Erinnre dich, oh Seele, an jenen Morgen, da uns des Sommers Glück bestach.
Baudelaire, Ein Stück Aas
Man könnte denken, dass soziale Unterschiede ganz zwangsläufig zu Konflikten führen, wenn sie nur gross genug sind. Es gibt ziemlich viele Bücher, die das behaupten, zwei oder drei sollen sogar lesbar sein, und auch etliche politische Theorien und Regimes. Der Klassenkampf hat die roten Khmer hervorgebracht und einige der weniger guten Gedichte von Kurt Tucholsky, und vielleicht stimmen diese Annahmen auch in der Theorie. Allerdings bin ich gerade wieder in meiner Heimat in den Bergen, und hier sind die sozialen Unterschiede so extrem, wie sie in Deutschland eben nur extrem sein können. Wer hier wohnt, definiert die Oberkante unserer Gesellschaft. Den Verfasser allerdings möchte ich aus Bescheidenheitsgründen auslassen; ich bin nur zufällig hierher geraten und gewissermassen das vermittelnde Scharnier zwischen dem Tegernsee und den Regionen, in denen man eher nicht wohnen sollte: Zumindest ist das Wissen um die Besonderheiten hier unter den glücklichen 30.000 die vorherrschende Sicht der Dinge.
Und, wenn man etwa Lenins “Was tun” in einem unserer entzückenden Parks am See liest, müsste es deshalb natürlich auf diese 30.000 von Aussen auch die andere Sicht geben. In die Villen könnte man tausende von Volkskindergärten, Arbeiterheime und Parteischulen einbauen, in den Wäldern könnten junge Pioniere erste Erfahrungen an Schiessgerät sammeln, und hinten in Kreuth etwa wäre die ein oder andere Kolchose sicher hübscher als die verwandten Einrichtungen bei Düsseldorf, Halle, Minsk und anderen grauen Orten des ehemaligen Warschauer Paktes. Man blättert in Duftrosen in den Blüten des Leninismus, der Gedanke schweift zu all den Bedrohten und Bedrängten, die jetzt nicht hier sitzen, sondern einer mehr oder weniger geregelten Beschäftigung nachgehen, die sie mit allen Verpflichtungen nie auch nur in die Nähe dieses Ortes bringen wird. So geht das nicht, ruft Lenin ihnen durch die Rabatten zu, ihr müsst aufstehen und kämpfen.
Nun kommen all die Blümchen an Bächen und in Parks, auf den Verkehrsinseln und an den Bogenlampen nicht von irgendwo her. Man weiss, wer die Geranien an den Fenstern der Häuser umsorgt. Doch die Blumen in der Öffentlichkeit stehen hier nach Plan und gestaltender Hand, und weil die Parks und Verkehrsinseln allen gehören, wird das kaum ein einzelner Blumenliebhaber gemacht haben. Mit etwas Besinnung mag man sich vielleicht an die hier üblichen Gemeindezeitschriften erinnern, in denen adlige oder wohlbeleibte Bürgermeister uns, ihre geschätzten Mitbürger wissen lassen, dass wir doch bittschön auch den Blumenschmuck an den Häusern besorgen möchten, jetzt, wo unsere Gemeindearbeiter doch alle öffentliche Räume so schön bepflanzt haben. Da haben wir sie also, die Proletarier, die arbeitenden Massen, die Geknechteten, die Verdammten unserer 1000-Euro-pro-Quadratmeter-Baugrund-Erde: Es sind jene, die diese entzückenden Grünflächen gestalten.
Und tatsächlich, dort vorne am See, wo das Boot entlangschnurrt und das Wasser blitzt, stehen auch die Rasenmäher. Manche ökologisch orientierte Anwohner werden mäkeln, dass man hier besser mit Schafen oder Sensen arbeiten sollte, aber man gibt dem Arbeiter einen motorisierten Rasenmäher in die Hand, damit das Grün an einen Golfplatz erinnert. Lenin müsste also gar nicht so laut schreien, die Adressaten sind hier unter uns, und die Waffen haben sie auch in der Hand, einmal drüber über Dackel Maximilian, und die Millionärin trifft der Schlag, es geht ganz einfach ohne Tscheka und Schnellverfahren – aber es gleisst die Sonne, die Luft ist silbrig, die Arbeiter machen gerade irgendwo Pause, und das schon recht lang. Lenin dachte, am Ende des Kapitalismus käme es dazu, dass die einen nur noch Pause haben. Das ist, man sieht es hier, durchaus richtig, denn wie sonst käme ich dazu, an einem Werktag in Blumen Lenin zu lesen. Aber Lenin dachte auch, dass diese Pause erkauft wird, indem alle anderen gar keine Pausen mehr haben. Da lag er klar daneben.
Denn so komfortabel, wie die Reichen hier leben, ist auch – relativ gesehen – das Leben der Gemeindearbeiter, die man eigentlich auch als Parkpfleger, ja gar als Freilandfloristen bezeichnen könnte. Es ist ja nicht so, dass sie, wie in Berlin, sich inmitten grillverbrannter Parks mit Brandstiftern herumschlagen müssen. Auch Hinterlassenschaften von Hunden sind eher selten, denn hier greift noch die Sozialkontrolle. Und wenn hier der Gemeindearbeiter jemanden wegen einer weggeworfenen Zigarettenpackung anraunzt – De hem’S seiba wieda af und schmeissn in Babiakoab – ist das ein Zeichen von Autorität und keine Aufforderung, sich mit ihm handgreiflich anzulegen. Man möchte natürlich kein Gemeindearbeiter sein, aber wenn es doch nötig wäre – dann hier. Das ist wie mit den Sterbenden in Rottach: Keiner mag sterben. Aber es ist angenehmer mit Blick auf dem See in einer Spezialklinik bei besten Bedingungen, als irgendwo auf einem Gang als Kassenpatient. Man frage den Gemeindearbeiter – nachdem er von der Pause zurück ist, und man die Blumen gelobt hat – ob er lieber Unrat von Berlins Strassen räumen möchte, ganz ohne See- und Bergblick.
So geht es hier reihum. Man frage einfach die Konditorenverkäuferin im Schürzchen unter Kronleuchtern, ob sie vielleicht lieber ohne Trinkgeld im Discounter Kuchen in Plastik unter Neonröhren einräumen möchte. Man frage den Schulbusfahrer, ob er die hiesigen Zöglinge und die Uferstrasse gegen die Jugend in Bremerhaven eintauschen möchte. Man frage einen der hiesigen Journalisten, ob er es sich vorstellen kann, seine Beitragsgrundlage im Ausland nördlich des Mains in miefigen Pressekonferenzen gegenüber in Pink gekleideten Frauen zu erleiden. Auch am See kann man ganz unten sein, aber tiefer als am Ufer mit Bergblick geht es hier nicht. Und weil es so schön ist und sich jeder seine Pausen leisten kann – das Boot tuckerte zurück, aber der Gemeindearbeiter ist noch immer nicht da – haben alle ihre Vorteile von dieser Situation. Und weil die Torten famos und die Parkanlagen liebevoll gepflegt sind, gibt es auch keinen Grund, diese Leute schlecht zu behandeln. Sollen sie doch noch etwas Pause machen. Ich habe fast so viel Zeit wie Lenin zur Beantwortung der Frage, was tun. Oder es bleiben zu lassen.
Man glaubt gar nicht, wie entspannend und gemütlich so eine wirklich vermögende Klassengesellschaft sein kann, wenn sie Zeit hat. Oben auf dem Berg etwa ist ein Biergarten, in dem ich mich immer mit einer Bedienung – aus dem Osten stammend – verratsche. Niemand, der nach der Rechnung verlangt hat, hat sich je daran gestört. Warum auch. Man muss ja nicht ins Büro. Das ist kein Geschäftsessen. Ich habe hier noch nie ein Business Lunch gesehen. Hier eilt gar nichts, hier machen die Geschäfte über Mittag noch zu, und diese scheinbar von allen Mühen entkoppelte Lebensführung umfasst alle, die hier sind, ohne irgend etwas an den enormen Klassenunterschieden zu ändern. Zwei Männer vom Typus Macher der Munich Area gehen vorbei, in schwarzen Anzügen, offensichtlich Kongressbesucher, im See schwimmt Mama Ente mit den Kindern, und beide machen Photos mit ihren Smartphones, und schicken sie nach Hause. Würde man diese arbeitende Schicht hier länger zulassen, würde es keine vier Wochen dauern, und sie würden dem Gemeindearbeiter selbstverständlich Pausen erlauben, die in der Firma sofort schwerste Strafen nach sich zögen. Allein – sie müssen wieder weg. Sie sind nicht von hier. Wir bleiben. Zusammen. Am See.
Ganz, möchte man den Männern in Schwarz hinterherrufen, ohne Magengeschwüre und Burnouts. Aber das wäre nicht nett. Und würde jetzt Lenin in Persona hier auftauchen, zusammen mit Trotzki am See entlang spazieren und sich wundern, wie das alles so kommen kann, obwohl Marx und Engels das anders ersannen, würde ich ihm vielleicht nicht sagen, dass er verloren hat. Nur dezent darauf hinweisen, dass dort, wo die Akkumulation am grössten ist, wo er theoretisch absolut Recht hat, im Auge des kapitalistischen Taifuns – Windstille herrscht. Kein Rosenblatt zittert im Wind, keine Blume des Bösen gedeiht hier, alle sind zufrieden. Es gibt keine Unterdrückung, alle haben ihr Auskommen. In China, würde ich bedauernd bemerken, in Russland, in Frankfurt und London, da ist es anders, aber vielleicht möchten er und Trotzki vor dieser unerfreulichen Reise verweilen, einen Tee trinken und – aber bitte dezent – unsere Parkpfleger fragen, was sie zu tun gedenken. Nichts gegen politische Generaltheorien für das flache Land, aber wer hier den Respekt der Arbeiter erhalten will, sollte sich gut mit Rosenzucht auskennen, und keinesfalls hier wertlosen Buchmüll auf den bltzsauberen Parkbänken liegen lassen.