Wenn einer so rumreist wie ich, kann das niemand auseinander halten.
Lothar Späth
Lothar Späth kam dann doch nicht. Eigentlich, hatten Gerüchte besagt, stünde am Flughafen ein Helikopter bereit, um ihn in das entlegene Alpental zu fliegen, und dort einen glänzenden Schlusspunkt hinter eine lange Reihe wichtiger Persönlichkeiten zu setzen, wie es seine Art ist: Dynamisch, deutlich und kenntnisreich. Wobei, den leitenden Mitarbeiter einer grossen deutschen Bank hätte er vermutlich nicht übertreffen können: Der schrie zwischen Vorspeisensalat und erstem Hauptgang in den Saal, das Geld liege auf der Strasse, und wir sollten zugreifen. Das hob die Stimmung, auch wenn in der Vinaigrette vielleicht etwas zu viel Essig war. Die Stimmung war vorzüglich, und hier hatte keiner Zweifel, dass alles bestens war. Gut, es hatte einen kleinen Kursrutsch am Neuen Markt gegeben, aber das war eher eine Chance, neu einzusteigen. Investitionen in Startups waren nicht mehr ganz so teuer. An der grundsätzlichen Richtigkeit jener Thesen, die sich im damals ein paar Monate alten Buch von Späth fanden – “Die New Economy Revolution: Neue Werte – neue Unternehmen – neue Politik” – hatte kaum einer Zweifel. Eine nassforsche Jungunternehmerin hatte darin sinngemäss geschrieben, dass jene, die die Zeichen der neuen Zeit nicht erkannten, besser einschlafen und gar nicht mehr aufwachen sollten. Neue Eliten mit neuen Werten auf dem Vormarsch.
Einen Aufschrei hatte es deshalb in den Wirtschaftsmedien nicht gegeben. Das war damals die übliche Haltung, die allerorten zur Schau getragen wurde. Vielleicht nicht immer so brutal und so unhöflich, aber niemand zweifelte daran, dass man bei all den Umwälzungsprozessen zu den Gewinnern gehören würde. Folglich musste es da auch Verlierer geben. Wer diese Verlierer sein würden, daran gab es keinen Zweifel: Brick an Mortar hiess das spöttisch, Menschen in Ziegelsteinen und Mörtel, der Vergangenheit verhaftet, in der Produktionsmittel, Lagerhaltung und stoffliche Existenz noch eine Rolle spielten. Die neuen Unternehmer, Agenturen, Medien und Investoren lebten flexibel in angemieteten Immobilien, um die sich andere kümmern sollten; würden sie zu klein, mietete man eben etwas Neues. Hatte man zu wenig Arbeitskräfte, stellte man eben neue ein. Waren diese Leute knapp, zahlte man eben mehr. Man würde die Kosten schon einspielen, wenn erst mal die anderen verdrängt und bedeutungslos waren. So dachten alle. Gründer, Investoren, Politiker, Journalisten, und so stand es auch geschrieben, bei der FTD, bei Gruner und Jahr und, reichlich spät natürlich, auch in dieser Zeitung.
Dieses Zusammentreffen einiger Faktoren – Globalisierung, Umverteilung, eine neue Aktienkultur auch für normale Menschen, Liberalisierung, Förderung von Investitionen und der Aufbau einer neuen, vor allem digitalen Infrastruktur – spielte besonders den Kreativen, Flexiblen und Innovationsbereiten in die Hände. Nicht der Grosse fresse den Kleinen, sondern der Schnelle den Langsamen, das war die allgemeine Überzeugung. Wir, die wir vergeblich auf Späth warteten, wir waren die Schnellen. Wir fuhren als Journalisten hin und kamen als Pressesprecher zurück. Jemand von einer bekannten, die Veranstaltung sponsornden Zeitung verkündete auf einem Podium, was er als geeignete PR-Massnahme betrachtete: Ein gutes Essen mit ihm, und ein gutes Hintergrundgespräch. Bindungen bedeuteten wenig, machten sie doch langsam. In diesem dynamischen Umfeld galt es allein, sich den verändernden Bedingungen schnell anzupassen. Keiner fand das schlecht oder dumm. Alle wollten damit reich werden. Das Geld lag auf der Strasse. Und wenn das schon ein wichtiger Vertreter einer wichtigen Bank sagt, kann man auch über andere gut lachen.
Zum Beispiel jene, die nicht mal eben bei einem Kneipenabend einen Businessplan ausarbeiten, oder nicht über ein Abendessen nach 2 Semestern Studium die Leitung eines Netradios angetragen bekommen. Wer immer in diese Szene ging, landete dort durchaus mit dem Wissen, dass er das ein oder andere Defizit mit Schnelligkeit und Flexibilität überspielen konnte. In jenen Tagen war es nicht unüblich, in einem Zeitraum vom Trainee zum Senior Manager aufzusteigen, oder vom Freien Mitarbeiter zur Redaktionsleitung, in dem ein Maschinenbauer immer noch das gleiche Praktikum absolvierte. Es war wichtiger, gut präsentieren zu können, als irgendwas Technisches oder Mathematisches zu berechnen. Solche Leistungen wurden zugekauft, man musste lediglich schnell sein und wachsen. Was man vorher gemacht hatte, was man an Abschlüssen behauptete und Erfahrungen erlog – das sogenannte “Gut Ausgebildet”, das in jenen Jahren an jedem Orchideenfach hing – war eigentlich gar nicht wichtig. Darf ich Ihnen zeigen, wie das – auch heute noch – geht?
“Als Redakteurin, Ressort-Leiterin, Blattmacherin, Reporterin, freie Autorin und Textchefin war und/oder ist sie unter anderem für dpa, die Financial Times Deutschland, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Frankfurter Rundschau, FREITAG und taz tätig, außerdem für EMOTION, FÜR SIE, GALA, die Gruner+Jahr-Wirtschaftspresse, PETRA, PRINZ und den deutschen ROLLING STONE.”
Na? Klingt doch toll. Aber was war die betreffende Person nun wirklich? Redakteurin bei der FAZ? Ressortleiterin bei der FTD? War sie Textchefin bei Rolling Stone? Gar Blattmacherin bei der Frankfurter Rundschau? Und was mag da noch alles sein? So viel Erfahrung! So viele tolle Namen! Und am Ende kommt dabei eine Autorin namens Katja Kullmann heraus, die gerade in einem Buch jene Phase ihres Lebens aufarbeitet, in der sie zwischen der New Economy und Gegenwart das Leben jener führen musste, die bei all der Flexibilierung, die ihre eigenen Arbeitgeber gerne predigen, auf der Rennstrecke im Strassengraben bleiben.
Versuchen Sie so eine Präsentation Ihrer Vita mal bei einem jener Wirtschaftszweige aus Ziegel und Mörtel. So etwas geht nur in Bereichen mit hoher Beweglichkeit und Desinteresse an dem, was man gestern getan hat. So etwas könnte ein Ingenieur in meiner kleinen, dummen Stadt an der Donau nicht machen. Der hatte ein unglamouröses Studium, wartete bei einem Forum in den Bergen nicht auf Lothar Späth, musste sich um 2000 viel Gespött in einigen dieser Medien anhören, durfte nicht auf Pressetermine in den Bayerischen Hof, und hat nun auf seinem Weg 10 Jahre hinter sich, in denen es mal gut – nach der New Economy und während der Bankenkrise – und sehr gut – die restliche Zeit ging. Für all die Flexiblen dagegen kam erst die Krise der New Economy, dann bis 2007 die Phase der Medien- und Agenturrestrukturierungen, bei der man froh sein konnte, wenn es beim gleichen Gehalt blieb, dann sah es ein Jahr bis zur Bankenkrise besser aus, und während die Wirtschaft jetzt schon wieder anzieht, denkt niemand im Traum daran, die unter Beweis gestellte Leidensfähigkeit mit einer teuren Festanstellung zu belohnen.
Heute nun ist es so, dass der Ingenieur das als Gewinnbeteiligung bekommt, was ein Berliner Flexibler in meiner Branche netto zum Leben hat. Dazu dann noch Urlaubsgeld, eine gute Krankenversicherung, Schichtzulagen mitunter, Überstundenvergütung und einen Jahreswagen. Nicht umsonst ging, wer nach der New Economy konnte, zurück zu anderen und sicheren Beschäftigungsfeldern. B2C und B2B, nannten wir das: Back to Consulting, Back to Banking, oft auch B2Baby, B2Kitchen, B2Mittelstand, B2Coaching, BWLer machten B2Stadtwerke und Gentechniker B2BigPharma. Wer Alternativen zur Flexibilität hatte, nutzte sie nach Möglichkeit schon 2003. Wer die Alternativen nicht hatte, nun, der schreibt viel über das Wenige, was zu tun blieb. Man lese nur mal all die Skills der Leute bei Xing und Linkedin nach.
Da wird mit den verbliebenen Erfahrungsmünzen an jenen Roulettetischen des Lebens, der Zukunft und der Bereicherung weitergespielt, die einem nach dem grossen, verlorenen Einsatz vor 10 Jahren übrig geblieben sind. Der ständige Kampf und der Niedergang, die Unmöglichkeit, auf einen grünen Zweig zu kommen, darüber die grinsenden Satrapengesichter von alten, unkündbaren Besitzstandswahrern, das alles tut weh, und Lothar Späth, der längst ganz andere Bücher schreibt, kommt auch nicht mehr vorbei. Mit 40 ist das Rennen und die Flexibilität auch nicht mehr so angenehm, und dann bringt man eben den Frust über das zu Papier, was man 10 Jahre vorher selbst noch für alle durchgesetzt haben wollte. Ach, dieser Niedergang. Wie soll das die nächsten 30, 40 Jahre…
Keine Ahnung. Ich bin nicht mehr in diesen Kreisen, selbst wenn ich selbst immer noch zu den Schnellen und Flexiblen gehöre, die im Internet das machen, was andere nicht können. Es ist ein Problem dieser kleinen Randgruppe. Woanders fällt klammert man sich nicht mehr an Grate, da ist man längst auf dem Gipfel angekommen. Und dann gibt es noch viele, die nie den Luxusverlust einer gemieteten Altbauwohnung beklagen werden. Manche können sich das nicht leisten. Und andere wissen gar nicht, wie das gehen soll, ein Leben ohne Stuck und Parkett im Baudenkmal. Ich sage nicht, dass man mit der Mehrheit der Langsamen trotten muss. Aber wenn man es nicht macht, sollte man dafür sorgen, dass man mit der richtigen Randgruppe unterwegs ist: Der Randgruppe mit Picnicdecken, Silberkannen und Torte an jener Rennstrecke, auf der sich andere ins Nichts hetzen.