Friar: God pardon sin! Wast thou with Rosaline?
Shakespeare, Romeo und Julia
Mit Rosalind? Ach nein! Vergessen ist der Name und des Namens Pein!, ruft Romeo daraufhin aus. Fortwährende Pein jedoch bereitet meine hiesige Arbeit – bestehend aus lang schlafen, etwas in der Gegend herumradeln, Siesta halten, in alten Automobilen nach Rom und Siena rasen, ein wenig bummeln und nach diesem Stress eine Weile gar nichts tun, irgendwann muss man sich in 6 Wochen ja auch erholen – das alles also schmerzt den Leser H. aus P., der sich zu folgendem Schreiben genötigt sah: “Anrede, ist ja schön für Sie, blabla, wir gönnen Ihnen, floskeloskel, aber als regelmässiger Bezieher dieser Zeitung habe ich ein Recht, drohlido, immer nur plaudern, sinnkling, und wenn Sie schon, pflichtigicht, dann sollte wenigstens Nutzwert, gelldilell, wenn schon keine Wissenschaft, fingerzeig, sonst ich das Haus und dort kenne ich und dann, jawoll. Ihr (Kleinschnörkel) H. aus P.
Lieber H. aus P., Sie könnten angesichts des obigen Bildes nun annehmen, dass ich meiner Pflicht als Kulturschaffender dieses Hauses nachkomme und nach den diversen Rasereien der letzten Woche nun ein paar wohlgerundete Worte über Romeo, Julia und Shakespeares Inkompetenz verliere, in seinem Stück die beiden Liebenden korrekt der Topographie zuzuordnen, verbunden mit ein paar Hinweisen zu Literatur mir im Studium nahestehender Professoren für nachgerade Bayreuther Liebesdienste. Leider habe ich etwas anderes zu lange nebenher studiert, das Sie vermutlich nicht die Bohne interessiert, aber sollten Sie dereinst in Verona – und hier nicht allein, etwa mit Ihrer Sekretärin – sein, dann habe ich etwas Nutzwert für Sie. Denn viele deutsche Touristen denken, Verona sei eine Stadt der Liebe. Und zu diesem Zweck haben die geschäftstüchtigen Veroneser inmitten der Einkaufsstrassen ein Haus zum Haus der Julia erklärt, gegenüber ein Geschäft für Kindermoden eingerichtet, und Besucher aus aller Herren Länder haben nichts besseres zu tun, als ihre Namen dort mit ihren Geliebten auf die Mauern und Türen der Umgebung zu schreiben und zu hoffen, dass es ewiglicher währt als die Gefühle, die Sie für Ihre Frau empfinden, die nicht Ihre Sekretärin ist. Das sieht schlimm aus, das ist nicht denkmalgerecht, vor allem aber zeigen Sie damit, dass Sie ein Tourist sind, und nichts, überhaupt nichts von Italien verstehen. In Verona verführt, liebt und küsst man ganz sicher nicht hier, wo es jeder mitbekommen kann, inmitten von Tausenden anderen mit begrenzter Bildung.
Womit wir zum Nutzwert kommen. Wer würde nicht in Verona wie ein echter Romeo küssen wollen, am richtigen Ort, zum richtigen Moment, unter einigen anderen Romeos? Tausende Reiseführer sagen Ihnen, wie Sie die verölte Pizzasimulation an der Arena zugunsten jener Restaurants umgehen, die der Italiener bevorzugt, keiner jedoch verrät Ihnen, wo die Distanzen zur Sekretärin auf Null herabschmelzen in den Gluten der Liebe. Ich verrate es Ihnen gerne: Wie Romeo und Julia findet man wahre Erfüllung nicht in der Stadt. Man muss hinaus, und zwar über die Ponto Pietra, die seit 1900 Jahren hier die Etsch überspannt. Sogleich verschwindet das hektische Gedrängel der Altstadt, das gar nicht zum zärtlichen Hauchen passen will, keine schreienden Kinder, keine Tagestouristen aus Erlangen, nur jene, die auf die andere Seite wollen und die anderen, die wissen, was dort ist.
Dort nämlich, am Ende der Brücke über der Strasse, findet sich eine kleine Steintreppe den Berg hinauf. Zu Beginn schmal und fast wie ein Privatweg wirkend, eröffnet sie bald Blicke in anmutigste Gärten und auf entzückende Häuser, die in den Anstieg hinein gebaut sind. Man muss nur ein paar Meter in diese verschachtelte Ansiedlung gehen, und der typisch italienische Stadtlärm bleibt zurück. Still ist es hier. Schön, pittoresk und verschwiegen. Dezent. Intim. Fast ein wenig voyeristisch sind die Blicke, die unvermeidlich in Gärten und auf Terrassen fallen.
Weiter oben dann, die privaten Gebäude bleiben zurück, der Weg wird steiler und einige Durchgänge tun sich auf, finden sich wieder Graffiti an den Wänden. Das private Idyll weiter unten bleibt verschont, aber im oberen Bereich gibt sich der Italiener hemmungslos Liebesversprechen und Anschmachtungen hin. Mal mit Herz und mal mit Gedicht, nichts von Lega Nord und Neofaschisten und was es sonst an politischer Missbildung noch gibt. Es gibt nur das eine Thema in vielen Varianten. Aber, glücklicherweise, weitaus weniger brutal und übervoll als unten in der Stadt.
Keine Sorge, es ist schon fast gelungen. Sind Sie erst hier angelangt, geht es durch einige weitere Stufen, vorbei an kleinen Grünflächen und gern beschriebenen Steinen der Stützmauern nach oben, ins Blau des italienischen Himmels. Es ist nur so weit, dass man sich nicht unangenehm fühlt und zu schnaufen beginnt, aber doch so weit, dass man gerne das ein oder andere Kleidungsstück ablegt. Der Berg verlangt eine gewisse Hingabe, aber keine Aufopferung, er fordert, aber er quält nicht, er ist wie eine gute Liebe oder wenigstens wie eine stressfreie Affaire. Oben dann ein Tor, nach rechts, dann noch ein Treppchen, und man ist oben beim Kastell.
Man hat dort oben eine phänomenale Sicht über Verona. Die Terrasse des Kastells ist sehr breit, es gibt eine Steinmauer und Bänke, auf denen man sich niederlassen kann, und weil es so breit ist, könnten hier oben 20 Paare bequem undezente Dinge tun, ohne sich dabei irgendwie ins Gehege zu kommen – und zwischendrin wäre immer noch genügend Platz für ein paar abschirmende Bustouristen aus Erlangen. Dass hier dergleichen stattfindet, entnimmt man den vielfältigen Liebesschwüren auf der Balustrade; hier waren der Veroneser Romeo mit seiner Julia, hier hat er sich schriftlich seiner Gefühle versichert, und wer es hier nicht schafft, den Arm um die nackten Schultern seiner entzückten Sekretärin zu legen, dem ist im Bereich der nichtkäuflichen Zuneigung nicht zu helfen. Das hier ist das fast idealtypische Zimmer mit Aussicht, hier gilt es zu wagen und zu gewinnen – es kann sein, dass es unten in den bekannten Läden auch nicht schwerer ist, aber nie ist es so schön, so zwingend wie hier, über der Stadt und den Dingen, in der reinen Luft, fern des Alltags.
Entsprechend geht es hier dann auch zu allen Tages- und Nachtzeiten bis zur Schliessung der Tore zu. Junge Paare, Verliebte, Männer, die noch daheim wohnen und es besser hier tun, Anzugträger und Vespafahrer, Pumps und Turnschuhe, in der Liebe sind sie alle gleich und in der Ortswahl auch, solange sie denn den Ort kennen. Für den Fremden mag es sogar noch schöner sein; dem Veroneser, dem geht es wie mir, der hat hier oben schon die Julia geküsst, aber auch die Nicoletta und die Rosaline, und die Sophia wird er eines Tages auch unverdächtig hier hoch bitten, der Ort trägt die Namen vieler Frauen; der normale Tourist jedoch hat das Vergnügen nur selten, zu selten, und deshalb ist es etwas Besonderes, es hier zu tun im Wissen, dass man für diesen Moment im Einklang mit der Fremde und den Fremden ist – ein Italiener eben, mit Julia im Arm. Nur jetzt, nur in diesem Augenblick.
Verharren Sie also etwas.
Die ein oder andere kleine Ewigkeit.
Man kann hier recht lange bleiben, der Hang öffnet sich gen Süden, es ist warm, es gibt keinen Grund zur Eile.
Es gibt dann, so man sich gelöst hat, und lösen muss man sich, denn oben wird in der Nacht abgesperrt, zwei Möglichkeiten; die eine ist verträumtes Wandeln ins Tal, zwischen römischen Theaterruinen, kleinen Häusern und einem immer noch eindrucksvollen Panorama. Das ist das, was den Veronesern letztlich bleibt, dehalb auch die Inschriften beim Herabsteigen als Erinnerung, leider zu oft an etwas, das gewünscht wäre, aber unten in der Stadt kaum fortzusetzen ist.
Oder aber man ist gewitzt und beschafft sich, lange Planung und zielstrebiges Agieren vorausgesetzt, entlang des Abstieges ein diskretes Zimmer. Das ist nicht leicht, eigentlich sogar fast unmöglich, aber es wäre nicht Italien, wenn sich ein Versuch nicht lohnen könnte. Irgendwo ist vielleicht eine verschwiegene Pforte, ein leichtgängiges Schloss, eine Zimmertür und ein offenes Fenster, durch das am Abend die Hitze des Tages schwindet. Das jedoch würde Doppelbuchungen voraussetzen, Wagemut und die Bereitschaft, vielleicht doppelt zu verlieren, aber man mag sich trösten: So schlimm wie bei Berlusconi, Strauss-Kahn und anderen internationalen Persönlichkeit wird es nicht kommen. Schlimmstenfalls war es ein schöner Ausblick ohne Folgen. Bestenfalls…
bestenfalls kann man ja noch einmal hierher kommen, ein Schloss an den vielen anderen Schlössern befestigen, die von jenen an die Ponte Pietra geheftet wurden, die sie einst auf dem Weg hoch zum Kastell überschritten, die Schlüssel in die Etsch werfen, per sempre sagen und ganz italienisch sein. Niemand weiss natürlich, wie das Ende sein wird.
Aber der Anfang war dann schon mal nicht ganz schlecht.