Ein feuchtfröhlicher Gastbeitrag vom Experten Christoph Raffelt (mehr von ihm hier und hier) in diesem sonst von Abstinenz und Freudlosigkeit geprägten Blog.
Die Wacholderbeeren in Wein gesotten / und darvon getruncken / ist gut den jungen Kindern / so einen starcken schwären athem haben / dass sie bisweilen auch Blut auswerffen / und soll eine gewisse Kunst seyn / dann es zertheilet den Schleim in der Brust / und machet denselbigen desto leichter auswerffen. Tabernaemontanus (1520-1590)
Wenn ich an Wacholder denke, denke ich zunächst an Rehrücken und dann an Amsterdam. Es war der Rehrücken, bei dessen Zubereitung mir zum ersten Mal der Duft des zerdrückten Gewürzes durch die Nase zog. Etwas später dann habe ich den Wacholder dann als Destillat wahrgenommen. Das war in der niederländischen Metropole, ich war mit meiner Holden durch die Stadt gelaufen und irgendwann eingekehrt. Es gab Bier und Jonge Genever und wir redeten und redeten und tranken so nebenbei und draussen gingen die Lichter und bei uns unbemerkt die Lampe an und als wir spät am Abend auf die Straße traten, schlug uns die frische Luft ohne zu Zögern ihre Keule ins Gesicht. Der Alkohol hatte sich hinter den Aromen ausgezeichnet versteckt. Ein linderndes Mittel hätte gut getan, doch es war keines zur Hand. Und den Genever, ursprünglich in den Niederlanden als Arznei entstanden, mochten wir nicht mehr zu Rate ziehen.
Es kommt übrigens gar nicht so selten vor, dass ein eigentlich als Medizin gedachtes Produkt den Weg in den Alltag findet. Coca-Cola, in Zeiten allgemeiner Quacksalberei eines von vielen dutzend Produkten, die gegen Magen- und Darmkrankheiten helfen sollten, dürfte das berühmteste Beispiel sein. Zu diesen als Arznei entwickelten Getränken gehören jedoch vor allem Destillate, zu dessen bekanntesten Vertretern neben Klosterfrau Melissengeist der Gin gehört.
Die Möglichkeit, Alkohol sauber destillieren zu können, haben, wie so viele andere Erfindungen auch, Araber über Spanien nach Europa gebracht. Nicht zum Zweck des großen Besäufnisses, das verbietet schon die Religion; es war vielmehr jene oben angesprochene Notwendigkeit, heilende Substanzen haltbar zu machen. Der Alkohol diente, und dient natürlich bis heute, der Konservierung. Die Erfindung der Alembik-Destille wird auf das achte Jahrhundert datiert und dem Gelehrten und Alchimisten Abu Mūsā Jābir ibn Hayyān – auch »der Gerber« genannt – zugeschrieben.
Diese Form der Medizindarreichung wurde im – dem Alkohol nicht abgeneigten – europäischen Mittelalter sicherlich besonders gerne übernommen und dürfte neben dem heilenden Aspekt auch zur ein oder anderen wichtigen Vision geführt haben. Die Verbindung von Wachholder und neutralem Alkohol – denn daraus besteht ja der Genever – findet sich dabei schon in frühen Quellen. Nicht zuletzt soll diese Kombination auch zur Bekämpfung der Pestilenz eingesetzt worden sein, allerdings mit nicht belegter Wirksamkeit. Der Wachholder gilt schon seit Jahrhunderten als Standardheilpflanze, es werden dabei nicht nur die Beeren genutzt, sondern ebenso die Nadeln. Wer schon einmal einen Wachholdersirup selbst hergestellt und eingenommen hat, was früher ein typisches Rezept der Hausapotheke war, wird am eigenen Leib erfahren haben, dass dieser deutlich schleimlösender ist als die üblichen angepriesenen Mittel aus der Apotheke. Genau aus diesem Grund, und weniger um heimlich im Keller das Hochprozentige zu brennen, fanden sich die Büsche früher fast in jedem Garten.
Die eigentliche Tradition des Genevers entwickelte sich in Holland im 17. Jahrhundert, von wo aus ihn die Handelsleute irgendwann mit nach London nahmen. Zu jener Zeit lebten rund 5.000 Holländer in der englischen Hauptstadt – selbst der König Wilhelm III. von Oranien hatte niederländische Wurzeln. Alkohol kann man überall erzeugen, und den Wachholder gab es ebenso auf der Insel, die Herstellung war also kein Problem. Viel problematischer dagegen war die Feindschaft des protestantischen Königs mit dem katholischen Frankreich, die zu einem Importstopp des damals ausgesprochen beliebten französischen Weinbrands führte und zur Folge hatte, dass ab 1702 unter Queen Anne, der letzten Stuart-Königin Englands, die bis dato notwendige Lizenz zur Produktion von Gin nicht mehr benötigt wurde. Was aus dieser Freizügigkeit entstand, wird heute als Gin-Epidemie bezeichnet, und hat das genaue Gegenteil von dem verursacht, wozu dieses Getränk ursprünglich produziert worden sein soll. Statt Krankheit zu vermeiden, wurde sie begünstigt. Jeder dahergelaufene Prolet durfte Gin brennen, und wer dies nicht gelernt hatte, konnte schnell erblinden, denn beim Produktionsprozess entstehen hochgiftige Stoffe. Wer nicht mit Blindheit geschlagen wurde, wurde abhängig. Getrunken wurde schon Morgens und auch die Kinder, die häufig schon krank geboren wurden, bekamen den Fusel zu saufen. 1727 sollen etwa 6 Millionen Engländer 5 Millionen Gallonen Gin, also 22,5 Millionen Liter jährlich getrunken haben. Bei diesen Zahlen wirkt es erstaunlich, dass das Inselvolk überhaupt überlebt ha,t und die Franzosen die Zeit nicht genutzt haben, um die Insel zu besetzen. Eine 1736 eingesetzte Kommission bemerkte: »Kinder werden schwach und kränklich geboren, sehen oft so eingefallen und alt aus, als ob ihr Alter schon viele Jahre zählte. Die Leute geben den Alkohol täglich ihren Kindern… auf dass sie kosten und an diesem sicheren Vernichter Gefallen finden mögen.«. Die Auswüchse dieser Zeit wurden schließlich 1751 im so genannten Tippling-Act reglementiert, was auf Dauer erhebliche Einschränkungen bei Herstellung und Konsum zur Folge hatte.
Die heutige Form des Gin, vor allem aber die des Gin & Tonic, in dem sich neben dem Wachholder eine Vielzahl weiterer so genannter Botanicals wieder findet, hat viel mit der englischen Kolonialzeit in Indien zu tun, in der nicht nur dem Gin diverse Gewürze hinzugemischt wurden, sondern auch Chinin genutzt wurde, um Malaria zu bekämpfen. Um das tonische Getränk nicht zu herb werden zu lassen, vermischte man es mit Zucker, irgendwann wurde es als Tonic Water bezeichnet und mit Gin gereicht.
All das hat mit Deutschland eigentlich nicht viel zu tun. Natürlich wird auch hier Gin getrunken, allerdings war die Auswahl lange Zeit ziemlich begrenzt. Doch gerade weil dieses zwischenzeitlich etwas aus der Mode gekommene Getränk in Bars eine gewisse Renaissance erlebt, findet sich eine stetig steigende Anzahl angebotener Sorten und inzwischen werden hier sogar Destillate hergestellt, die einen internationalen Vergleich nicht scheuen müssen.
So gab es beispielsweise einen in Indien geborenen Engländer namens Montgomery Collins, der – die Geschichte wirkt natürlich zu schön, um wahr zu sein – nach dem zweiten Weltkrieg auf Grund seiner Deutschkenntnisse nach Berlin beordert wurde, um dort beim Wiederaufbau zu helfen. Er kümmerte sich neben vielerlei anderer Tätigkeiten auch um den Zoo, um dort schließlich die Patentschaft für einen Affen zu übernehmen. Irgendwann verschlug es den Engländer auf Grund seiner Liebe zu Uhren in den Schwarzwald, um das Uhrmacherhandwerk zu lernen, bei dem sich allerdings alsbald herausstellte, dass er dafür gänzlich unbegabt war. Er entschloss sich also zur Eröffnung eines Landgasthofes, den er einige Jahre später wieder schließen musste, nicht ohne dort mit der Herstellung von Gin experimentiert zu haben, und das Rezept samt Probeflasche in einem Koffer auf dem Dachboden zu belassen, wo es Jahrzehnte später zufälligerweise entdeckt wurde.
Das also ist die Story zu einer aufwendig und schön gestalteten Flasche namens Monkey 47, und einem, das muss man ihm lassen, wohlschmeckenden Inhalt mit 47 verwendeten Kräutern und Gewürzen und 47% Alkohol. Seit dem der Inhaber Stein und der nicht unbekannte Destillateur Keller diesen Gin auf den Markt gebracht haben, ist er regelmäßig ausverkauft. Alles passt also zusammen bei dieser Luxusvariante eines Getränks, das historisch gesehen zur Arbeiterklasse gehört. Um auf einem eigentlich gesättigten Markt eine Nische zu finden, bedarf es eben zumindest in hiesigen Breitengraden einer gewissen Exklusivität. Dazu passt ein solches Gesamtkunstwerk samt passender Geschichte, die wiederum in Artikeln wie diesem hier weitergetragen werden kann, natürlich hervorragend. Was Luxus ist, bleibt attraktiv, und so finden wir in der gehobenen Gastronomie den Wasser-Sommelier, können zwischen Einzellagen-Plantagenschokoladen wählen oder sortenreinen Apfelsäften. Warum sollte dies nicht auch bei Wacholderschnaps funktionieren? Bei all diesem ausdifferenzierten (Über-)Angebot schwanke ich immer häufiger zwischen Übersättigung und Bewunderung.
Dem Monkey 47, der vor allem durch seine feine Wacholder- und Zitrusnase, durch seinen Schmelz und die Länge besticht – am Gaumen vermisse ich ein wenig die Prägnanz des Wacholders -, steht der The Duke – Munich Dry Gin zur Seite. Auch hier sind es zwei Herren, die aus dem zunächst passiven Genuss eine aktive Passion entwickelt haben. Der Gin, destilliert in einer kleinen Produktionsstätte mitten in der Landeshauptstadt, präsentiert sich nicht im Retro-Flacon, die Gestaltung wirkt bodenständiger, mit einer leicht ironischen Note, würde ich mal behaupten, und in den Ingredienzien in Bioqualität finden sich neben Koriander, Zitronenschalen oder Kubebenpfeffer auch Hopfenblüten und Malz. Das ist nicht nur eine Reminiszenz an den Herstellungsort, sondern wirkt insgesamt ausgesprochen harmonisch und gelungen und etwas kräftiger als beim Monkey 47. Die verwendeten Inhaltsstoffe werden mazeriert und – wie auch auch beim Schwarzwald Gin – zweimal durch die kupferne Brennblase geschickt, um eine Premium London Dry Gin Qualität zu erhalten. Wer beim Probieren mit Tonic mischt und noch einen drauf setzen will, kann natürlich zusätzlich zwischen verschiedenen Tonic-Qualitäten wählen, aber das würde jetzt zu weit führen, auch wenn ich speziell den Fentimans zum Duke und Fever Tree zum Monkey 47 empfehlen würde.
Die beiden Wacholder-Brände zeigen sehr schön, dass man in einem Land, in dem es keine traditionellen Erzeuger gibt, trotzdem mit viel Experimentierfreude und Passion innerhalb relativ kurzer Zeit ein ausgezeichnetes Produkt herstellen kann. Und was die Traditionen angeht finde ich es persönlich ja Schade, dass es hier kein Pendant zum »Appointment to her Majesty the Queen« gibt. Wie wohltuend könnte solch ein Allheilmittel doch wirken in Bellevue, sei es gegen Magenbeschwerden, als Antidepressivum, gegen Verschnupfung oder um einfach eine Vision zu erzeugen.
Bildquelle: William Hogarth, Gin Lane, 1751, public domain