohelied der individuellen Freiheit durch Kauf und Besitz sangen, von Prestige und Luxus, ist die E-Mobilität die späte Eintrittskarte in die Welt der Service Provider, der geschlossenen Systeme, der Walled Gardens, wie man sie von den Telekomkonzernen und Apple kennt. Auf der einen Seite sind geförderte und bevorzugte, aber wartungsintensive und im realen Leben schlecht aufladbare E-Fahrzeuge. Auf der anderen Seite sind teure Stellplätze, Parkplatznöte, Spritpreise, Umweltfolgen. Die konvergente Lösung ist nicht mehr der Kauf eines Autos für jeden, sondern die Vermietung von Fortbewegung. Man kauft kein Auto mehr. Man zahlt einen monatlichen Betrag für ein bestimmtes Paket und hat, je nach Preis, eine bessere oder schlechtere Mobilität. Arm und Reich entlang der Gini-Zahlen wird es weiter geben.
Wer heute Opel Astra fährt, hat dann eben ein Standardpaket ohne alle Optionen. Wer heute die S-Klasse fährt, hat dann überall bevorzugte Beförderung. Wer auf nichts verzichten möchte, kann jederzeit und immer frei wählen. Für die grossen Autokonzerne ist das ein phantastisches Geschäft: Lästige, kleine Anbieter werden vom Markt verschwinden, weil sie die Infrastruktur nicht kostengünstig betreiben können. Der Kunde hat keinen Ärger mehr mit TÜV und Werkstatt, das besorgt alles der Anbieter. Man muss sich das nur einmal durchrechnen: 1 Million E-Fahrzeuge in neun Jahren sind eine Million Kabel, die stundenlang zwischen Stromnetz und Akku sein müssten. Das geht nicht individuell. Das geht nur, wenn jemand in der Lage ist, in kurzer Zeit die schwere Energieversorgung auszutauschen. Für den Sprit braucht man die Saudis. Für die Batterie dagegen nur eine Leitung und Akkus. Und den Autohersteller, der damit einen Kunden hat, der nicht mehr von der Leine kann, solange er das Auto besitzt. Der Unterschied zum Mieten ist damit marginal.
Das alles muss noch nicht mal schlecht sein. Es kann auch gut für Städte und Umwelt sein, niemand wird den Saudis und Gaddafis dieser Welt nachweinen, und am Ende des Tages ist es für die Fahrer – oder “User” – egal, ob sie nun in München 25000 Euro für einen Stellplatz bezahlen, oder ein etwas teureres Paket haben, bei dem sich um den Stellplatz keinen Gedanken mehr machen müssen. Es ist fraglos gut für die deutsche Autoindustrie, der es vollkommen egal sein kann, ob ein japanischer Hersteller längst das bessere Produkt hat, solange der die Infrastruktur in Deutschland nicht stemmen kann, und so aus dem Bauch heraus würde man sich derartig komplexe, aber auch effektive Mobilitätskonzepte eher von deutschen Ingenieuren wünschen, als von ihren italienischen und französischen Kollegen. Man brächte damit vielleicht auch all jene über Schnupperabos in das Auto, die zwar einen Führerschein haben, aber in der Stadt nur selten einen Wagen brauchen. Es ist schwer, Argumente dagegen zu finden, es ist eine sinnvolle Utopie, sie ist ebenso knallgrün wie kapitalistisch, alle sind dafür, es ist Konsens, und damit daraus keine Gleichmacherei wird, wird es auch weiter S-Klassen-Angebote geben, und welche aus Rüsselsheim.
Nur wir, die Freunde lauter Motoren und siedender Öle, mit denen wir in Rom den Papst aufwecken, in den Dörfern die Kinder entzücken und in Siena in der Hölle, die wir und die anderen sind, langsam verschmoren, bis unsere Haut aufplatzt und die Lungen verstopfen – wir kommen darin nicht mehr vor. Wir sind das Venedig des 21. Jahrhunderts, der untergehende Sündenpfuhl, und besser, man riecht, hört, betrachtet und hasst uns auf einer grossen Galerie, solange wir noch nicht untergegangen sind, und die Wege frei für alle machen müssen, über die man nicht den Kopf schütteln wird. Die Welt wird ohne uns sehr viel besser und sicherer sein, es wird bei allen Fassaden der Angebote gleicher zugehen. Und ich mit Kamera, Käfer und 30 PS?
Mir bleibt immer noch die Erinnerung an diese untergegangene Epoche. Wir fahren zur Hölle, wie es sich gehört. Vollgas, laut und ohne Reue. Lieber tot und verrostet als ein Leben im Elektrorollstuhl.