Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird leben.
Kim Il-Sung
Gemeinhin pflegt man zu sagen, der Kommunismus habe den Menschen im Osten vieles an bürgerlichen Verhaltensmustern ausgetrieben, und tatsächlich ist die Darstellung von Tischsitten in Filmen des Ostblocks gewöhnungsbedürftig, um es einmal höflich zu formulieren. Aber unter den Oberflächen ist vielleicht auch einiges so geblieben, wie es früher war, und im Westen nicht mehr so ist. Vor ein paar Wochen sass ich mit einer alten, deutschstämmigen Dame in einem schlesischen Garten bei Bunzlau, und sprach über ihr Leben nach dem Krieg in Polen, das eben nicht in Flucht und Vertreibung endete, sondern mit einer Rückkehr, Ehe mit einem Polen und Familiengründung weiter ging, mit Verwandten diesseits und jenseits der Grenze zur DDR. Normalerweise führt man solche Gespräche in einem intimen Rahmen, allein um Vertraulichkeit zu erreichen, aber hier, in diesem schlesischen Garten, kamen die Katzen, die Hunde, die Kinder, die Enkel und Urenkel ganz selbstverständlich vorbei, setzten sich als lebende Nachfahrengalerie dazu, redeten ein wenig mit, spielten an ihren Mobiltelefonen, und ich wurde von Frage zu Frage gehemmter.
Es behinderte das Gespräch nicht, die Dame erzählte bereitwillig, und die Stimmung war freundlich bis gelöst. Der Himmel war blau. Die Kekse schemckten ganz wunderbar. Irgendwie waren alle beisammen, keiner störte sich an der Nähe, niemand schien einen Wunsch nach Diskretion zu empfinden, es war einfach höfliches Interesse. Und ein sehr schöner Nachmittag. Das, was man als familiär bezeichnen würde. Ein wenig so wie in den Alpenurlauben in meiner Jugend an den preiselbeerbewachsenen Hängen der Plose, als man am Abend im Wintergarten mit der Aussicht auf den blutroten Schlern zusammensass, und der Hofbesitzer aus seiner Jugend erzählte. Freilich: Da kannte man sich. Hier in Polen stand ich einfach vor der Tür und stellte Fragen.
Das ist halt noch so wie früher, erklärte mir meine Mutter, als ich wieder daheim war. Früher sass die Familie eben zusammen, obwohl jeder sein eigenes Zimmer hatte. Da drückte man sich nicht vor der Gemeinschaft, man teilte das Leben. Daraus erwuchs die Fähigkeit, stundenlang über Nichts zu reden, weil es nicht viel zu reden gab, daraus entstand eine gewisse Genügsamkeit, die auch ohne Sensationen auskam – und welche Sensationen hätte es denn schon geben sollen, im Bürgertum einer kleinen Stadt, ausser ausserehelichen Kindern und innerehelichen Todesfällen – und auch eine gewisse Erwartung, dass die Familie nicht nur ein sozialer Rettungsschirm und Wohnraumbeschaffer ist, sondern auch eine gewisse Unterhaltungseinrichtung. “Dreckfad” pflegte etwa meine Grossmutter zu sagen, wenn sie wie eigentlich jeden Tag zu uns radelte und die familiären Themen nicht sehr reizvoll waren. Vermutlich hatte sie auch nicht ganz unrecht, denn mit dem Aufkommen von ausgewiesenen Kinderzimmern und Bädern, und den Ansprüchen der Schule und der Berufe, verschwand auch der Zwang zum häufigen Beeinandersein.
So etwas hätte es natürlich früher nicht gegeben, und als ich dann alt genug war, das Haus meiner Eltern zu verlassen und schnurstracks wieder in das geliebte und recht geräumige Haus meiner Grossmutter zu ziehen, in das mittlere von drei Renaissancespeichergeschossen mit Blick über die Altstadt. Dort fühlte meine Grossmutter an den spezifischen Erschütterungen der Treppe und der Holzböden, wenn ich kam. Einfach so vorbeischleichen wäre tagsüber völlig undenkbar gewesen, ausser während des Mittagsschlafes – da wäre ein Griff zur Klingel ein Sakrileg gewesen. Es dauerte nach den Tagen in Polen ein wenig, bis mir die Reste dieses Verhaltens in meinem eigenen Leben eingefallen sind. Es passiert mir oft, dass ich einfach die Wohnungstür nicht schliesse, und wenn ich da bin, müsste man nur die Türklinke drücken, und wäre bei mir im Vorzimmer – das ist bei uns so.
Oder letzte Woche: Da fuhr ich mit dem Rennrad zwei Platten, und kam zu spät in die Stadt, um noch Brot zu kaufen, denn bei uns machen alle Bäcker um 6 Uhr zu. Also hielt ich schnell bei einem, ähm, Supermarkt (Edeka, Westviertel, nicht mein Ding, aber unter allen Schrecken dasjenige mit halbwegs erträglicher Teigaufpusterei) und kaufte ein Baguette mitsamt Papiertüte mit dem Namen jener Kette. Das legte ich vorne auf den Lenker, und pfeigrod kam mir zu jenem Moment eben jene adrette junge Dame entgegen, bei der ich stets am Sonntag meine Torten hole. Und natürlich wurde ich am nächsten Sonntag knallrot, als mich die junge Dame darauf ansprach, mich mit Brot von jenen Leuten gesehen zu haben, aber ich hatte ja eine Entschuldigung. Ausserdem darf sie das. Sie hat ja recht. Mia san jo ned a so, sagt man in Bayern. Man könnte auch sagen: Wir sind so schlesisch. Irgendwie. Noch. Meine Tortenbäckerin gehört ja quasi so zur Familie, dass Sie sich hier davon ein Bild machen dürfen.
So ist das. Aber auch nicht mehr. Nur weil ich vieles an Nähe nicht krumm nehmen würde, bedeutet nicht, dass es jeder ausnützen würde. Fahre ich zu meinen Eltern, rufe ich vorher an, umgekehrt ist es genauso. In meiner Wohnung wäre es undenkbar, mehr als zwei Leute wohnen zu lassen, denn man kann sich schon jetzt kaum aus dem Weg gehen. Man möchte ja auch Freiräume und Geheimnisse haben, ohne Tagebücher absperren zu müssen. Einen eigenen Telefonanschluss, eigene Schränke, ein eigenes Bad, da braucht man mehr Platz, und dieser Platz ist es, den man sich zuerst leistet, wenn man kann. Westviertel sind voll von viel zu grossen Villen, in denen die meisten Zimmer dauerhaft leer stehen. Aber vermieten? An andere Menschen? Ja um Gottes Willen! Das macht hier niemand. Man will seine Ruhe. Besonders, wenn man die alten Verhältnisse des Aufeinanderhockens noch von früher mit all den Schrecken kannte. Nicht jede Grosstante war nett. Nicht jeder Cousin war vertrauenswürdig. Würde man es anders haben wollen, wäre es nicht schwer – aber man will nicht. Früher war der Familienzusammenhalt in der guten Stube prestigeträchtig, man muss sich nur die alten Bilder anschauen. Heute lässt man Nähe zu, wenn man sie will. Oder auch nicht. Man hat sich von der Verstrickung befreit. Prestige ist, darüber selbst befinden zu können.
Insofern neige ich eher nicht dazu, soziale Netzwerke und andere Internetverbindungen mit Menschen als Fortschritt zu betrachten. Ich teste gerade Google Plus, das ist so eine Art digitales Zusammenhocken in Kreisen, die erheblich mehr Kanten und Brüche als jene besseren Kreise haben, aus denen ich komme. Um eine derartige Nähe zu ertragen, hatte man früher Benehmen und Rücksichten; das jedoch fehlt, und es gibt auch kein Gebäck. Sehr wohl aber Leute, die einfach auftauchen und einen in Kreise tun, ohne sich vorgestellt zu haben. Eine ganze Reihe von Leuten möchten mit mir etwas teilen, ohne dass ich sie darum gebeten hätte. Neu sei das und die Zukunft, muss ich lesen, aber, wie gesagt, ich war gerade in Schlesien, und meine Verwunderung ist entsprechend gross: Das ist nicht nur ein zivilisatorischer Rückschritt, es ist auch bei weitem nicht so angenehm wie die adrette Kuchenverkäuferin. Mir ist als Wesen des 21. Jahrhunderts durchaus bewusst, dass man das so macht, aber als Kind des 20 Jahrhunderts entsteht eine Vertrautheit, die nicht besonders angenehm ist. Sicher, man kann einen Tag verplaudern. Man ist den beengten Verhältnissen der Realität nur entgangen, um sich ihnen im Internet wieder zu unterwerfen. Zum Glück sehen vermutlich die meisten nicht die Ironie der Geschichte: Zurück in die Zukunft. Und wer einfach nur ein wenig harmlos redet, geht dort auch schnell unter all den lauten Darstellern und ihren Nichtigkeiten unter.
Oh, bitte: Dass es die Zukunft sein wird, steht völlig ausser Frage. Es kann nicht jeder meine Kuchendame in Reichweite haben, andere müssen ihre Zeit anderweitig verbringen, die Welt globalisiert, und was die jungen Schlesierinnen da auf ihren Telefonen getippt haben, ahne ich auch – es kommt, kein Zweifel. Es ist eine Art Gesellschaft. Ein Sozialsystem, und womöglich wird man, gerade als Angehöriger eines kommunizierenden Berufs, auch nicht umhin kommen, deren Sprache zu erlernen, so, wie man früher auch der Küchenmagd schlecht mit Französisch kommen konnte. So, wie man zugunsten der Moderne den ein oder anderen Anachronismus loswerden muss, muss man neuen Plunder gezwungenermassen auf sich nehmen. Man wird sich so eine Bildergalerie von mehr oder weniger Bekannten anlegen, sich in Umfeldern wiederfinden und sich manchmal still seinen Teil denken. Laut sagen jedoch kann man, dass die Kreise von Google+ ganz famos geeignet sind, all die Nachteile der besseren Kreise und ihrer manchmal schwer erträglichen Nähe zu erfahren.
Aber weder gibt es dort ordentliches Geschirr, noch Torte, das ist alles sehr kommunistisch, und den Stuck muss man auch selbst daheim haben. Insgesamt kommt Google für meine Kreise damit gut 60 Jahre zu spät. Meine Grosstanten hätten es sicher geschätzt, aber die Welt hat sich seitdem weiter entwickelt. Ich brauche erheblich mehr Platz. Und in der Welt von Google+ kommen gerade mal 4 Konditoren auf 46.800 Berater. Da würden selbst schlesische Dörfer auf die Barrikaden gehen. Bessere Kreise sehen eindeutig anders aus. Trotzdem können Sie diesen Text hier googlepluseinsen.