Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Altdamensommer

Von der Spitze der Gesellschaft ins Abseits der Mediendespotie: Auch Reichtum bedeutet in Italien nicht zwingend, dass man alten, gesellschaftlichen Einfluss behalten muss. Auch die alten, vermögenden Damen sind Verlierer der Globalisierung.

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Also, das mit dem Journalistendasein, das ist so eine Sache. Will ich es wirklich erleben, so wie es ist, mit allen Höhen und Tiefen, muss ich entweder nach Frankfurt fahren. Allerdings mag mein italienisches Auto das nicht, und hat das letzte Mal bei Würzburg mit einem Motorschaden aufgegeben. Oder ich fahre nach Mantua. Das macht mein Auto klaglos, ja nachgerade bei 6000 UpM jubilierend; es ist, das muss man sagen, auch 70 Kilometer näher am Tegernsee und damit klimafreundlicher, und die beiden wichtigsten Erfahrungen, die mir sonst sehr fremd sind, habe ich dort auch: Ich lese jeden Tag die gedruckte Zeitung. Das geht am Tegernsee nicht, denn dort ist sie bereits ausverkauft, wenn ich nach dem Frühstück zum See hinabsteige. In Mantua ist das anders. Erstens gibt es dort viele Kioske, auf denen steht, sie würden die FAZ führen, und sogar einen, der sie wirklich führt, und zweitens bin ich der einzige Kunde. Una Giornale Generalmente di Francoforte, per favore! Das kostet 2,70 Euro, teurer als im Verlagsgebäude, aber dafür auch mit etwas angenehmerem Umfeld, bei aller Liebe, das muss man, widerwillig wohl, doch zugeben:

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Stellen Sie sich dazu bitte gestresste Frankfurter Bankerströme vor und überlegen Sie, was angenehmer für den Erwerb ist. Sehen Sie. Und ausserdem ist es ja zum Wohle der Zeitung. Und es amortisiert sich. Denn obschon ich von der Existenz einer FAZ-Kantine, jene zweite entscheidende Erfahrung, vom Hörensagen weiss, gehe ich da nicht hin. Mein letzter Medienkantinenbesuch nämlich endete trotz meiner bayerischen Innereien, die mehr dem Tierreich denn den Menschengenen entspringen, mit 7 Tagen im Bett und Orten, deren Erwähnung hier nicht schicklich wäre. Es dauerte ein Jahr, bis ich wieder Kartoffelgratin ohne Würgreiz essen konnte. Und damals schwor ich mir: Nie wieder Kantinen. Lieber verhungern! Ausserdem haben die kein Hutschenreuther, In Mantua jedoch lerne ich auch das wieder kennen und schätzen. Gut, die Kantine heisst zwar Bar Venzia (so wie die hochmusikalische Gastautorin) und ist formal die Bar, in der man in Mantua sein muss, aber funktional, mit der begrenzten Speisenauswahl und meiner Vorliebe für Tortelli di Zucca, in Butter ersäuft und mit Parmesan überschüttet, nimmt diese Bar fraglos die Funktion einer Betriebskantine ein. Den Rest des Berufes habe ich auf dem Rechner und mit dem leeren Akku im Telefon bin ich unerreichbar – fraglos also kommt das hier meinem Dasein als Journalist, wie es sich gehört, so nah, wie es ihm nur irgendwie kommen kann.

Und wenn ich bestellt habe, lese ich Zeitung. Also, ich halte die Zeitung hoch und hefte meine Augen ungefähr in die Richtung, in der jemand vom Wohl und Wehe der Gruppe 47, Anna Netrebko und dem Untergang des Abendlandes in Banksteranekdoten erzählt. Oder ein Papst etwas über Werte schreibt. In der gleichen Richtung, vorne an der Piazza, unübersehbar und die Bar beherrschend, ist auch der Kreis der feinen, alten Damen, und ich muss sagen: So als Beobachtungsbeihilfe ist die Zeitung ganz hervorragend geeignet.

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Der Kreis der feinen, alten Damen findet sich hier jeden Tag um 11 Uhr ein. Eine Dame kommt, eine andere kommt dazu, und bis um Mittag schwillt dieser Kreis mitunter auf 12 Mitglieder an, die Tische zusammenstellen und munter plaudern. Die Bar Venezia ist daher eher die weibliche Bar in Mantua; die alten Männer treffen sich ums Eck auf der Piazza Mantegna unter ähnlichen Sonnenschirmen, wo alle Touristinnen der Stadt vorbeikommen müssen. Und während die normale italienische Rentnerin angesichts von Krise und Mangel inzwischen gern zum Blümchensack auf dem Markt greift, aus China und für nur 10 Euro dem allgemeinen Lebensgefühl dieser Tage angemessen, zeigen die feinen, alten Damen, wie dieser italienische Stil der besseren Kreise funktioniert. Sicher, sie mühen sich mit Stöcken ab, aber an den knotigen Händen ist all der Schmuck vergangener Jahrzehnte in Gold. Etwas anderes geht nicht. Die Farben wären für deutsche Rentner zu bunt. Viel zu bunt. Aber das ist Italien. Und es sind die Kreise, die es sich leisten können. Bessere Gesellschaft, hätte man früher gesagt. Gutes Benehmen, und, relativ gesehen, auch eher dezent im Ausdruck. Unter der Woche sind es mitunter auch nur sechs Damen, zum Markttag werden sie mehr, und am Wochenende dagegen treten sie in voller Stärke auf. Manche kommen auch mit Taxi und Betreuerin. Ein Mann ward nie in ihrer Mitte gesehen.

Was heute ein wenig folkloristisch erscheinen könnte, wäre vor 20 Jahren, grob gesagt, die öffentliche Meinung gewesen. Der Kreis ist erlesen und geschlossen, es ist eine kleine Klassengesellschaft von Gleichartigen, und sie entscheiden. Wer wo wohnen darf, wer wen heiraten sollte, wie man die Welt zu sehen hat und die Politiker. Hinter jeder alten Frau wären abhängige Freundinnen gestanden, Wäscherinnen, Friseusen, Schneiderinnen, Bäcker, Metzger, all die kleinen Geschäfte der Innenstadt. Hier, in der Bar, hätte das Zentralkomitee der bürgerlichen Gesellschaft getagt, und was in seinen Augen Recht gewesen wäre, hätte dann eben auch für alle anderen gegolten. Schwiegertöchter, Enkelkinder, Bettwäsche, Speisenfolge, Mode, Politik. Vielleicht hätten sich nicht alle daran gehalten, aber formal wäre es so beschlossen worden, anhand von Geschichten, Einzelfällen und Geplauder. Also, die Francesca, das geht nun wirklich nicht. Der Fabrizio könnte auch mal wieder. Hallo Sophia, sag doch bitte Deinem Sohn. Kannst Du mal Alberto sagen, er soll Pasquale sagen, also diese Leggins von Beatrice, also.

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Die normative Kraft solcher faktischen Übereinkünfte, täglich neu ausdiskutiert, angeglichen und bestätigt und gegenüber Dritten dann entsprechend vorgetragen in der Art, wie man in Firmen heute vielleicht sagen würde, dass es hier im Haus eben so ist und die Kollegen meinen das auch, die normative Kraft also wäre nichts, wenn es sich nur um die Bar Venezia gehandelt hätte. Aber solche Bars und Kreise gibt es überall, die Entschlüsse sind vermutlich immer gleich und vom immer gleichen Streben nach Erhaltung von Art, Sippe und genehmer Moral geprägt, und so funktioniert dann auch eine Stadt, eine Region, ein Land. Das muss gar nicht unfreundlich sein, alte Damen haben viel Zeit zum Nachdenken und am Ende findet sich zu jedem unverbrüchlichen Prinzip auch eine still geduldete Ausnahme für die alleinerbende Lieblingsenkelin. Die Gesetze sind nicht geschrieben und man kann ihnen ausweichen, wenn man den Ort verlässt. Aber andernorts gelten die gleichen Gesetze von anderen Richtern, also fügt man sich besser. Der Staat ist die eine Sache. Die Beschlüsse im Cafe sind die andere.

Gewesen. Oh, natürlich wird hier weiter die öffentliche Meinung ausdiskutiert und entschieden, was sein darf und was nicht. Es gibt auch noch eine Damenschneiderin die Strasse hinunter, die man entsprechend informieren kann, und die ein oder andere Bäckerei und Salumeria. Die Postmoderne gesteht den feinen, alten Damen durchaus noch ihren Platz in der Gesellschaft zu, aber das Land hat sich verändert. An der Supermarktkasse kann man sich jede Debatte über die Tugenden der Ehe sparen. Es gibt einen Ministerpräsidenten, der vieles von dem vorlebt, was in diesem Kreis undenkbar ist. Und es gibt mittlerweile, Postmoderne der Banken und Staatsschulden sei Dank, andere beherrschende Themen als die öffentliche Meinung in der Bar, die meine Kantine ist. Ich habe eine junge, gut ausgebildete Managerin kennengelernt, die es sich nicht leisten könnte, hier jeden Tag zu sitzen. Auf eine neue, perverse Art sorgen die Verwerfungen dafür, dass die Klassengesellschaft besser denn je funktioniert: Die feinen, alten Damen sind hier eine Klasse für sich. Der Rest der Gesellschaft hat sich davon abgesetzt. Der gläubige Muslim mag die Verwestlichung des Orients beklagen; in Italien kann man, zwischen 11 und 1, die leise Illusion haben, Italien habe sich noch nicht der alten Damen entledigt. Sie sind ja noch da und entscheiden, bis 1 Uhr. Und dann gehen sie.

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Zurück in die Kühle der Häuser, die hier Palazzo heissen, auch wenn sie von aussen unscheinbar sind, gestützt auf Stöcke und anders als jene, die für 10 Euro Kleider auf dem Markt kaufen. Zwei Stunden lang war die Welt wieder so, wie sie sein sollte, es gab keine Zweifel und TV-Sender, in denen die Miezen des Premiers all dem Hohn sprechen, für eine Wohnung in Mailand, eine Party und eine der Taschen, die hier genauso häufig sind, wie die alten Damen auf deren Trägerinnen verächtlich herabblicken, wenn sie nach Hause gehen. Wie all die anderen alten Damen in anderen Städten auch. Nicht so vergänglich wie die Zeitung sind sie, sie werden noch etwas bleiben und das Ritual der Selbstvergewisserung getreulich einhalten. Allein schon, weil die restliche Welt keine Alternative bietet. Nicht für die alten Damen, nicht für diejenigen, die am Markt die Säcke aus China kaufen und nicht für jene, die bald ihre Zelte abbrechen müssen und nach Norden fahren, das Auto nach Norden zwingen müssen mit dem erstaunlichen Gefühl, dass so ein geregeltes Arbeitsleben mit Kantine und Zeitung eigentlich gar nicht so übel ist, wie man vielleicht gedacht hat.