Ein echter Mann vermag zu wagen,
zu fallen und zu stehn.
Doch sorge stets für einen vollen Magen
willst Du zu einer Dame gehn.
Walter Serner
Es war ein milder, sonniger Herbst in den Bergen, vor gut 10 Jahren. Der Kongress über neue Technologien neigte sich, wie die Internettechnologien selbst, dem Ende zu, viele geleaste S-Klassen hatten die Einfahrt des Schlosshotels knirschend verlassen, und die letzten Gäste hatten im grossen Saal freie Wahl der Plätze. Zu mir gesellte sich ein Herr, der sich vorstellte, nach einem Kärtchen kramte, und es mit reichte. Ah, sagte ich, Pharmabranche, da gehören Sie ja zu den Überlebenden hier. Der Mann wurde leicht rot, bat mich um die Karte, die ihn als Geschäftsführer eines von Frankreich aus agierenden Pharmafonds auswies, nahm sie wieder an sich und reichte mir eine, die den gleichen Namen führte, und ihn nun als Chefredakteur einer ebenfalls in Paris beheimateten Infoagentur zur Pharmabranche auswies. Oh, ein Kollege, sagte ich, und als er das hörte, wurde es ihm sichtbar weniger unangenehm, und er erzählte, dass ihm der Journalistentarif – auf Kosten unserer liebevollen Staatsregierung gratis vier Tage im Pool liegen – sinnvoller erschien, als der Tarif für Fonds, die eine erhebliche Summe zahlen mussten, um nicht im Pool mit jungen Unternehmen zu sprechen. Er trug Manschettenknöpfe aus Weissgold, einen gut sitzenden Anzug und hatte auch in allgemeinen Hygienefragen erfreulicherweise nichts mit der Fama des angeblichen Presseberufes gemein. Und man darf annehmen, dass er danach seinem Fonds eventuell Kosten für den so nicht beglichenen Aufenthalt in Rechnung stellte, denn erleichtert durch meine Angabe, selbst der Wirtschaftsberichterstattung anzugehören – was damals, im Gegensatz zu unseren glorreichen Tagen, als Ausweis niederster Gesinnung galt – fragte er noch, ob er irgendwie an eine normale, also nichtjournalistische Bestätigung seiner Teilnahme hier bekommen könnte. Das nur voraus, falls jemand denken sollte, Hochstapelei sei ein Phänomen niedriger Schichten.
Jene Tage liegen in einer fernen Vergangenheit und scheinen wie ein Fiebertraum; vor dem ehemaligen Kloster, in den ich heute lebe, geht es banaler zu. Mütter in schweren Geländewagen parken mein Hoftor zu, weinende Kinder verlassen das Gymnasium und jammern, dass ihnen das Abitur das Kreuz gebrochen hätte; und tatsächlich ist es so, dass das achtstufige Gymnasium in Bayern zusammen mit der Einführung von Mathematik als Pflichtfach dazu führte, dass die segensreiche Staatsregierung sich nunmehr veranlasst sieht, den Lehrern zu sagen, dass sie gefälligst neu benoten sollten: Damit weniger bayerische Schüler durch das gerühmte bayerische Abitur fallen und niemand auf die Idee kommt, aktuelle und ehemalige Bildungsminister nach jemenitischem Vorbild mit einer Rakete aus dem Amt zu jagen. Die Stimmung hier im Lande ist schlecht, die Wut gross, und dann ist da noch das Gefühl, dass all die Guttenbergs und Stoiberianerinnen und Koch-Mehrins die fauligen Doktorarbeiten nachgeschmissen bekommen, der eigene Nachwuchs jedoch auf dem Altar der Globalisierung geschlachtet wird.
Man muss unsere segensreiche bayerische Staatsregierung hier natürlich auch verstehen: Gelingt es ihr nicht, das Wasser der mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung in die hiesigen Hirnsteinbrocken der Bauernkinder zu pressen, werden die Fachkräfte und Ingenieure fehlen. Die muss man dann aus dem feindlichdeutschen Ausland holen, und die wiederum sind dann schon wieder so gebildet, dass sie nicht verstehen, wieso eigentlich die Staatspartei, aus der die Staatsregierung wie die atomare Wolke aus Fukushima erwächst, so segensreich ist, und folglich gewählt werden sollte – statt dessen haben sie dann so komische grüne Ansichten. Bayern braucht bessere Mathematiker, nachdem wir es mit Fremsdsprachen wie Englisch und Deutsch und Geschichte jetzt nicht so wirklich haben. Dann bauen wir die besten Autos für weniger gute Länder und noch ein Gewerbegebiet mit Disco und sind auch sonst in der Champions League. Alles nur, weil wir so tolle Mathematiker aus dem Menschenmaterial züchten.
Dieser Leistungsdruck hat unschöne Folgen nicht nur für die mathematisch Minderbegabten – ich etwas war keine Katastrophe in Zahlenfächern, jede Katastrophe hätte sich gegen so eine Herabwürdigung mit juristischen Mitteln gewehrt – sondern auch für den Versuch, derartige Probleme durch Täuschung zu minimieren. Was man momentan bei den diversen abgeschriebenen Doktorarbeiten sieht, ist kleinlich, peinlich, ohne jede Grösse, es wird sogar der Erwartungsdruck der Familie als Grund vorgeschoben. Allein die Themen, mit denen sich die Leute da blamieren! Währungsunionen, Verfassungsfragen, Mobilfunk, Kleinklein beherrscht die Agenda der Trickser, heimliches Wurschteln an Details, in der Hoffnung, damit nach vorne zu kommen, immer in der Angst, entdeckt zu werden. Biografien werden aufgehübscht, Praktika aufgeblasen, was dem Minister recht ist, ist all den Klitschen und XING-Profilen billig, man stapelt nicht hoch, man lügt sich den Mathestreber zurecht, um ebenfalls auf dem Markt zu performen, wie es alle tun: Man sei hier und dort gewsesen und habe an der Sohle jenes Vorstandsassistenten geleckt – widerlich. Da geht sie hin, die Überlegenheit der besseren Kreise.
Weil sie es nicht können. Niemand hat ihnen beigebracht, sich auf anderen Gebieten gut zu zeigen. Und beschränkt, allzu beschränkt sind deshalb ihre Einfälle, sie eifern den anderen nach, statt selbst Alternativen zu entwickeln. Dabei könnte man doch bei Felix Krull nachlesen, was man dazu braucht: Ein wenig Verständnis hübsch aussehender Gebrauchsgegenstände und die Fähigkeit, sie artgerecht zu verwenden. Was in Tagen wie diesen um so leichter ist, als alle anderen so auf Businessanzüge und Notebooks eingeschworen sind, wie sie auch auf die uniform höheren Weihen der Mathematik erpicht sind: Es gibt nur eine richtige Lösung für eine Gleichung. Aber sehr viele richtige Lösungen für die Anforderungen des Lebens. Und wenn eine nicht passt, kann man sie ja etwas richtiger machen.
Die Chancen sind gross, die Risiken klein, und am Ende kann dabei eine hübsche Geschichte herauskommen. Man hüte sich nur vor der schriftlichen Festlegung und bestreite, so es bei der mündlichen Weitergabe Probleme gibt, es je so gesagt zu haben. Man gehe nicht unbedingt des Weg über akademische Grade und Professoren, die man vor ihrem Tode gehört haben will, sondern über andere und angenehmere Felder des Lebens. Man warte stets mit einer schönen Anekdote auf und achte darauf, dass die Übertreibung der Realität besser als die Erfindung und die Erfindung immer noch besser als der Klau bei Literatur oder urbanen Legenden ist. All diese Wissenschaften, sie streben scheinbar nach Exaktheit und Methoden, da ist noch jede Menge Platz für Dreistigkeit und Wagemut, für das blosse Andeuten und das Verbleiben im Ungefähren. Die Natur ist nicht fair, dem einen erschliessen sich die Formeln, und er wird hoch bezahlt; dem anderen, dem sich die Phantasie erschliesst, bleibt da nur die Notwehr. Mathematik wird umfassend gefördert; vielleicht sollte man auch daran denken, den jungen Schülern mit anderen Gaben ein Mittel an die Hand zu geben.
Zumal, in der echten Welt jenseits der Schulen und Akademien die Dinge ja ein wenig anders liegen. Da geben immer noch jene den Ton an, die nicht über Leistungen nach oben gelangten, die sie anderen abverlangten – man werfe nur mal einen Blick auf das segensreiche Wirken unserer Staatsregierung bei der hiesigen Landesbank. Wie immer diese Leute nach oben kamen – das Rechnen muss es nicht zwingend gewesen sein. Und auch damals, im Schlosshotel, wage ich es zu bezweifeln, dass man einen Return on Investement hätte errechnen können, so man rechnen könnte. Im Gegenteil wage ich inmitten der anhaltenden Finanzkrise zu fragen, ob denn eine erfundenen heimische Villa mehr Schaden angerichtet hätte, als die groteske Überbewertung von Bruchbuden durch Banken, die ganz sicher rechnen konnten. Dafür unsere Jugend in Hochleistungsschulen zu schicken, ist schon ein wenig grausam.
Und bevor nun jemand auf die nicht seligmachende Idee kommt, dass Mathematik in der praktischen Anwendung auch nur eine Art goldener Manschettenknopf an einem dreckigen, verschwitzten Hemd der Raffgier ist, dessen Ausdünstungen nur mühsam von einer Jacke der Methoden und Modelle überdeckt wird, lieber ein paar Literaturhinweise. Nachdem man nicht davon ausgehen kann, dass Hochstapelei so schnell zum Prüfungsfach wird, hilft die Selbstversorgung im Buchladen, denn es gibt mehr als nur den glücklichen Felix:
Alain Rene LeSage, Der hinkende Teufel
Walter Serner, Letzte Lockerung
Pitigrilli, Kokain
Andrea Camillieri, Streng vertraulich
und vielleicht der schönste Roman zum Thema überhaupt, in dem die Vorsehung dem Hochstapler recht gibt:
Jorge Amado, Die Abenteuer des Kapitäns Vasco Moscoso.
Das Hotel übrigens brannte bald nach dem Kongress ab, und sollte je der französische Pharmafonds herausfinden wollen, ob der Mann wirklich die Rechnung… wie sagt man nicht so schön: Das Glück ist mit den Tüchtigen. Und nicht mit den Mathematikern.