Wir sind fahle Schatten der echten Herren.
Guiseppe Tomasi di Lampedusa
Der Ruf des Dr. B. war untadelig und über jeden Zweifel erhaben. Und das hat gar nichts damit zu tun, dass der nächste allseits bekannte und gern aufgesuchte Arzt der kleinen, dummen Stadt an der Donau mit einem heftigen Unzuchtskandal, dessen Erwähnung hier vollkommen undenkbar wäre – nur so viel, es hatte etwas mit Narkose zu tun – die Erinnerung an den alten Mann vergoldet hätte. Dr. B. war tatsächlich noch vom ganz alten Schlag, der auch Nachts kam, wenn er gebraucht wurde, mit einem gusseisernen Verantwortungsgefühl und unerschütterlicher Zuversicht. Er stammte noch aus einer anderen Epoche, und manche Familien, die besseren zumal, waren über Generationen bei ihm. In jenem Bereich, der gerne auch von Modeärzten heimgesucht wird, war er eine Institution, und wenn er etwas sagte, dann holte man keine zweite Meinung, sondern hielt sich dran. Dr. B. war in Fragen der Gesundheit, des Lebens und überhaupt allen Dingen Gott nur wenig nachgeordnet, und irgendwie kann man sich gar nicht vorstellen, dass er jetzt mit weit über 90 Jahren gestorben ist. Schnell, friedlich, gradraus, ohne Umstände zu machen, so wie er gelebt hat.
Er war ein Ruhepol in diesen Zeiten, in denen Medizin durch eine lebenserhaltende Dienstleistung und der Hausbesuch durch 18 Löcher auf dem Golfplatz ersetzt wurden. Natürlich, das muss man zugeben, hatte er längst aufgehört zu praktizieren, als die grossen Veränderungen kamen, aber wenn er seine ehemaligen Patientinnen später beim Spaziergang oder im Konzert traf, erkundigte er sich stets nach ihrem Wohlergehen, und blieb weiterhin der gleiche, bescheidene und korrekte Mensch, der er immer gewesen ist. Er hätte natürlich auch anders gekonnt, aber er war zufrieden, beruflich kürzer zu treten, aufzuhören und sich dann den Freuden hinzugeben, die einem dann noch bleiben: Bücher, Musik, Reisen, Essen, Familie.
Als er dann auf die 90 zuging, liess die Gesundheit nach. Herz, Kreislauf, Beine, Beweglichkeit. Er brauchte einen Rollator, und als Arzt sah er das Unschöne, das unvermeidlich geschehen musste, durchaus ein. Er wusste um die Probleme der häuslichen Pflege, und bestellte sich beim hiesigen Dienst das volle Paket, um seine Familie zu entlasten. Er war durchaus rüstig genug, noch einige Dinge selbst zu tun, aber für die unschöneren Arbeiten hatten die Pflegerinnen bei ihm zu sein, so pünktlich und akkurat, wie er selbst gewesen ist. Dr. B. kam, wie gesagt, aus einer Zeit vor der Dienstleistungsgesellschaft, und behandelte alle, egal ob Polin, Deutsche oder Rumänin, mit der gleichen formvollendeten Höflichkeit. Wenn sie pünktlich waren und alles zu seiner Zufriedenheit machten. Wenn nicht… ich möchte es vielleicht so formulieren: Sie machten es dann schon richtig.
Natürlich hat der Pflegedienst auch noch andere Patienten, und nicht alle Patienten sind gleich. Bei der Pflegetätigkeit weiss man nie, was einen erwartet, manchmal ist ein Patient zu schwach zum aufstehen, manchmal geht alles unerwartet glatt, mitunter kommen grosse Katastrophen dazwischen, und oft wollen alte Leute Zuwendung und Gespräche. Es ist ein Beruf, bei dem man eigentlich kaum auf die Minute genau pünktlich sein kann, und trotzdem erwartete Dr. B., dass er exakt um 11 Uhr sein zweites, grosses Frühstück bekam. Mit exakt den Speisen, die er für richtig hielt. Es gab dann noch einen Termin am Nachmittag und einen weiteren Termin in der Nacht. Alle genau festgelegt und vorher abgesprochen. Und alle anderen Patienten, egal ob Landesfürstenverwandte, Geschäftsleute oder alte Damen, hatten sich mit den verbleibenden, unsicheren Terminen zu begnügen. Die Routen hatten ein Anfang und ein Ende und drei Fixpunkte bei Dr. B.. Das Personal musste eben disponieren. Aber weil er so freundlich war und jeder, der ihn kannte, es natürlich verstand, dass der Dr. B. exakt um 11 sein zweites Frühstück bekam, gab es deshalb keinerlei Ärger oder Streit. Anderen machte es auch nichts aus, ab und zu etwas zu warten, oder überraschend früh versorgt zu werden. Man hat nicht mehr so viele dringende Termine, die man verpassen könnte.
Ich habe wenig Zweifel, dass die ein oder andere Pflegekraft diesen Ablauf hin und wieder verfluchte. Es hatte sich eingeschliffen, dass sie vor Dr. B. jene Pflegefälle – schreckliches Wort, eigentlich – aufsuchten, die erfahrungsgemäss die wenigsten Probleme machten. Damit liess sich dann rechnen. Sollte aber doch etwas schief gehen, hätten sie sich gewunschen, den Termindruck nicht zu spüren, und unter allen Umständen pünktlich sein zu müssen. Flexibilität, das lehren und die Wirtschaftsexperten, hilft Abläufe beschleunigen und flexibel auf unerwartete Anforderungen zu reagieren. Dr. B. stand diesen Grundsätzen der Ökonomie interesselos jahrelang und gusseisern entgegen. Für die Schwestern, die ihn mochten, weil er so charmant war, mit ihnen umgehen konnte, und als Arzt genau wusste, wie störend Hypochondrie und Gejammer sein kann, war der Tod ein schwerer Schlag. Man sollte meinen, dass sie jetzt wenigstens ihre Abläufe flexibel einrichten können.
Nun; was man so hört, ist das Ergebnis ein mittelschweres Chaos. Natürlich ist es jetzt nicht mehr nötig, sich die Fahrten in vier Teile, definiert durch den alten Doktor, zu zerteilen. Es ist mehr Zeit vorhanden, die Routen können geändert werden, und der Zwang, ständig die Uhr im Kopf zu haben, entfällt. Früher wussten alle, was sie in etwa bis zum ersten Termin bei Dr. B. geschafft haben sollten. Jetzt liegen die Aufgaben wie eine breiige Masse bis zum Dienstschluss vor ihnen. Prompt laufen die früher recht verlässlichen Termine aus dem Ruder. Die neue Flexibilität löst die alte Ordnung auf. Aus dem Zwang, den Willen des Doktors zu befolgen, wird der Zwang, in einem unübersichtlichen Umfeld dauernd neue Entscheidungen selbst zu treffen. Das wird sich fraglos wieder einrenken, aber man hört, dass manche schon jetzt sagen: Sie machen es so, als wären die Termine bei Dr. B. weiterhin einzuhalten: Mitunter war der Doktor auch eine gute Entschuldigung, die Abläufe zu straffen: Das ist halt so, das geht jetzt nicht anders, weil der Dr. B. wartet… das ist jetzt vorbei.
Vielleicht ist die Idee, den Arzt als Institution und Andenken im Kopf zu behalten, gar nicht so schlecht, wie es für manche Feinde der Klassengesellschaft aussehen mag. Innerhalb dieses Systems war eine ordnende Kraft sinnvoll, und so ein freundlicher, gewitzter Herr mit tadellosen Manieren ist vermutlich angenehmer als der Druck, den Zielvorgaben, Benchmarks und Mitarbeiterevaluationen in unserer ach so lässigen, hierarchiereduzierten Dienstleistungsgesellschaft aufbauen. Flexibilität und individuelle Entscheidungen sind beliebt, wenn sie jeden Vorteil für die Firma sofort ausnutzen, und dann gibt es da einen lockeren Berater, der mit Daten Erfolge misst und Kategorien macht: Die zynischen, rackernden Frettchen, die nach vorne kommen wollen, die Masse der Mitläufer und die Faulen, die man am besten bei der nächsten Restrukturierung auf die Strasse setzt. Dazu braucht man keine Manieren und auch keine Weisheit des Alters; da gibt es Formeln und Rechner und eine Beratungsgesellschaft mit Track Record. Aus jedem Optimierungspotenzial erwächst durch den Markt auch Druck es auszunutzen, und dahinter ist jemand, der den Druck ausübt. Der Dr. B. wusste, wie man das menschlich macht. Aber wissen das die Benchmarks?
Vermutlich ist es ihnen egal, wenn wir die Bank geräumt haben, und sie dort durchgreifen können, wo früher einmal die besseren Kreise waren. Sie tun es schon heute auf den Finanzmärkten, bei den Lobbygesetzen wie ACTA und SOPA, bei den Getreidepreisen und in den Ministerien und Palästen. Sie sind auf dem Weg hinunter auf die lokale Ebene, und leider lassen sie uns auch nicht die kleine Befriedigung, wie bei allen anderen Diktatoren zu wissen, dass sie dereinst stinkendes Fressen für die Maden sein werden. Die Klassengesellschaft, wie wir sie kennen, stirbt. Die neue Klassengesellschaft der Formeln und Marktzwänge wird bleiben. Und sie wird den Teufel tun und jenen, die sie pflegen müssen, einen 10er zustecken.