Die Krankheit unserer heutigen Städte und Siedlungen ist das traurige Resultat unseres Versagens, menschliche Grundbedürfnisse über wirtschaftliche und industrielle Forderungen zu stellen.
Walter Gropius, Totale Architektur
Das Arbeitsleben ist vorbei. Es ist Sommer. Die Sonne wärmt gnädig die blaue Luft über dem Westviertel. Es ist Wochenende, aber das ist nicht so wichtig, denn eigentlich ist immer Wochenende. Die indischen Laufenten rennen durch den Garten und fressen Nacktschnecken. Die Haushälterin ist in der Küche und verarbeitet die Zwetschgen zu Datschi. Die Katzen schlafen in den Korbstühlen. Die P. will sich mal wieder liften lassen, der G. sucht eine Immobilie in der Stadt und findet nichts, was seinen Ansprüchen genügt, irgendwo wird randaliert, aber das ist weit, weit weg. Hier ist alles bestens, materielle Probleme gibt es nach den Auflösungen der Aktiendepots keine mehr, die Häuser sind gross und die Einfahrten diskret, Wohlstandsbürgertum halt. Systembewahrend, konservative Werte, liberale Lebensauffassung, Stützen der Gesellschaft, Konzertabo, ab und zu Oper in München, nur ein paar Meter zum See, gut eingerichtet und gut eig’samt, wie man in Bayern sagt. Nichts kann die Idylle stören. Ausser vielleicht der Bürgermeister, der zufälligerweise gerade beim Aufräumen gefunden wurde.
Der Bürgermeister nämlich möchte seine Leistungsbilanz präsentieren. Den Rechenschaftsbericht seiner Amtszeit, den Stand der Dinge und die Zukunft der Region. Man möchte natürlich weiter vorankommen, da reichen die alten Gas- und Stadtwerke mit ihren Privatkunden nicht mehr, und deshalb hat man nicht nur ein paar Pipelines in die Region gelegt, man baut auch Raffinerien. Eine nach der anderen, fünf Stück in einem Gürtel im Osten der Stadt, von den Jurahöhen bis in den wertlosen Auwald: Stahlrohre, Tanks, Neonröhren, 150 Meter hohe Schornsteine, weithin sicht- und riechbar, und ein wenig weiter östlich auch noch petrochemische Werke, dafür rodet man einen Wald nieder. Und noch ein Kraftwerk, das mit Schweröl betrieben wird. 200 Meter hohe Schornsteine, die höchsten ihrer Art in ganz Deutschland. Aufgeregt watscheln die Laufenten durch das Gras, als der Bürgermeister verkündet, mit Kapazitätsvermehrungen würden die Raffinerien noch doppelt so gross werden.
Immerhin, sagt der Bürgermeister, eine der Raffinerien sei sogar bereit, für Schäden im Falle höherer Gewalt aufzukommen, und man reinige inzwischen auch das Grundwasser vom Erdöl, um es wieder trinkbar zu machen. Somit werde die Region ein Zentrum nicht nur für Bayern, sondern für ganz Europa.
Es summen ein paar Bienen vorbei, aus der Küche klingt geschäftigen Klappern. Die Stadt plant und baut, führt der Oberbürgermeister aus, sie plant und baut noch mehr, dafür hat er auch ein Buch drucken lassen, in dem alles zu sehen ist: Beton, Stahl, Glas, Ecken, Kanten, Linien, dazu viele Zahlen, die alle gut klingen. Abwasserkanäle in Kilometern, Strassen in Kilometern, Verarbeitungskapazitäten, Strombedarf, alles geht nach oben. Wirklich eindrucksvoll sind all die Bilder, und sage keiner, dass man nicht auch an die alte Bausubstanz der Stadt denkt: “Versuche altstadtgerechten Bauens” sind die Bilder mit spitzen Fenstern und fehlenden Achsen betitelt. Die guten Historismusmöbel von Urgrosstante Mathilde passen da wohl eher nicht hinein. Weiter hinten dann eine Karte mit der erhaltenswerten Bausubstanz – was zwei Drittel der Altstadt nicht sind. Man darf den Fortschritt nicht aufhalten, sagt der Autor, und zitiert Walter Gropius. Dem würde, so denkt der Bürgermeister, das gefallen, was hier gerade an moderner Wohnsubstanz entsteht:
Wohnmaschinen neuester Bauart, in denen man das alte Streublumenporzellan und die Mahagonimöbel nicht mehr braucht. Strassenzüge und ganze Viertel werden aus dem Boden gestampft, Balkon an Balkon und Wand an Wand. Lichte, helle Räume, grosse Glasfenster, man will nicht mehr in verwinkelten Gassen leben, sondern an breiten Strassen, mit Parkplätzen und schneller Verbindung. Das, sagt das Buch, ist die Zukunft, und man wundert sich, wie man an die niedrigen Decken Kronleuchter hängen kann. Und wie darin ein Perserteppich aussehen mag. Ausserdem, möchte man dem Autor sagen, wohnen dort Leute, denen man nicht vorgestellt werden möchte. In den späteren 70er Jahren wollte eigentlich schon keiner mehr in den Block ziehen, der etwas auf sich hielt. Doch der Verfasser lässt sich nicht bremsen und erzählt von der neuesten und schönsten Schule der Stadt, die am Rand der historischen Altstadt mit ihren Bögen und der verschlafenen Anmutung entstanden ist:
Eine Pracht. Gefällig. Zukunftsweisend. So wie diese Schule soll die Zukunft der Stadt sein, dynamisch und aufgeschlossen gegenüber der Moderne. Dafür machen sie ja all die Photos, drucken sie in ein Buch und verschenken es an die führenden Familien: Damit jeder sieht, wie die Zukunft aussehen wird, und wie sie hier gestaltet wird. Auf dem Korbstuhl gähnt eine Katze. Dort drüben fläzt sich die Donau in ihrem Bett. Wollte der Bürgermeister sie nicht ausgebaut haben, damit hier Schiffe verkehren? Spricht er nicht von “ungenutzten Donauabschnitten”? Industrieansiedlung anstelle des Auwaldes, der sich seit Urzeiten hier ausdehnt, und dessen Altwasserarme man verfüllen will? Richtig, auch das ist im Buch nachzulesen. Allein, es geschah nicht. Dafür gibt es viele neue Strassen und Gewerbegebiete und noch mehr Beispiele für die Kraft des neuen Bauens, vom Kindergarten bis zum Schlachthof.
Der Bürgermeister hat – das muss man leider so sagen – eine undichte Stelle im Flachdach. Einen Betonbauwurm. So viel Schreckliches hat er schon gebaut, so viel Dreck und Zerstörung über die Region gebracht, es wird, da ist man sich hier sicher schnell einig, Zeit, ihn abzuwählen. Oder wenigstens eine Bürgerinitiative zu gründen. Mit Verlaub: Was in diesem Buch zu sehen ist, das darf doch nicht wahr sein. Was der Bürgermeister da in seinem Leistungsbericht schreiben lässt – da kann man doch nicht leben. Das ist ja wie bei den Asozialen, ja du lieber Himmel, wer wählt denn solche Leute ins Amt? Leider: Man selbst. Damals, in den 70er Jahren. Als dieses Buch entstand, über das der Bürgermeister heute noch seine Bilanz und seine Visionen vorstellt, obwohl er, wie seine ähnlich eingestellten Vorgänger diverser Parteien, längst auf einem seiner neuen Friedhöfe liegt. 40 Jahre ist das Buch alt, mit seinen “entscheidenden Schritten auf dem Wege zur Grossstadt”. “Die Zukunft unserer Bevölkerung liegt in der Stadt von morgen”, sagte der Bürgermeister. Es ist – zum Glück – nicht ganz so schlimm morgen geworden.
Der ganze Wohnblock-Schornstein-Altstadtabriss-Industrieansiedlungs-Irrsinn, der heute sofort ganze Westviertel auf die Barrikaden brächte, war damals jedoch die unwidersprochene und allgemeine Überzeugung aller Parteien. Als guter Bürger, der auf den Datschi wartet, blättert man sich fassunslos durch die Seiten und Texte. Schandfleck reiht sich an Schandfleck, eine ökonomisch-technische Gigantomanie nach der anderen wird da als Heilserwartung ausgegeben, kein Gedanke wird an die Umwelt verschwendet, im Schlachthof drängeln sich die Schweine, und was neu ist, hat aus Beton zu sein. Es ist eine Zukunft, die irgendwann ausgelaufen ist und dann doch nicht mehr passierte, weil man umdachte, dazulernte und anders eingestellt ist.
Man hört Klagen aus Berlin, die Bürger seien nicht mehr zukunftsfähig und würden sich weigern, der Gestaltung der Politik freien Lauf zu lassen; man ärgert sich über Stuttgart21-Gegner, über die Aufrührer bei der dritten Startbahn in München und jeden, der wegen einer kleinen Überlandtrasse oder Autobahn einmal durch alle Instanzen geht, oder es sogar wagt, Planfeststellungsverfahren zu lesen. Sollte man da nicht die Klagen einfach verbieten, fragt der Politiker, der erst gar kein Buch mit Beton und Stahl mehr vorlegen will. Und sie haben natürlich recht: Das ist nicht mehr so wie früher, dass man ein petrochemisches Werk in den Auwald setzen und die Abwässer in die Donau leiten kann, und den Bürgern ist es egal, sollten sie bei einer Havarie zugunsten des Fortschritts draufgehen. Das ist nur noch in den alten Leistungsnachweisen, Bauplänen, Standortuntersuchungen und Grossanlagenberechnungen so. Aber wo Laufenten die Nacktschnecken fressen und der Duft aus dem Ofen in die Gärten zieht, hat man in den letzten 40 Jahren dazugelernt. Die Möbel von Urgrosstante Mathilde, die Perserteppiche, die Kronleuchter, das Streublumenporzellan: Das ist immer noch da. Und wenn ich nicht schnell zugegriffen hätte, wäre die Zukunft der Stadt von morgen schon heute im Altpapier.
So ist sie wenigstens noch eine gute Lehre vom Planen der Politker und den geänderten Einstellungen der Kreise, bei denen sie angestellt sind. Die Raffinerien werden übrigens gerade zurückgebaut; eine Anlage ist schon in Kalkutta wieder aufgebaut worden. Das ist ein fairer Tausch. Die Inder haben unsere Schornsteine, und wir ihre Laufenten. In den Blocks wohnt keiner, den man kennt, und wie lange diese moderne Betonschule am Rande der Altstadt noch bröckelt, wird sich zeigen, wenn die Klimaziele verschärft werden. Wir alle hoffen: Nicht sehr viel länger als die Lebenserwartung einer Nacktschnecke, wenn die indische Laufente kommt.