Nur mal schnell schauen.
Stellen Sie sich vor – so Sie es nicht sind – Sie wären reich. Also so reich, dass Sie materielle Sorgen bein Impulskaufes eines alten, angeschimmelten Jaguar Cabrios in der Tiefgarage von Ihrem Nachbarn am Tegernsee nur insofern empfinden, als Ihre Freundin ungehalten wird und fragt, wozu denn noch einen Viertwagen. Sie will lieber Kinder und für jedes Kind ein Pferd und einen knackigen Tennislehrer. Ich selbst, der ich in unserer Tiefgarage jedesmal nur mal schnell schauen will, und dann der Versuchung des Jaguars widerstehen muss, ich also, der ich bei Bekannten erlebt habe, welche Folgen die Kombination von mittelprächtig laufenden Kinderzweckehen mit Tennislehrern haben kann, ich muss mir diesen Reichtum auch ausmalen. Zum Glück. Also, wobei, denn den Jaguar könnte ich eventuell… aber egal. Frauen denken statt dessen vielleicht an eine auf Kundenwunsch gefertigte Steamer Bag zu den Schuhen von jenem Pariser Damenschuhmacher, und der Mann verweist auf die Notwendigkeit einer teuren, porzellanpuppenhaften Fremdsprachenlehrerin aus Fernasien, wenn die Kinder erst einmal im Vorschulalter sind. Wir sind jetzt einfach alle mal reich, so reich, dass wir einen Nachmittag in der Villa d’Este herumlungern können.
Es gibt einen Pool über dem See, einen Park vorne und einen grossen Park hinten und eine Strasse, die unter dem Park durchläuft, damit Sterbliche hier nur berankte Mauern sehen. Es gibt Reiche und mitunter auch solche, die vor ihnen zusammenzucken und ehrerbietig werden, etwa, wenn gerade der Concorso ist, es gibt einen eigenen Joggingweg, weiss bejackte Kellner vorne und himmelblau beschürzte Putzfrauen hinten. Tennisplätze. Einen abgelegenen Parkplatz für Kleinwägen, vermutlich von Angestellten. Und wenn man sich am Tag, wie das früher üblich war, drei Mal umzieht und den Bridge Room frequentiert, kann man schon einen Tag aktiv gestalten. Wir könnten aber auch das Erstcabrio nehmen und ein wenig an die auch nicht hässlich aussehende andere Seite des Comer Sees fahren. Bellagio, sagt man uns, soll nett sein. Nur mal schnell schauen.
Die andere Seite ist zuerst einmal weniger mondän als die Region um Cernobbio. Aber wildromantisch. All das Steife, das Gezierte bleibt in der Villa zurück, der Wagen gleitet über die enge Seestrasse, mal am Ufer, aber meist 50, 100 Meter über dem See, und nach jeder Kurve öffnet sich ein neuer Ausblick, steile Küste, Berge, Blau im Wasser und im Himmel, reine Luft der Berge, durchzogen mit den hitzigen Sonnenadern des italienischen Frühsommers; Tempo 60, ein offener Wagen, italienische Arien von Händel, alles fügt sich zusammen, das Leben ist schön, auch ohne Tennislehrer und Japandozentin, ohne Viertcabrio, denkt man sich so. Wobei.
Wozu, fragt man sich, sollte man so sehr sparen, für was, damit die Kinder später mal die falschen Partner anschleppen und alles, was man selbst nicht ohne Hilfe der Familie aufgebaut hat, ruinieren? Wäre es nicht fein, so einen 300 SL… aber dann fährt man weiter, das Leben ist auch so schön, und das Schlimme ist ja: Von solchen Autos hat vor allem der Betrachter die schönen Bilder und der Besitzer allein die unschönen Rechnungen. Es muss nicht sein. Da gibt es bessere Geldanlagen, Immobilien etwa kehren das Missverhältnis um, Fahrtwind, Händel, Kurve, ein Ort, ein Espresso wäre fein, ein Cafe, Pause. Und wenn man schon mal da ist, könnte man auch die steile Treppe zum See hinunter. Nur mal schauen.
Hier kann kein Viertcabrio fahren, und Schuhe des Parisers könnte man auf dem Pflaster nicht tragen. Es geht vorbei an verschachtelten Häusern, eines bildet die Fundamente des anderen, eng ist die Gasse, und wenn sich der Blick auf den See weitet, verweilt man, hingerissen und verzückt. Es ist schön hier. Wie sich alles in einander fügt, und je weiter man nach unten geht, desto älter und hübscher werden die Häuser, die kleinen Gärten und Terrassen, die Farben leuchten, und alles ist so anders: Es gibt hier keine Tandgeschäfte wie drüben in Cernobbio, das hier ist ein normaler Ort, aber mit was für einem Blick, mit welchem Liebreiz auf kleinstem Raum. Dann schimmert silbern der See durch eine Lücke, man ist unten angekommen, ein kleiner Strand, ein Durchgang, eine Brücke, und dann das hier.
Wer immer hier wohnt – er braucht kein Viertcabrio. Er braucht keine Schuhe aus Paris. Er braucht nichts mehr. Reiche wissen, was AAA-Lagen sind. Das hier ist nicht AAA. Das ist
unbeschreiblich. Da kann man nur schauen. Lange.
Es ziemt sich nicht, es so lange anzustarren. Was sollen die Leute denken. Ein anderer Weg führt zurück nach oben.
Zum Wagen, zur Strasse. Man muss weiter, man macht aber noch schnell ein Photo beim Immobilienmakler. Man geht nochmal in das Cafe und fragt, ob sie eine Karte haben. Zimmer vielleicht. Man will hier nochmal her. Andere werfen Münzen in Brunnen, man selbst hat hier sein Herz in den Fluten des Sees versenkt. Dann nur schnell weiter, in die Kurven, in das Vergessen, durch andere schöne, aber nicht mehr ganz so ideale Orte, immer weiter fliegt der Wagen, Roberta Invernizzi jubiliert den Olinto Pastore, bis dann nach vielen weiteren, wundersamen Kurven und einem obszön üppigen Park endlich Bellagio erscheint.
Bellagio ist zwar ein italienischer Kururt, es trägt aber das Erbe der k.u.k. Sommerfrischen in sich, aus jener Epoche vor der italienischen Einigung, als der Comer See noch Teil Österreichs war. Es ist ein angenehmer Ort, ohne jede Hektik, man könnte hier vermutlich in Ruhe alt und zufrieden werden. Natürlich sind die Tanztees und Kurorchester verschwunden, man duelliert sich nur noch um Parkplätze, draussen zerfällt ein alten Grand Hotel, ein wenig Patina ist auf dem alten Glanz des Namens, und in 40, 50 Jahren wird er vielleicht auch wieder neu entdeckt werden müssen. Aber noch ist einer der Orte, von denen sich Eltern wünschten, ihre Kinder könnten in dieser Unschuld und Schönheit aufwachsen – während die Kinder an der Langeweile mit Tennislehrern und Sprachstunden ersticken.
Eltern dagegen denken an geruhsame Nachmittage unter Lauben, und wenn der Nachwuchs einmal laut wird, genügt ein Blick… Diese Lauben sind eine feine Sache, bei Regen und Hitze ist man darunter geschützt; ist es früh im Jahr sonnig, aber noch nicht zu heiß, kann man sich davor aufhalten. Sehr k.u.k., wie in Meran, in Arco und den anderen vergangenen Sommerfrischen. Dort also schlendert man entlang, wie auf einem Corso, in die eine Richtung am See entlang und in die andere Richtung zurück. Bis man an einem altertümlich wirkenden Laden vorbeikommt und die Begleiterin sagt: Oh, schau mal, Seidenschals! Und die würden zu unserem Zweitcabrio in Grün passen. Wirklich.
Also hinein. Nur mal schnell schauen. Draussen brütet die Hitze, einen unpassenderen Tag für Schals könnte es kaum geben, aber wenn man schon mal hier ist, kann man gleich etwas stöbern. Der eine würde zum Lodenmantel passen und der andere für den grossen Auftritt, im Herbst braucht man dergleichen am Morgen am See, der Bunte dort wäre etwas für eine Bekannte, und so günstig, wie das hier – dürften wir bitte den auch – grazie – also, ich kann mich nicht entscheiden, ich nehme den und den sicher, aber die anderen? Darf ich die Handschuhe, nur mal schnell schauen? Grazie. Nein, doch lieber noch einen Schal, oder ach was, packen Sie einfach alle ein. Dann ärgert man sich nachher nicht, und man kommt nicht alle Tage nach Bellagio. Ich nicht, und Sie, liebe Leser,auch nicht. Sie übrigens merken nun, dass sich der Beitrag dem Ende nähert. Sie sind mit mir über eine Strasse gefahren, haben den See und Orte betrachtet, ein paar überflüssige Abschweifungen gelesen, waren Zeuge sinnloser Erwerbungen an einem heissen Sommertag, und möchten vermutlich nun wissen: Wo bitte war das Sparen für den Winter im Sommer?
Nun, gerade eben haben wir gespart . Denn nur für kurze Zeit, zwei Monate höchstens, mieten wir uns hier unten ein, dann geht es zurück, der Lebensmittelpunkt ist nördlich der Alpen. Hier sind die Pflichten und der Besitz, hier ist das wahre Leben mit all seinen Notwendigkeiten und unumgänglichen Belastungen, die Steuererklärung und die Hausabrechnung, der deutsche Nebel und die langen, langen Winter. Dann jedoch wird man zum Seidenschal aus Bellagio greifen, sich an den warmen Tag erinnern, lächeln, und es wird wohlig warm. Man hat sein Herz vielleicht auch dort gelassen, aber den Schal mitgenommen, man denkt an die Strasse und das Funkeln auf dem See – schon kann man die Heizung um zwei Grad zurückdrehen, und vielleicht etwas länger draussen bleiben, sich bewegen und teure Diäten vermeiden. Nicht überzeugend? Nun, dann eben kein Schal, zurück nach Deutschland, Herbst, Winter, kein wärmender Gedanke, keine materielle Verbindung. November, Dezember, Januar, Februar, März, alle Verbindungen gekappt. Hat man einen, oder besser, hat man drei Schals, ist man in dieser schlimmen Zeit immer irgendwie ein klein wenig dort. Hat man das nicht, ist man ganz hier. Und kein deutscher Wintertag kann grauer sein als jener, da man nur den Erinnerungen an solche Blicke nachhängt.
Und dann denkt man nicht an Schals und die Wärme kleiner Fluchten. Man denkt in grösseren Lösungen, weil man die kleinen nicht hat, man denkt an eine Terrasse und die kleinen Häuser und dass 60 Quadratmeter, oder 70, oder allenfalls 100 mit Kindern gerade mal reichen könnten, es wäre ja nur für die ganz schlimme Zeit… die Katze möchte hinaus und entscheidet sich sofort wieder anders, aber man friert so sehr, wenn man die Tür öffnet… man verliert die Tage und die Wochen und die Monate und das Leben, wenn man nichts von dem hat, was besser wäre. Man weiss, da unten ist es anders, man war dort, man hat es gesehen. Man schaut im Internet nach dem Wetter in Oberitalien, wenn kein Seidenschal wärmt. Man legt sich Argumente zurecht, man findet erstaunlich sinnvoll klingende Gründe, und ab zwei Wochen Dauerfrost sucht man die Nummer des Cafes. An Weihnachten fragt man nach Maklern und lässt sich Angebote schicken. “Nur mal schnell schauen.” Das sind – nach “Die Herren sind von der Steuerfahndung” und “Ja, der Tennislehrer, und ich will die Scheidung”- stets die teuersten Worte in vermögenden Kreisen. Der Ursprung aller Auslandsimmobilien ist nicht das Verweilen, sondern später die Sehnsucht, die man anders nicht erfüllen kann. Kaufen Sie sich also lieber Schals in Bellagio, sparen Sie dadurch im nächsten Winter. Dann bleibt genug Geld für Kinder, Pferde, Ballett-, Tennis-, Golf- und Japanischlektionen, einen Jaguar und vielleicht sogar ein paar Folgekosten.