Ich, zum Beispiel, war von der Gründung der Grünen begeistert.
Michael Kühnen 1989
Wenn zukünftige Historiker sich dereinst fragen, wann eigentlich der Aufstieg der Grünen zur letzten grossen, bürgerlichen Volkspartei begann, wann aus der FDP eine obskure Kleinstpartei und aus der CDU eine Rentnervertretung wurde, werden sie die Wahl zwischen einer Vielzahl von Ereignissen haben; vermutlich jedoch wird der Wendepunkt Fukushima heissen. Meines Erachtens – als eingebetteter Reporter in den besseren Kreisen – machte Fukushima nur Entwicklungen deutlich, die lange davor begonnen haben. Mag ja sein, dass in weniger begüterten Schichten hier die Hinwendung zu den neuen Konservativen begann. In meiner Welt begann es, als man das Wort Toskanafraktion zum Tabu erklärte.
Natürlich gibt es bei der Einführung solcher ungeschriebener Regeln keinen formalen Beschluss, und damit keinen festzulegenden Zeitpunkt. Es muss vor dem Moment geschehen sein, als die Altkonservativen die Notwendigkeit empfanden, mit der “Dagegen-Partei” einen neuen, platten Kampfbegriff einzuführen, der wieder so gut wie die Toskanafraktion (T.) funktionieren sollte. Die T. dagegen – wir können sie ruhig abkürzen, sie ist ja nur eine verbrauchte Worthülse – ist aus der politischen Auseinandersetzung verschwunden. Man wirft anderen nicht mehr vor, einen Zweitwohnsitz zwischen Modena und Rom, in den Hügeln bei Siena und Florenz zu haben, und von dort aus Vorstellungen zu verbreiten, nach denen sich andere in Deutschland zu richten haben. Das Wort stirbt aus, es taucht in den Medien nicht mehr auf, und es verwendet bei uns schon lang keiner mehr.
Wie immer in besseren Kreisen, ist die Antwort auf die Frage nach dem Wortuntergang unter dem Tisch zu finden: Ein ausholendes Frauenbein, das ein Männerbein mehr oder weniger sacht berührt, ein Zwicken, ein Griff, alles das besagt etwas anderes als das Lächeln darüber. Es sagt: Könntest Du bitte so freundlich sein und Dich dieser plumpen Worte enthalten, denn der Dr. P. hat einen Sohn, der so freundlich war, unsere Tochter für zwei Wochen in die Toskana einzuladen? Es ist ein Kreuz mit diesem Kampfbegriff in privater Atmosphäre: Es geht nur, wenn der Betroffene nicht da ist. Dummerweise ist die Anzahl der Betroffenen in den besseren Kreisen recht hoch, zumindest, wenn man den Immobilienbesitz in Italien betrachtet. Der klassische T-Angehörige hat 250.000 Euro Spielgeld, der wohnt kaum in Lichtenhagen, sondern unter uns. Und dann wird aus dem politischen Kampfbegriff schnell ein Angriff auf eigentlich Unbeteiligte, die schlechten Moralvorstellungen gegenüber den Ökos gehen über auf alle, die dort zeitweise wohnen. Und das sind seit den 90er Jahren auch zunehmend jene, mit denen man sich besser nicht anlegt.
Nehmen wir nur einmal die ehedem knallschwarze, kleine, dumme und reiche Stadt an der Donau: Die unterhält Städtepartnerschaften, die besonders herzlich bei den Orten in der Provence und – nachgerade italophil – der Toskana ausfallen. Die Italiener machen hier seit Menschengedenken Weinfeste, man tauscht Delegationen und Schulklassen aus, lernt dort die Reize der Landschaft und das italienische Leben kennen, und Immobilienbesitzer, die gleichzeitig in der Stadtverwaltung sitzen und sagen – mein Bester, caro mio, wenn Dir das Bauernhaus gefällt, rede ich mit der alten Rosetta, die braucht es nicht mehr, das machen wir, keine Sorge – und reichlich schnell hat auch ein bayerischer Honoratior mit schwarzem Parteibuch so ein Rustico in guter Lage unter blauem Himmel fern aller Aschewolken. T. sagt sich plötzlich nicht mehr so einfach. Das klingt dann nicht mehr nach Diskriminierung der anderen Spinner und Kerndlfressa, sondern nach Neid innerhalb einer Klasse.
Mit diesen Toskanaschwarzen und Markenärztern, mit den Rechtsanwälten mit Blick von der Frühstücksdachterrasse auf Elba und dem Husten, wenn im Winter der verstöpfte Kamin nicht zog und die Turmräume in Räucherkammern verwandelte – mit all dem war musste man ein wenig vorsichtiger als mit einem Öko oder einem Salonsozialisten umgehen., Ein “ich meine ja nicht Sie, Herr Professor” war auch nicht wirklich ausreichend, denn niemand konnte wissen, ob einen Hügel weiter in der Toskana nicht so ein Öko lebte, Naturheilarzt vielleicht mit grossem Vermögen, mit dem sich der Professor in Wirklichkeit beim Wein weitaus besser verstand, als mit jenen, die ihm der Zwang daheim über den Lebensweg führte. Die T., dazu geschaffen, den politischen Gegner aus dem Weg zu räumen, bekam Ähnlichkeiten mit einer Tellermine unter den Tischen wohlhabender Bekanntschaften. Natürlich gibt es keinen lauten Knall,aber irgendwann hört man, dass der Sohn der T. die Töchter des Nachbarn eingeladen hat, dort zu sommerfrischen. Und die eigenen Kinder nicht. So kommt zum Kollateralschaden bei den anderen ein Kollateralschaden zurück.
Dabei ist es gar nicht so falsch, auch die ToskanaCDUFraktion eines gewissen Kryptoökotums zu verdächtigen. Die Toskana trägt dazu ihren Teil bei: Dort hat man Slow Food und Citta Slow. Dort hängen die frisch geschossenen Wildschweine neben dem Eingang zur Gastwirtschaft aus, dort wandert man gern in der grünen Natur zum Trüffelbauern, man unterstützt kleine Geschäfte und kennt einen Schuster. Schon in Norditalien hat diese Toskana ihren ganz eigenen Ruf: Die Region soll angeblich noch all die kleinen Maestri des Handwerks besitzen, die im Norden verschwunden sind, ein Refugium des Artigionale und fatto con mano. In Florenz lötet Daccordi noch selbst Rahmen, in Florenz geht man immer zuerst zu Pineider, die Krawatten kauft man nur in Siena und das Geschirr, da hat man jemand in der Nähe von Massa Marittima, in ArezDasgehtSieeigentlichgarnichtsan schneidet man den Trüffel in dicken Scheiben, in Gaiole machen sie Traubenstrudel, alle Finger leckt man sich im Norden ab nach dieser Toskana, vielleicht auch aus schlechtem Gewissen darüber, was “made in Italy” bedeutet, wenn es im Süden von Freunden der Familie in Auftrag gegeben wird. Die Toskana ist dagegen noch das pittoreske Schlaraffenland der vegetabilen Ledergerbung und der frei lebenden Schafe und Schweine. Aber all das geschieht, und das ist der feine Unterschied, nicht in der Juteklasse, sondern unter Beachtung der richtigen Klassengrenzen. Mag der toskanische Echtökomüsli auch sagen, man muss sich nur mal die Schuhe der alten Männer anschauen, 1000 Euro Brutto im Monat und dann Pferdeleder in Massarbeit – in Wirklichkeit weiss jeder, dass diese Form des nachhaltigen Wirtschaftens knallharte Luxusproduktion für Wenige ist.
Wie man das daheim, der Schicht gegenüber begründet, ist eine andere Sache. Die echte T. wird sagen, sie unterstütze nachhaltiges Wirtschaften, kleine Betriebe und regionale Produktion. Die schwarzen Gegenbeispiele werden sich das vielleicht auch denken, aber eher darauf verweisen, dass es eben so ist, wie man es früher auch noch hier hatte, und so etwas bekommt man eben in der kleinen, dummen Stadt an der Donau nicht mehr: bevor man aber nach München fährt, pah, wozu wohnt man denn in Italien, wenn man nicht dort die alten Meister aufsucht. So oder so jedoch schickt es sich nicht, dergleichen zu kritisieren oder lächerlich zu machen; der eine hat, und der andere hat nicht, sondern nur den Mund zu halten. Man kann ganz wunderbar T. sein und trotzdem die alte Ordnung damit weiter durchsetzen. In der besitzlosen Unterschicht orientiert man sich danach und wird Berliner Loha, oben dagegen schliesst man einen Frieden mit Austausch von Gastgeschenken, die in etwa so aussehen: Ihr könnt meine Wohnung am Tegernsee gerne haben und ich bekomme dann mal Euer Rustico, und wenn Ihr wirklich feines Wild wie in der Toskana essen wollt, also, wir haben ja auch ausgezeichnete Landgasthöfe, geht einfach nach Ostin, einen Dorfladen haben wir auch und die Naturkäserei in Kreuth, die machen auch Seminare, gute Lederschuhe gibt es beim Schuh Bertl und Keramik beim Vogt in Rosenheim… die Toskana reicht in ihren nördlichen Ausläufern längst bis vor die Tore Münchens.
Was uns jetzt noch fehlt, sind 2500 Jahre Hochkultur und Trüffel, aber das kriegen wir auch noch hin. Vermutlich hat dann auch irgendwann mal jemand den Leuten, deren Überleben man ab und zu mit Gnadenanzeigenschaltungen und letzten Abos netterweise finanziert, deutlich dargelegt, dass es vielleicht noch in Nürnberg, Berlin, Bonn oder Mailing/Feldkirchen Leute geben mag, die immer noch das T-Wort zu Protokoll geben. Wir jedoch es eigentlich nicht mehr zu lesen wünschen. Das hat sich dann auch in Berlin herumgesprochen, weshalb man das ebenso neutrale wie bedeutungslose “Dagegen-Partei” erfunden hat, die, werden spätere Historiker dann feststellen, einen später ab und zu als Juniorpartner ausprobierte. Mit minderem Erfolg.