Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts überquerte man den Brennerpass nicht unbedingt auf der heute üblichen Route südlich von Innsbruck. Man bog, von Deutschland kommend, bei Hall oder Volders in Inntal links ab. Man reiste über das sogenannte Mittelgebirge auf halber Höhe trockenen Fusses über dem oft überschwemmten Tal, mit Blick auf das Karwendelmassiv, bog dann nach Süden ab und benutzte die sonnige, kurvenreiche Ellbögenstrecke bis nach Pfons. Heute ist diese landschaftlich reizvolle, aber nicht schnelle Handelsroute weitgehend vergessen, der Verkehr braust lieber auf der Autobahn dahin.
Der erste Ort, den man auf dieser Strecke erreicht, ist Tulfes, früher ein Dorf und heute eher eine Art Schlafstadt für Hall und Innsbruck unten im Tal. Aber das erste Haus ist seit Menschengedenken gleich: Es ist das Rosa Haus gleich am Ortsrand. Die Nordseite erhebt sich wuchtig mit einem Natursteinunterbau über der Steigung, und die Südseite steht schon auf dem ersten Felsen der Hochebene. Wer immer diese Strecke fuhr, wusste bei diesem Gehöft, dass der erste schwere Anstieg zum Brenner bewältigt war.
Wenn Küsten Leuchttürme haben, haben Berge solche dominierenden Gehöfte. Es sind mehr als nur Bauernhäuser, es sind Fixpunkte, sie drücken eine bestimmte Haltung der Bauherrn aus, und weil diese Gehöfte oft so gravitätisch und bestimmend wirken, werden sie auch oft bunt bemalt. Rosa war früher keine seltene Farbe; hier in Tulfes ist sie noch zu sehen.
Es ist der beste Platz im Ort: Exponiert zur Tal, und so weit vorne, dass auch im Winter die Sonne über die Berge hierher scheinen kann. Auf den Balkonen hat man einen atemberaubenden Blick über das ganze Tal und das Karwendelmassiv, und im Herbst wachsen einem dort die Birnen in den Mund. Allerdings ist der letzte Bewohner schon vor einer Weile gestorben, und der Erbe hat kein Interesse daran. Für mich ist das anders, denn in aller Regel nehme ich diese alte Handelsroute nach Italien und kaufe hier Spinatknödel. und wann immer ich das Rosa Haus gesehen habe, dachte ich mir: Jetzt bin ich schon fast dort über den Bergen, jetzt nur noch diese wunderbare Sonnenstrecke. Und: was für ein wunderbar erhaltenes, grandioses Haus, ohne Verpfuschungen der Gegenwart, das all unserer alpinaweissen Zurückhaltung die knallrosa Zunge herausstreckt.
Im Dorf, das eigentlich ruhig und mitunter immer noch pittoresk ist, und wieder famose Dorfläden hat, sah man das anders. Manche hielten es für eine Schande, wie das Haus hier vor sich hin bröckelte, und bedauerten sein Schicksal. Andere hielten es einfach nur für einen Schandfleck. Der Denkmalschutz hielt es nicht für ein Denkmal, denn, Zitat eines Dorfbewohners, es sei noch nicht mal eine Lüftlmalerei dran. Im August, als ich die Bilder machte, war die Meinung noch gespalten. Inzwischen gibt es noch eine Meinung. Die der Statiker. Das Haus ist einsturzgefährdet. Und deshalb wird es abgerissen.
Ein paar Sachen der Vorbesitzer kann man noch sehen: Inneneinrichtung, der einfache, aber wirkungsvolle Kachelofen, Werkzeuge, ein abgezogenes Schafsfell, das den Schälchter überlebt hat.
Es hätte nicht so kommen müssen. Inzwischen findet man kleine Fenster wieder gut, man kann sogar die alten, wuchtigen Fensterstöcke retten und mit Isolierglas versehen. Wer damals so ein Haus baute, baute naturgemäss nicht billig. Die Balken, die Hölzer, die dicken Mauern, alles erzählt von Qualität und, modern gesagt, Nachhaltigkeit. Es sollte lange stehen bleiben. Es hat Jahrhunderte gehalten. Aber Desinteresse bringt leider auch das schönste Herrenhaus um.
Ich habe von einem anderen abgerissenen Bauernhof auch schon so ein Stück von einem Treppengeländer. Spätgötisch, aus Südtirol. Meine Grosstante hat es in den 50er Jahren gerettet. Jetzt habe ich ein barockes Gegenstück. Ich hätte gerne darauf verzichtet.
Der Platz ist natürlich immer noch eine 1A-Lage. Sie werden etwas Neues bauen, wie andere es hier ja auch schon getan haben, in Tulfes, einem steinalten Ort oberhalb von Hall in Tirol, im schönen, stolzen Tirol, traditionsverbunden und heimatliebend.