Dich hau ich zu Krenfleisch
Arthur Schnitzler, Leutnant Gust
Wenn mit der Erziehung etwas nicht perfekt lief, hatte die englische Upper Class für ihre Kinder die Kolonien. Die waren weit weg, und wenn der Nachwuchs dort über die Stränge schlug, bekam es keiner mit. Die reichen Franzosen konnten ihre Bratzen in Paris entsorgen, wo es so schlimm zuging, dass einer mehr oder weniger kaum ins Gewicht gefallen ist – übelsten Falles landete der Spross halt in einer Zeitung. Österreicher und Deutsche hatten zwar keine ordentlichen Kolonien und Sündenpfuhle, aber dafür ihre Heere, die sich über missratene Abkömmlinge sehr freuten und dafür auch Verwendung hatten. Und alle drei Formen des Loswerdens erbrachten grosse Litaratur; Evelyn Waughs Schwarzes Unheil, der Bel Ami von Maupassant und Schnitzlers Leutnant Gustl, sie alle zeigen nicht nur moralischen Verfall, sondern auch Wege aus solchen Verfehlungen jüngerer Generationen.
Wer ein, zwei Weltbrände und Verwerfungen später die Erwartungen seiner Familie nicht erfüllt, und unter Druck Doktorarbeiten zusammenkopiert, hat es nicht mehr ganz so einfach. Mit einem Rücktritt allein ist die Sache ja noch nicht getan, man muss danach auch irgendwie weiter machen, und so ganz ohne Kolonien, Paris oder Militär, in dem man sich nochmal richtig beweisen und rehabilitieren könnte, bleibt einem eben oft nur der Wechsel ins Ausland, wo einen keiner so richtig kennt und die blöde Gschichd, wie man das bei uns nennt, nicht allzu bekannt wurde. Das jedoch bringt auch jede Menge Unannehmlichkeiten mit sich, und nachdem vermutlich nur die wenigsten wie ein gewisser Ex-Minister planen, Krisenregionen wie die USA oder London zu ihrem Lebensmittelpunkt zu machen, möchte ich lieber darüber sinnieren, wie man dem momentan vielzitierten “Erwartungsdruck der Familie” (EdF) so entgeht, dass Familie und Betroffener gleichsam zufrieden leben können. Und was eignete sich besser als ein Feiertag dafür, an dem so mancher Familienfeste absagt, weil er keine dummen Fragen hören will?
Und die meines Erachtens entscheidende Antwort lautet: Früh übt sich nicht, was später kein Meister werden will. Natürlich gibt es geifernde Tanten und nachhakende Nachbarn, es gibt angeberische Freundinnen und überstolze Väter, deren Söhne schon im Kindergarten Englisch sprechen und mindestens noch eine weitere Fremdsprache wie Deutsch: Aber gerade weil es diese Leute gibt, gibt es auch keinen Gipfel, den man erreichen könnte. Irgendein Kind in der Bekanntschaft oder von Freunden von Freunden ist immer besser, begabter, klüger, strebsamer, braver; dort in Konkurrenz zu treten und sich hervortun zu wollen, ist vollkommen sinnlos. In Zeiten des materiellen Überflusses geht die Protzsucht der Familie in die gleiche Richtung, in der früher schon der überreiche Adel marschierte: Wer macht die besten Partien, wer hat besseren Nachwuchs zu bieten, wer garantiert bestes Erbmaterial. Früher zeigte man dafür abgeschlagene Türkenköpfe her, heute misst man den IQ, was für die Türken erfreulich, den Nachwuchs unblutig und die Familie politisch mehr als korrekt ist. Nur der säbelhackende Janitschar, der kann immer noch in Form eines von der Überbegabung nicht überzeugten Lehrers daherkommen. Prompt ist er da, der EdF. EdF ist immer da, wenn der vorgesehene Verlauf der Dinge mehr oder weniger ausbleibt. EdF soll einen zurückbringen auf die gerade Bahn nach oben, oder besser: Den parabelförmigen Aufstieg.
Das jedoch ist immer eine Frage des Startpunktes; Wunderkinder sind da in einer reichlich ungünstigen Position, da können auch kleinste Enttäuschungen üble Folgen haben. Zumal die Missgunst Dritter stets bereit ist, auch kleine Stolperer als tiefen Fall zu interpretieren. Macht so etwas dann die Runde, muss sich der Nachwuchs extra anstrengen, um sein Versagen wieder vergessen zu machen. Mit etwas Pech wird er darüber erst komplex, dann unbemerkt neurotisch und letztendlich – wenn sich zeigt, dass das Leben nicht wie die Schule mit Lernen zu bewältigen ist – mit einem fiesen Knacks im Wesen befrachtet. Man versuche mal so einem schulischen Durchmarschierer und Liebling aller Lehrer zu erklären, warum die ersten Freundinnen nicht ganz so gehorchen wie ein chemisches Experiment – der EdF kann besser wirken und mehr in Fleisch und Blut übergehen, als es der gesamten Sache dienlich ist.
Vor nichts haben solche EdF-Züchter mehr Angst, als vor solchen Katastrophen, die den Überflieger aus der berechneten Bahn stürzen lassen; und dahinter steckt oft genug auch der Zweifel, die Unsicherheit, die ewige Angst des Bürgertums vor dem Scheitern, dass man zu viel Glück gehabt haben könnte, dass das Schicksal doch ein launisch-leichtes Mädchen und folglich unberechenbar ist. Zwar soll der EdF genau das verhindern, aber wenn es einmal doch passiert – sollte man es als Minderbegabter, als Nichtwunderkind und als NichtvonProfessorAzuProfessorBGereichter Nichtstudienstiftungs-Normaler keinesfalls versäumen, die eigene Familie auf genau solches Scheitern hinzuweisen: Die Idee nämlich, dass im überzogenen Erwarten und Leisten schon der Keim des Zerfalls wohnt, ist insgeheim gar nicht so fremd. EdF ist wie jeder unangemessener Druck immer auch ein Zeichen von Unsicherheit, Schwäche und Angst. Sagen also Eltern: Der P. Ist schon in Harvard – erwähne man: Der Q. ist schon in wieder in Station 36. Mit zunehmender Entfernung von den Eltern – Studienorte bieten sich an – kann man notfalls solche Q.s auch mannigfaltig erfinden. Es gibt immer eine Tante, die solche Geschichten vom Aufstieg und Fall gerne hört, und dabei bereitwillig die eigenen Resultate – so gut sei man nicht gewesen, aber so gescheitert dann auch nicht – gerne schluckt.
Denn nichts kann dem EdF der eigenen Leute mehr gefallen, als die Bestätigung, genau richtig zu sein. Wenn man also nur die Unterschiede zwischen den EdFs richtig herausarbeitet – völlig krank und bescheuert bei den einen, vollkommen angemesen in seinen besseren Momenten bei den eigenen Leuten – entspricht man dem Druck, ohne ihm formal zu in Sachen Leistung zu entsprechen, man erfreut seine gehässige Natur auf das Beste und weist dezent darauf hin, was man besser nicht tun sollte. Druck ist Anstrengung und damit auch stets Verblendung: Das ist der Nasenring, an dem man ihn zu den eigenen Erfolgen und zu den düsteren Visionen hinziehen kann. Man kann ihm auf vielerlei Weisen entsprechen,ihn verteilen und dazu bringen, dass er sich in geschickt konstruierten Strukturen verkeilt – oder sich davon in Form pressen lassen.
Was aber mit PISA, Begabtenförderung und Exzellenzinitiativen vermutlich häufiger passieren wird. Der EdF meiner Jugend war es noch, reicher und besser zu leben als die Eltern, ein EdF der Gier und der Erwartung also, eine Geschichte fortzuschreiben. Der neue EdF, erfahre ich in Konzertpausen und von wartenden Cabriomüttern, ist einer der Besten der Besten, es geht gar nicht mehr ums Weiterkommen und Bestehen und Besser als der Durchschnitt sein, sondern nur noch um die Besten. Um den Einser vor dem Komma. Um die maximal 9 Semester. Um die schönste Hochzeit. Niemand hinterfragt noch gross, warum denn all diese Exzellenz in einer bürgerlichen Gesellschaft eigentlich sein muss; die Funktionseliten – man schlage nur mal eine typische Karriereseite auf – machen dem EdF da schon den passenden Druck. Denen, die da schreiben, machen die hauseigenen Werber Druck, denen machen die PR-Abteilungen Druck, die bekommen Druck von den Vorstandsassistenten, die den Druck von oben bekommen… der gute, alte EdF, der einem früher, wenn alles schief ging, einen passenden Ehepartner und einen Platz in der Kanzlei eines Freundes beschaffte, um Ruhe zu haben, ist heute nur noch das spitze Ende einer langen Lanze, an der viele mitschieben.
Bevor man dann eine Doktorarbeit oder einen Titel erfindet, sollte man besser vielleicht doch ein paar zerbrechende Freunde erfinden und der Familie servieren, selbst wenn man dergleichen ohnehin im Umfeld hat. Solche kaputten Erfindungen sind besser geeignet, wenn man sie der allgemeinen Missgunst Frasse vorwirft, den Druck damit reduziert und die Zeit, die man gewinnt, dann dazu nutzt, die übergestressten, ausgepowerten und depressiven Freunde etwas aufzupäppeln. Was zudem meist mehr Spass macht, als feiertägliche Geschichten vom Cousin T. und seiner Karriere unter Auslassung seiner Eheprobleme, die mittelfristig teurer als jeder Gehaltssprung sein werden.
Entschuldigen Sie mich jetzt bitte, ich werde von einer wieder alleinstehenden Dame zur Abendgestaltung erwartet. Es könnte später oder früher werden.