Here comes the boat only half afloat
Madness, Night Boat to Cairo
Es gibt wissenschaftlich durchaus sinnvolle Methoden, Reichtum zu messen und zu erklären. Umfragen helfen da natürlich nicht weiter, denn würde man am Tegernsee einmal die Anwohner durchtelefonieren, bekäme man unisono zu hören, dass die Reichen die jeweils anderen sind, und man selbst ganz sicher nicht, also wirklich… obere Mittelklasse, bestensfalls. Aber auch nur mit Einschränkung. Der Nachbar schon eher! Also muss die Wissenschaft ran, Unterlagen sichten, Statistiken machen und Grenzen ziehen, bei denen die Reichen ganz entsetzt sagen, dass das doch keinesfalls Reichtum sein kann, also wirklich nicht… und nachdem Reiche auch eher selten die wahren Lebensumstände in den Steppen des Vogtlandes, rund um Bremen und in der Wüstung an der Stelle, die einst „Köln” genannt wurde, kennen, kann so ein Knick in der sozialen Optik schon einmal vorkommen. Ich, selbst arm und hart arbeitend, aber mit reichen Nachbarn begütert, denke oft darüber nach, was das ist, Reichtum – ich mein, man denkt ja immer an das, was man nicht hat, und als ich dann so verarmt nach drei Wochen in Oberitalien mein armes, von Schuhkäufen überlastetes Auto mit ruhigen 130 km/h durch die Kurven hoch zu Punto San Vigilio trieb – da war so ein Opel aus Gelsenkirchen, den musste ich überholen –
da kam mir eine Idee, wie man das wirklich messen könnte, diesen Reichtum. Denn obschon ich natürlich arm bin, denke ich auch, dass ich reicher bin als ein Vorstandsassistent in Frankfurt, der den ganzen Tag Akten abarbeitet, Vermerke schreibt und sonst so tut, was die tun. Denn Reichtum, finanziell gesehen, ist nur eine Zahl auf Papier oder Festplatte. Objektiv betrachtet mag der Assistent seinen Leasingporsche in der Tiefgarage ganz hinten abstellen, genauso objektiv nutzt er ihn nicht und wäre er nicht da – er würde es gar nicht merken. Er merkt das erst, wenn er im Stau einen Auffahrunfall hat. Aber der Opelfahrer aus Gelsenkirchen, der weiss, dass ich hier bin. Ich bin am See. Und das ist die Währung, nach der ich Reiche enteilen würde. Man kann Geld abwerten. Aber nicht einen Sommertag am See.
Kurz vor Brenzone halte ich also an und geniesse ein wenig das angenehme Spätsommerwetter, um noch etwas an meiner Theorie zu arbeiten. Vielleicht könnte man ja eine Art Seekorrektiv in die übliche Reichtumsstatistik einbauen. Oder vielleicht sogar eine Faktorregelung. Persönlicher Reichtum ist gleich Vermögen in Viertelmillionen plus Zahl der angenehme Wohnsitze mal über dem üblichen Grundurlaubsrauschen am Wasser nichtstuend mit ausgeschaltetem Mobiltelefon verbrachte Tage, im Kern stehend für die Tage des guten Lebens pro Jahr. Also (X + Y) x (Tage-20) = gelebter Reichtum. Das klingt vielleicht simpel, aber, siehe da, auf dem See:
Da ist rechts ein bunter Rettungsschirm und links schwimmt ein fast schwarzer Schwan vorbei. Mag sein, dass der Schwan später mal weiss wird, aber jetzt ist er definitiv dunkelgrau, und mit etwas Pech wird es auch ein schwarzer Schwan, und dann fängt er vielleicht auch bald an zu singen:
Ich trage pink, ich trage grün, und dazu Pömps in Rot
Das mag der Berlusconi sehr, und der Euro, der ist tot.
Und dann kommt noch der Möwenchor:
Er ist ein Unglücksvogel und er ist schwarz
Er bringt uns schnell zum vierten Hartz.
Oder was schwarze Schwäne sonst so an sensationellen Spätsommerschlagern so vortragen. Es könnte ja durchaus ein Hit werden, denn die alternativlose Blasmusik, mit der Europa der Marsch in Richtung Rettungsschirm geblasen wird, kennt man schon seit 2008, und, wie man sieht: Der dunkelgraue Schwan hat offensichtlich andere Pläne – er wendet sich eindeutig gegen Rom, wo der grosse, schlimme, alles in den Untergang reissende Schuldenberg zu finden ist. Und das erinnert an die kleine, aber nicht unbedeutende Problematik, dass die in Festplatten gegrabenen Zahlen beim Umtausch in die Welt hochgradig volatil sein können. Ja, vielleicht sind sie bald weniger wert als die Festplatte selbst. Denn die Volatilität ist nun mal leider auch alternativlos.
Um das mal an einem schönen Beispiel zu illustrieren, das noch vor ein paar Monaten unter Vermögensverwaltern und vermögenden Kunden kursierte: Alle sprachen von der Griechenlandkrise, aber für Anleger sagte man etwas ganz anderes. Chancen. Spring! Satte 15 Prozent. Und monatliche Ausschüttung. 15% ist viel, gerade, wenn es um meine Schicht geht, deren Lebensziel tatsächlich 365 Tage am See ohne Arbeit ist. Hat man beispielsweise eine Million Vermögen, und erlöst nach Abzug der Steuern 3%, sind das pro Jahr 30.000 Euro. Davon kann man leben, wenn man Immobilien schon besitzt, und keine grossen Ausgaben kommen. Aber 15%, davon bleiben über 10% übrig, das sind über 100.000 Euro pro Jahr. Und die EU kann es sich nicht leisten, Griechenland pleite gehen zu lassen. Alternativloses Garantieeinkommen. Und sagten einem nicht alle, man dürfte Griechenland nicht pleite gehen lassen?
Für solche mutigen Investoren, die, das muss man auch sehen, für die europäische Idee den bedrängsten Griechen beisprangen jawoll, kann es jetzt übel ausgehen. Gerne behaupten diese Kleinmillionäre zwar, dass sie nur obere Mittelschicht sind, aber auf diese Art und Weise im nächsten Wohlstandsbericht der Bundesregierung den tatsächlichen Nachweis zu finden, kann auch nicht Sinn der bescheidenen Sache sein. Meine Formel hätte hier den unschlagbaren Vorteil eines Korrektivs: Je grösser der griechische Schuldenschnitt, je fälscher die Einschätzung der Berater, je alternativloser die Milliardenüberweisungen an die Banken unter Nichtachtung ihrer vermögenden Kundschaft, desto mehr Tage am See könnten den individuellen Glückskoeffizienten anheben, um so wieder zu einem ausgeglichenen Ergebnis zu kommen. Und auch, wenn das Geld dann weitgehend weg wäre: Zur Rekapitalisierung der Banken wird ja wieder allen anderen auch genommen. Das gleicht sich schon wieder aus. Wenn bei diesem Spiel einer mit dem schwarzen Schwan baden geht, gehen wir alle mit ihm baden.
Und vielleicht kann man das auch als Sozialreform verkaufen: Wenn die Gewerkschaften der Arbeitenden immer fordern, die Schere zwischen Arm und Reich dürfe sich nicht weiter öffnen, kann ihnen damit, im Falle der Entreicherung weiter Vermögendenschichten, gerne geholfen werden: Mal bleiben sie zurück, mal stürzen sie mit, das ist der Gang der Welt.Weil dann aber immer noch genug Vermögen da sein dürfte, um die Tage am See zu geniessen – auch mit schmalen 30.000 p.a. oder auch nur 20.000 lassen sich unter Einbeziehung des Familiensilbers feine Picknicks am Strand ausrichten – sollte man die Einführung der ultimative Reichtumsformel vielleicht erst nach Griechenpleite, Italienkonkurs und Währungsreform angehen. Sol lucet omnibus, sagt der Lateiner. Gut, weil er gerade vorbeikriecht, muss ich auch sagen: Nicht allen wird dann noch der Opel Astra Diesel scheinen, was aber für diese Traumstrasse kein Verlust ist. Nach Brenzone kann man, wenn es ganz schlimm kommen sollte, auch radeln, in nur drei Tagen. Wenn man am Tegernsee wohnt. Man muss nur wollen, dann wird sich Leistung wieder lohnen. Oder so.
Dann steige ich in mein Auto und fahre los. Ich muss über die Berge, und weil all die Einkäufe auf dem Gepäckträger ein Schliessen des Daches nicht mehr erlauben, wird es kalt, sehr kalt, so kalt wie ein Vermögensverwalter, wenn er Tabellenkalkulationen macht, in denen Tage am See keine Rolle spielen. So eine Villa hätte ich, nebenbei erwähnt, übrigens gerne.
(notfalls mache ich auch Hausverwalter und passe auf Ihre schwarzen Schwäne auf)