Schweigend und zutiefst erschrocken blieben die Erwachsenen zurück.
Dino Buzzati, Das despotische Kind
Der zweite Heiratsmarkt ist, bei identischen sozialen und finanziellen Voraussetzungen, eine 4-Klassen-Gesellschaft. Ganz oben stehen jene, die bislang aus dem einen oder anderen Grund nicht verheiratet sind. Vielleicht haben sie ja eine langwährende, aber gelockerte Partnerschaft, oder mehrere Freundinnen, oder einen gewissen Partnerverschleiss: Ganz egal, für die Marktteilnehmer gelten sie grundsätzlich als verfügbar und obendrein mangels ehelicher Abnutzung und finanzieller Folgelasten als begehrt. Dann kommen die kinderlos Geschiedenen, bei denen klar ist, dass etwas nicht optimal gelaufen ist, aber mit einem Ex-Partner wird man schon fertig. Darunter die Geschiedenen mit Anhang, die zusätzliche Kosten und emotionale Probleme erwarten lassen, und dann noch ganz unten diejenigen, die unvermittelbar oder verstockt unbelehrbar für die Freuden der Ehe sind, aus welchen Gründen auch immer. Manchmal wird der Versuch unternommen, einen Angehörigen der untersten Klasse zur höchsten Klasse hinauf zu überzeugen, um ihn für weitere Liebesverwendung nutz- und handelbar zu machen: Dann wird an brutalen Methoden nicht gespart, und weil man dann unter sich ist, geht es auch im Standesbewusstsein zur Sache mit Sozialeugenik.
Das darf man wohl noch fragen: Ob einem nicht ganz anders werden würde, sähe man all die Armen, die ihren massenhaft gezeugten Kindern ein Leben in chancenloser Armut und TV-naher Verrohung zumuten. Ob man nicht auch finden würde, dass es Kinder geben muss, die gücklich, gebildet und behütet aufwachsen. Ob man denn wirklich wolle, dass die Zukunft von jungen Menschen zerstört würde, die nichts als Unglück und Niedergang kennen. Ob man nicht vielleicht doch Lust habe, mal die P. an den Tegernsee einzuladen und zu den Festwochen der Alten Musik nach Innsbruck mitzunehmen. Die Frage, ob Frescobaldi und Biber funktional zur frühovalen Gehirngenförderung beitragen, darf man hier als positiv beantwortet und zur praktischen Überprüfung empfohlen betrachten.
Und natürlich sind solche Standesdünkel, wenn schon nicht verführerisch, so doch verführerischer als die P. mit all ihren Problemen aus der ersten Ehe, natürlich wünscht man keinem Kind etwas Schlechtes, solange es sich nicht schlecht benimmt, natürlich gibt es ein Ideal der naturnahen Erziehung zwischen Berg. Alm, Pferdekoppel und einem am See entlang führenden Cabrioweg in eine Schule, die ein Herzogschloss ist, und im Sommer könnte man ja auch hinuntersegeln und die Kinder abholen. So denkt man sich, müsste ein Kind aufwachsen, dann ist es froh, glücklich, liest am Morgen schon das Feuilleton und fängt auch nie heimlich zu rauchen an. Selbst als Worst Case Szenario des Lebens gibt es Überlegungen, die schlimm sind, und andere, die erträglicher scheinen: Die Vorstellung, das Kind könnte in etwa den Lebensweg voranschreiten, den man selbst gegangen ist, kann akzeptabel sein. Ist es nicht genau das, was sich hinter all den netten Überlegungen zur Gebärfreude zum Klassenerhalt verbirgt? Dass ein Kind dann ohne all das Elend ein zufriedenes Sonntagskind wird?
Nun gibt es neben unserem 2. Heiratsmarkt auch noch die reale Umsetzung am Tegernsee, und wer hier lebt, kennt auch ein wenig die Tücken dieser Idealvorstellung in der Praxis. Denn so ein Kind ist nicht ganz billig, und wenn man auch nur ansatzweise in besseren und besserverdienenden Kreisen mitspielen will, sollte man vorher nicht mit der P. am See entlang fahren, sondern erst mal zur Problemerkennung nach Berlin. In einen Slumbezirk namens Prenzlauer Berg im nicht wirklich ehemaligen Ostblock. Dort gibt es inmitten verschmierter Bauherrenmodellruinen einen Arkonaplatz und darauf einen Gebrauchtwarenmarkt für die Anwohner. Und dort kaufen dann all die gross gewordenen Kinder an einem nur für sie eingerichteten Stand den orangen 70er-Jahre-Trödel nach, den sie damals nicht behalten konnten, weil ihre Eltern den Ikea-Müll alle zwei Jahre austauschen mussten. Kinder werden unglücklich, wenn sie nicht mehr das haben, was sie als Kinder hatten, selbst wenn sie es damals nicht wollten. Für das Slumkind ist das Paradies der Kindheit der orange Becher. Für andere mag es das hier sein:
Das hier ist ein ehemals sehr teurer Rennradrahmen von Gary Klein, den jemand unbedingt los werden wollte: Er habe keine Zeit meht dafür, ich dagegen kann ihn brauchen. Er kam bei mir in einem Karton eines Kinderstalls an, mit Echtholzfurnier und Erlebnis-Schutzeinlage.Jeder weiss, was da passiert ist: Das Kind kam, die Freizeitgestaltung blieb auf der Strecke. Und wenn das Kind erst mal 15 ist und auch gern so einen seltenes, grünblaues Klein-Rennrad haben will, um die anderen auf dem Schulweg zu pulverisieren, wird die Antwort sein: Tut mir leid, aber mit Dir ging das nicht mehr, wir brauchten den Platz in der Garage für den Anhänger und den Kinderwagen, da habe ich es verkauft. Das kann so ein Kind schon schwer mitnehmen. Glück sieht anders aus. Und nun bedenke man bitte, wie sich das erst mal darstellt, wenn die für das Kind aufgegebenen Dinge und damit die Paradiese wirklich schwer zu beschaffen, weil teuer sind.
Kind: Ohhhh, das Cabrio da hinten, das ist schön! Papa, bekomme ich das zum Abitur?
Papa: Das hatte ich doch mal.
Kind: Waaaaaaaas? Und wieso hast Du es nicht mehr?
Papa: Wie hätte ich das behalten sollen? Wir hatten damals nur zwei Stellplätze, einen für Mutti und ihren SUV, einen für mich, und Mutti meinte damals, dass wir zwei richtige Autos brauchen und das Cabrio für Kinderwägen nicht taugt. Kurz: Es ging einfach nicht.
Kind: Aber ihr hättet es doch trotzdem behalten können wie die Eltern vom R., die auch noch ihr Cabrio haben!
Papa: Sicher, aber dann hättest Du wegen der Kosten in den billigeren Kindergarten gemusst, ohne Frühschreibunterricht und Englisch für Anfänger, und das hat Deine Mutter nicht zugelassen.
Kind (in der Hoffnung von Papa): Oh Mann. Das habe ich nicht bedacht. Entschuldige Papa, wie kurzsichtig von mir. Danke, dass Ihr diese wichtige Entscheidung für mein Leben ohne Rücksicht auf persönliche Verluste getroffen habt.
Kind (tatsächlich): Oh Mann. Das musste sein, oder? Ich. Will. Auch. So. Ein. Auto.
Kind (nachher im Netzwerk-Chat): Der alte Depp hat damals doch glatt sein Cabrio verkauft. Wegen dem pissigen Kindergarten, der mir meine Kindheit versaut hat. So asi.
Kind 2: Duhu, Mama, ich möchte heute mit Caro zum Waldfest nach Gasse.
Mama: Klar, ich bringe Euch hin und hole Euch um 10 ab.
Kind 2: Das brauchst Du nicht, ich übernachte bei Caro am See.
Mama: Das geht nicht, ich kenne doch Caros Eltern, die sind immer nur am Feiern und erst um 3 daheim, das kommt gar nicht in Frage.
Kind 2 (durchschaut): Das ist gemein! Alle dürfen da hin und ich muss um 10 heim! Warum wohnen wir eigentlich nicht auch dort, wo alle anständigen Leute wohnen und zum Seefest können?
Mama: Weil wir damals mit Euch vor der Frage standen, vergrössern wir uns am See oder bauen wir etwas ausserhalb, und wenn wir am See eine Villa gekauft hätten, hätten wir nicht für Euer Studium zurücklegen können. Und die Wohnung am See habt ihr gehasst, weil ihr im Urlaub unbedingt ans Meer wolltet. Bei jeder Bergwanderung hast Du Dich aufgeführt, der See war Dir zu kalt, Du wolltest ein Pferd: Das ging nur hier. Und zum Ballett war es auch nicht so weit.
Kind 2 (in der Hoffnung von Mama): Du hast recht, ich bin ein verwöhntes Scheusal gewesen, ich habe genommen, was ich kriegen konnte, und jetzt war ich auch noch undankbar, weil Papa die Wohnung doch so geliebt hat: Wie konnte ich nur.
Kind2 (tatsächlich): Wie konntet Ihr nur? Alle meine Freundinnen sind am See, nur ich wohne in diesem unterklassigen Bauernkaff! Nicht mal Gucci bekommt man hier!
Kind 2 (nachher im Netzwerk-Chat): Diese verdammte Ische hat damals unsere Villa am See verscherbelt. Man müsste Eltern echt abschaffen oder verbieten.
Man liest ja viel von den verlorenen Paradiesen der Kindheit, schnieft dabei etwas beim Wort Paradies und denkt wenig daran, dass für so ein Kind das Wort verloren in etwa folgende Bedeutung hat: Meine Eltern werden es wieder hersuchen und wenn es nicht bald da ist, werde ich sauer und mache ihnen den Tag zur Hölle. Zudem begreifen sie auch recht schnell, dass bessere Eltern im Münchner Süden im Gegensatz zu ihrer Propaganda nicht wirklich ganz normale Leute sind und andere in Blocks, Leverkusen oder sogar ohne Bergblick leben müssen. Da geht also was. Und bei den anderen geht es auch. Mit den steigenden Ansprüchen steigt eben auch das Niveau, ab dem so ein Kinderleben unerträglich und zur Folter wird. Und dann hat man wieder das ganze Unglück, das man eigentlich hätte vermeiden sollen. Mitunter in Kombination mit Strafaktionen unter Eltern – in den Randbereichen des 2. Heiratsmarktes hört man mitunter auch Worte wie Sexstreik und Schlimmeres.
Ein Besuch des Spielplatzes von Seeglas oder einer beliebigen Pferdekoppel zeigt jedem, wie sehr die Ansprüche hier gestiegen sind, wie sehr sich Eltern verausgaben, und welche Risiken da eingegangen werden: Ganz am Anfang, in der Öffentlichkeit nach dem Motto „Für mein Kind das Beste” eine Maria Lactans zu geben, ist zwar nicht wirklich rücksichtsvoll, aber vorerst noch kostengünstig. Dann jedoch kommt das Echtholzlaufgitter, das iPhone, der beste Kindergarten, die ein oder andere Modebeschäftigung, und das alles kostet. Jahr für Jahr wird so ein Kind teurer, kaum eine Einkommensentwicklung hält damit Schritt, Kinder fressen Erbfälle und den kleinen Luxus nebenbei auf, und in Zeiten wie diesen alles nur dafür, dass sie später die besten Voraussetzungen haben, an der richtigen Uni studieren und die besten Auslandsaufenthalte erleben. Man kann gar nicht anders, das Umfeld, das Maximilian zur Trachtenanprobe schleift, lässt einem keine andere Wahl, wenn man sozial akzeptiert werden möchte. Dafür bringt man Opfer, darüber lässt man auch keinen im Unklaren: Man versucht, den Regeln des Münchner Südens zu entsprechen.
Und die Kinder, die später Privatuniversitäten als normal empfinden und den ärmeren Studenten Geld in die Hand drücken, damit sie ihnen ein Platz im Hörsaal freihalten, werden nie aufhören, ihren Eltern Vorhaltungen zu machen, weil sie so vieles nicht bekamen, nicht behalten durften, nicht mehr haben. Irgendeinen Grund brauchen sie ja für Magersucht und das Alkoholproblem. Den Roadster, mit dem man damals mit der P. nach Innsbruck fuhr, erstatten sie einem auch nicht zurück.