Und die Mutter blicket stumm auf den ganzen Tisch herum.
Heinrich Hoffmann, Der Zappelphilipp
Am Penser Joch wartet der Tod. Unten, am Anfang der Strecke, gleich hinter Sterzing, noch bevor sich die Strasse auf 2211 Meter in den Himmel windet. Der Tod ist für jeden unvermeidlich, links der Fahrtrichtung Süden, und er tritt in Form eines Steinmetzes auf. Dort werden alte Grabsteine abgeschliffen, und warten auf neue Namen. Gebrauchte schmiedeeiserne Kreuze für Traditionalisten gibt es auch. Es ist alles schon da, man kann sich schon vor der Fahrt den Stein wie im Supermarkt heraussuchen. Die Strasse selbst ist dann fies und unfallträchtig; die Kurven sind rund und nicht parabelförmig, und wer darin zu früh beschleunigt, kommt unweigerlich auf die Gegenfahrbahn. Ich bin hier noch nie hochgefahren, ohne ein von der Strecke überfordertes Kamel zu erleben, meist mit norddeutschem Kennzeichen und genau dort, wo ich entlang fahren möchte. Beim Vollbremsen denke ich mir dann: Wenigstens ging dieses Riesenkamel in seinem Opel Kombi durch das Nadelöhr, und wenn es mich erwischt, habe ich im Himmelreich als Nichtganzarmer auch noch eine Chance.
So traurig sterben wir dann ein wenig mehr aus, aber der Tod gehört zum Spiel dazu, und wie in jeder Auslöschungsphase gehen wir nicht allein. Mit uns stirbt eine ganze Kultur mit Konventionen, Manieren und Traditionen, und damit verschwinden auch Firmen, Handwerker, Geschäfte und Dienstleistungen, die bislang eigentlich ganz gut mit unserer Antiquiertheit und den Marotten leben konnten. Andere werden überleben und sich in den freiwerdenden Nischen breit machen: Anlageberater, Golfausrüstungsproduzenten, Steueroptimierer und Wellnesshoteliers mit Mietluxus, wie sie es gerade im alten Grand Hotel in Gossensass im Vorgriff auf unser Aussterben praktizieren. Und wieder andere werden sich einfach anpassen und neue Kunden finden. Wie beispielsweise die Tischdeckenhändler.
Nun ist es natürlich so, dass beim Aussterben der alten Familien auf die letzten Nachfahren alles kommt, was Generationen davor gehortet, gestickt und in bitteren Erbschaftskriegen errungen haben. Und weil damals alles dauerhaft sein musste und das gute Sach geschont wurde, kann man sich jeden Tag überlegen, an der Tischdecke welcher Generation man sitzen und welche Anekdote man dazu sporadischen Gästen erzählen will. Manchmal kommen aber auch Leute, denen man besser nichts erzählt, und dann ist es gut, Tischdecken zu haben, die nicht vorbelastet sind. Solche Tischdecken im alten Stil wurden lange Zeit noch in den Berggdörfern Südtirols hergestellt, und weil sie meist naturfarben waren, und nicht blendend weiss und schmutzanfällig wie die Erbstücke, gab es immer einen guten Vorwand, die Familienbestände um das ein oder andere Stück zu bereichern: Dann sind saubeutelnde Kinder plötzlich ganz praktisch. Gewesen.
Das ist heute wohl nicht mehr ganz so. In Sterzing gibt es jede Menge Fachgeschäfte für Lederwaren aller Qualitäten und Ansprüche, und ein Fachgeschäft für Tischdecken. Und es ist nicht schwer, die Lehren aus der Veränderung und Anpassung zu ziehen: Die Lederwarengeschäfte haben keine Tischdecken ins Sortiment aufgenommen. Aber dem alteingesessenen Tischdeckengeschäft erschien es ratsam, das Sortiment um Gürtel und Handtaschen zu erweitern, und bei den Tischdecken, höflich gesagt, eine Anpassung des Angebots nach Unten vorzunehmen. Für 10 Euro kann man Stoff in Osteuropa bedrucken lassen. Gute, wirklich handgearbeitete Tischdecken sind etwas für die Ewigkeit und brauchen ein paar Generationen, um sich auszuzahlen: Das verstehen hier aber offensichtlich zu wenige, um das Geschäft am Laufen zu halten.
Ein paar Läden weiter gibt es, wie zum Hohn, mit nostalgischen Alpenmotiven bedruckte Kissenüberzüge und Bettwäsche, entworfen in Amerika. Das wird offensichtlich noch gekauft. In Südtirol, wo es eigentlich nicht an älteren Herrschaften mit älteren Überzeugungen fehlen sollte. Sicher, in Naturns gibt es noch einen Laden, in dem es Tischdecken wie früher gibt, und die dort hergestellt werden. Man muss die Gegend nur kennen, um zu bekommen, was man möchte. Aber die Grundversorgung, die Normalität, die kulturelle Hegemonie, die über so eine Tischdecke ausgedrückt wird: Das alles ist vorbei. Man kann es privat noch praktizieren, aber der Nachschub an Mensch aus geordneten Verhältnissen und Material zur Erbauung oder wahlweise auch Demütigung anderer bricht zusammen.
Dabei ist die Tischdecke als Distinktionsmerkmal der Klassengesellschaft eigentlich nicht zu unterschätzen: Wer es sich leisten konnte, den Tisch zu bedecken, gehörte schon zu den Bessergestellten. Die scheinbar achtlos zerknüllten Tischtücher auf den Stilleben eines Willem Kalf sind Ausdruck des Überflusses: Tatsächlich hätte damals kaum jemand diese Wertgegenstände wirklich so schlecht behandelt. Und natürlich ist die Tischdecke auch ein Mittel zur Disziplinierung anderer: Sie zwingt zum konzentrierten Essen und zu einem bestimmten Bewusstsein, es ist nicht zwingend bequem, wenn das richtige Benehmen nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist, aber so kann und muss man sich als Emporkömmling beweisen, um nicht zu hören, aber bitte, der Fleck mache doch überhaupt nichts aus, nein wirklich das kann doch mal passieren… Bürgerlichkeitskonvention. Der Adel neigte noch teilweise dazu, sich den Mund oder die Finger an der Tischdecke abzuwischen, aber ab dem 19. Jahrhundert hat die Tischdecke so unbefleckt wie die Jungfräulichkeit zu sein. Es ist ein Pakt zwischen denen, die am Tisch gemeinsam sitzen: Jemand gibt sich Mühe, es schön und sauber zu machen, und die anderen geben sich Mühe, es schön und sauber zu halten. Wenn alle in dieser Konvention übereinstimmen, ist es gut. Sobald jemand den Anforderungen nicht entspricht oder sie gar nicht kennt, nimmt man vielleicht besser eine naturfarbene Tischdecke aus Südtirol. Der Gast konnte sich ja, entsprechendes Benehmen vorausgesetzt, zum Damast hocharbeiten. Teils ist das Ehrerbietung, teils Selbstschutz: Ich würde nicht jedem Grobmotoriker den Biedermeierpastetenheber mit dem fragilen Elfenbeingriff oder die dünne Silberzuckerzange überantworten. So ist das auch mit den Tischdecken.
Der Abschied von solchen Verhaltensmustern ist nicht abrupt und radikal, sondern ein schleichender Prozess in wellenförmigen Bewegungen in den Abgrund: Die Tischdecke passt nur begrenzt in pflegeleichte Einrichtungen der Moderne, und drei Einrichtungsmoden des vergangenen Jahrhunderts – Bauhaus der 20er Jahre, Pop Art der 60er und Glas-Stahlmöbel der 90er – haben sie für obsolet erklärt. Die Möbel, deren Holzplatten früher von der Decke geschützt wurden, sind pflegeleicht und Wegwerfobjekte geworden, die man nicht mehr schonen muss. Wegwerfen kostet Geld, Geld muss erarbeitet werden, Arbeit kostet Zeit, und diese Zeit wiederum würde die Verwendung von Tischdecken beanspruchen. Folglich behilft sich das jüngere Restbürgertum mit dem, womit es sich immer behilft, wenn es zwischen Tradition und Moderne keine richtige Antwort gibt: Mit einer Notlüge. Die Notlüge der Tischdeckenfrage ist der Tischläufer, das Kleine Schwarze unter den Tischabendroben, und wie es nun mal so ist: Es kann hübsch sein. Es wäre ja auch eine Schande, schön geformte Beine einfach zuzudecken. Oder es ist billig und vulgär, wenn darunter das Kirschholzfurnierimitat zu sehen ist. Nur weil die alte Pflicht verschwindet, muss der neue Kompromiss nicht unbedingt schöner und besser sein. Praktischer vielleicht, weil das heute so sein sollte, wie man beim Einkauf in Sterzing sieht.
Natürlich ist das kein Anlass, jetzt Schluss zu machen und dabei wenigstens noch ein Kamel im Opel Kombi oder im Wohnmobil am Penser Joch ins Verderben mitzunehmen, wenn es auf der falschen Seite schlingert. Gleichwohl glaube ich auch nicht, dass man das Rad der Geschichte zurückdrehen kann; einer Geschichte, die es, auch das muss man sagen, mit Häkeldeckchen auf jedem Sessel und Buffet etwas übertrieben hat. Es wäre fein, wenn man wenigstens einen Sinn für das Schöne bewahren könnte. Die damit verbundenen Zwänge könnte man, wozu hat man schliesslich Konventionen, durch einen gemeinschaftlichen Willen zum Luxus und zur Üppigkeit ersetzen: Es reicht, wenn anderen am Kirschfurnierimitat sitzen. Und die Diskrimierung anderer sollte man wirklich unterlassen.
Das besorgen die schon selbst. Wie die schon dasitzen.