Dah Dadaradada Dah, Tataratata Dah Dadaradada Dah, Tataratata. DaDah DaDah Dah Dadaradadada Dah!
Eines schönen Tages – ich sperrte gerade die Tür auf – kamen auf der Mitte der Strasse marschierend ein paar erheblich angetrunkene und nicht wirklich vorzeigbar gekleidete Personen vorbei, die sich schon vorher am Zigarettenautomaten mit Gesängen bemerkbar gemacht hatten.Man sollte vielleicht meinen, dass ihnen die offensichtliche Nichterfüllung gesellschaftlicher Minimalansprüche Kopfschmerzen grösser als der Kater des nächsten Tages bereiteten, aber dem war nicht so. Ganz im Gegenteil, sie waren es, die mich zur Einhaltung ihrer Minimalansprüche aufforderten: Das wäre eine deutsche Beflaggung gewesen. Wieso, sprach mich einer an, wäre an diesem grossen Fahnenmast dort oben keine deutsche Fahne? Es war in jenen Tagen, da sich fast jeder so eine Fahne an den Vertreterkombi machte. Fussballweltmeisterschaft. Da darf man betrunken andere anherrschen, damit sie sich gefälligst einordnen: FAAAAAHNÄÄÄÄ RAAAUUUS!
Dieser Fahnenmast ist natürlich eine Herausforderung für Deutschfahnennationale: Er reicht weit über die Strasse, hat ein schmiedeeisernes Gestell, und wurde 1890 angebracht, als noch der Prinzregent hier mit einer Parade und den Honoratioren durch die Strassen zu einer Kaserne zog, und betrunkene Menschen in T-Shirt mit Preussenadler vermutlich in die Donau hätte werfen lassen. Dass damals auch an Bürgerhäusern Fahnen aufgezogen wurden, war eine der Veränderungen in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die den Bürger schrittweise am Staatswesen beteiligten und integrierten: Wehrpflicht, begrenztes Wahlrecht, höhere Steuern, mehr Beamte, Paraden für das ganze Volk und eben auch Beflaggung, als wäre es ein Regierungspalast. 100 Jahre früher wären herrschaftliche Insignien an einem normalen Haus noch undenkbar gewesen. Nun war man ein Land, ein Volk, ein – ausgesprochen populärer – Prinzregent, und wenn er kam, zeigten alle ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Dafür also der üppige Fahnenmast in der damaligen Zeit.
Heute hängt hier natürlich keine Fahne mehr, und wäre er nicht ein schönes Rankgitter für den Weinstock, wäre es ihm so ergangen wie all den anderen Fahnenmasten in der Stadt auch: Nach 1945 und den damals populären Märschen hätte man ihn abmontiert. Aber es war schon immer der Wein am Haus, und weil sich die Familie in der Beibehaltung der Weinstocke seit anderthalb Jahrhunderten einig ist, haben wir die letzten grossen, bis in den zweiten Stock wachsenden Weinstöcke der Altstadt. Und deshalb, nur deshalb brauchen wir auch den Fahnenmasten. Wenn hier jemand aber noch eine Parade veranstaltet, muss er die Fahnen selbst mitbringen.
Es passiert nicht mehr allzu oft. Gemeinhin wird die heimatliche Marschiertradition ausgerechnet von jenen aufrecht erhalten, die keine richtige Heimat im Sinne dessen, was früher Heimat gewesen ist, mehr haben: Es sind die Deutschstämmigen aus dem, was früher Böhmen und Mähren war, die nach dem letzten Krieg geflohen sind oder vertrieben wurden, und es hier nicht wirklich leicht mit der Integration hatten – der Hass zwischen alteingesessenen Bayern und den bei ihnen zwangsweise einquartierten Flüchtlingen legte sich oft erst nach Jahrzehnten. Trotzdem kümmerte man sich in Bayern darum, dass sie ihr Brauchtum bewahrten und während des kalten Krieges verdeutlichten, wie wenig die Ostgrenze Deutschlands wirklich festgeschrieben war. Also behielten sie ihre Trachten, ihre Heimatvereine und ihre Aufmärsche mit den Fahnen von Orten, die nur mehr eine ferne Erinnerung waren. Links zwo drei vier Musik voran, Frauen mit Korb rechts, Männer mit Schärpe links und Fahne mit den Wimpeln für die Kriegstoten senkrecht nach oben.
Früher, zu Zeiten des kalten Krieges, waren diese letzten grösseren Umzüge noch grösser und martialischer, und auch manche Honoratioren marschierten solidarisch und ein wenig anachronistisch mit. An Stelle der verlorenen Heimatkirchen hatte man ihnen das Rokokojuwel um die Ecke zugewiesen, und da marschierten sie hin, wie damals unter dem Prinzregenten marschiert wurde. Nur ohne Beflaggung an den Häusern und jubelnden Schaulustigen. So schleppte sich die Tradition fort, eigensinnig und eher bedauerlich. Inzwischen, der kalte Krieg ist vorbei und die Ostgebiete sind endgültig verloren, marschieren hier nur noch alte Leute. Vorne die Trachtler und danach diejenigen, die keine Tracht mehr haben, aber dennoch dabei sind. Sie sind laut, sie marschieren, sie möchten etwas ausdrücken, aber hätte ich sie nicht abgelichtet, würde es hier niemand mitbekommen. Sie marschieren allein. Fest entschlossen, nicht bereit, jemals aufzugeben.
Sie sind sie Letzten. Ganz hinten dann ein Mann in oranger Warnweste, als wäre hier eine Baustelle, oder eine Barchetta mit Motorschaden. Der Zug wird Jahr um Jahr kleiner werden, in fünfzig Jahren wird auch das Beharren nur eine seltsame Erinnerung sein, und ihre Kinder werden nicht die alte Tracht tragen, wenn sie auf die Volksfeste gehen, sondern das billige Chinapolyester, das alle tragen. Es macht keinen Sinn, für eine Vergangenheit mit Musik durch die Stadt zu ziehen, wenn die Vergangenheit nicht wiederkommen wird. Und so, mag man denken, wird es bald vorbei sein mit den Aufmärschen und den Fahnen und der Tradition und der Demonstration der Beharrung.
Nun ist es aber nicht so, dass das Rokokojuwel allein mit den Verbliebenen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts ausgelastet wäre. Und wie es nun mal so bei prächtigen Rokokokirchen mit der Farbgebung der Innereien eines Punschkrapfens ist: Sie erfreuen sich bei Eheschliessungen mehr Zuspruch als nüchternen Zweckkirchen der Moderne. Die Orgeln klingen süsser. Sie erfüllen jeden Prinzessinnentraum. Kein überüppiges Brautkleid fällt hier aus dem Rahmen. Halbnackte der Familie Asam sind an der Decke, Halbnackte dürfen auch auf den Bänken sein. Nirgendwo können Tanten romantischer schluchzen. Bis vor wenigen Jahren gab es zu hupenden Autokorsos, die auch den betrunkenen Fussballfreunden gefallen hätten, keine Alternative. Das hat sich inzwischen etwas geändert. Man will wieder sichtbar sein. Man will es in vollen Zügen öffentlich geniessen. Und so kommt es, dass auf dem völlig untauglichen Pflaster der Altstadt nun ein Brautpaar nach dem anderen vom Standesamt im Rathaus zum Barockjuwel marschiert. Damit es auch wirklich jeder sieht. Und jeder angafft. Und alle Frauen ihre Freunde anrempeln und sagen: Ohhh, so ein Kleid will ich auch. Übersetzt: Mach. Mir. Endlich. Einen. Antrag. Du. Trottel.
Es gibt natürlich Unterschiede. So, wie die Infanterie anders als die Dragoner marschierten, gibt es manche Konservative, bei denen Trachtler mit Fahnen vorhergehen, und andere Fortschrittliche, bei denen das Brautpaar voranstürmt und der Rest in einem Meer von herzförmigen Luftballons folgt. Es wird marschiert wie unter dem Prinzregenten, in aller Öffentlichkeit, nicht mehr für die Asche der Vergangenheit, sondern für das Feuer der Zukunft. Ein jeder soll es sehen, was da kommen wird, in einem Dasein, das hoffentlich glücklicher wird als die Zeit nach dem Prinzregenten. Man muss ihnen nur den passenden Anlass geben, dann ist es wieder so wie früher, und alle, die dabei waren, werden es selbst auch so haben wollen: Öffentlich, demonstrativ und, wie damals die Parade, eine Selbstvergewisserung der bürgerlichen Ideale. Und weil wir die Weinstöcke an der Tür haben, einen blauen Stock links und einen weissen Stock rechts, und weil die barocke Tür vielleicht etwas hübscher ist als das Metallmonster draussen im Vorstadteigenheim, bleiben sie manchmal hier stehen und lassen ein Photo machen, als wäre es der weinumrankte Eingang zu ihrem Traumschloss. Die Weinstöcke werden also eifrig genutzt, und deshalb brauche ich auch weiter den Fahnenmast, und auch, wenn ich so absolut gar nicht bereit bin, solche bürgerlichen Ehetugenden zu entwickeln, so muss ich doch sagen, dass ich diese Art der öffentlichen Demonstration des Glücks besser finde, als hupende Autos, verbissen dreinschauende Ex-Böhmen mit Weltkriegswimpeln, oder betrunkene Fussballfans.
Irgendwo hätten wir sogar noch eine weissblaue Fahne aus der Zeit des Prinzregenten.